Schuldig
Peter schläft. Er ist 9 Jahre alt und noch so sorglos. Das Leben macht ihm Spass, er spielt mit seinen Freunden, hat viele Hobbies und ist immer fröhlich. Er hat große Pläne für die Zukunft, er möchte Polizist werden und vielen Menschen helfen.
Peter weiss noch von nichts. Er wird kein Polizist. Er wird keinen Menschen helfen können. Er braucht selbst Hilfe.
Peter hat Aids.
Mein Sohn muss sterben, weil seine Mutter so dumm war.
Ich bin Heike, 28 Jahre alt und seit 10 Jahren mit dem Hi-Virus infiziert.
Ich war jung und hatte ausser Spass nichts im Sinn. Als ich Peters Vater kennenlernte war ich wie so oft in der Disco, trank Alkohol und genoss das Leben. Er kam auf mich zu, sah mich mit seinen hypnotisierenden Augen an und sagte:"Hey Baby, zu mir oder zu dir?" Ich sah ihn fasziniert an. Er war älter. All die Jungs, mit denen ich es zu tun hatte, hätten es nie gewagt, jemanden mit diesem eindeutigen Spruch anzusprechen. In mir hätten sämtliche Alarmglocken läuten müssen. Aber das einzige, was ich in diesem Moment wahrnahm, waren seine Augen, sein sinnlicher Mund und sein muskulöser Körper. Wie hätte ich ahnen können, dass dieser Mann mein Tod sein würde? Wie hätte ich wissen können, dass mich diese Begegnung später das Leben meines über alles geliebten Sohnes kosten würde? Ich war so dumm. Wir gingen in dieser Nacht zu ihm nach Hause und schliefen miteinander. Ich war naiv genug zu glauben, es würde schon nichts passieren.Er würde aufpassen.
Es ist etwas passiert.
Es hat mein Leben zerstört.
Warum nur habe ich mich darauf eingelassen? Ich war eine egoistische, naive, verzogene Göre, die glaubte, zu wissen was im Leben zählt. Doch in Wahrheit IST das Leben das einzige was zählt! Damals war ich so von mir und meiner Sicht der Dinge überzeugt. Warum Sorgen machen? Warum nachdenken? Warum den richtigen Weg gehen, wenn man auch den Weg des geringsten Widerstandes gehen kann? Warum Kondome benutzen, passiert ja sowieso nichts. Ich wollte nur Spass, alles andere war mir egal. Jetzt muss ich dafür büssen.
Wer erklärt meinem Sohn, warum ER unter meiner Sorglosigkeit leiden muss? Wer sagt ihm, dass seine Träume niemals wahr werden? Und wer erklärt ihm warum er diese ganzen Medikamente nehmen muss, die sein Leiden nur verlängern? Wie kann ich damit leben, dass mein geliebter Junge sein Leben lang auf Heilung hofft und dann, wenn sie endlich da ist, es wahrscheinlich zu spät sein wird? Wie soll er es verstehen, dass die Leute, wenn sie von seiner Krankheit erfahren, Abstand nehmen und ihn angewiedert mustern? Ihn, der so unschuldig ist, wie es ein Kind nur sein kann. Ich bin die Schuldige. Ich allein. Ich habe verantwortungslos gehandelt und mich der Leidenschaft hingegeben ohne die Folgen abzuschätzen. Sein Vater ist inzwischen gestorben und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Krankheit auch bei mir ausbricht. Mein Leben besteht nur aus Selbstzweifeln, Selbstvorwürfen und Fragen.
Wieso? Warum? Was wenn alles anders gewesen wäre? Was wäre, wenn man die Zeit zurückdrehen könnte?
Ich lege mich jetzt ins Bett. Ich gehe zu Peter kuschele mich an ihn und weine mich in den Schlaf.
Im Schlaf kann man vergessen.
Doch Vergebung, die habe ich nicht verdient, denn ich bin schuldig...
<span class="ssilver">[Beitrag editiert von: ivy am 10.03.2002 um 02:12]</span>
[ 30.07.2002, 01:12: Beitrag editiert von: ivy ]