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- 17.04.2004
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Schuld
Ich schlafe den ganzen Tag. Selbst wenn ich wach bin, scheine ich zu schlafen. Meine Versuche aufzuwachen scheitern.
Was habe ich getan? Was habe ich nicht getan? Ich will aus diesem Alptraum erwachen, aber ich weiß nicht, wie.
Wenn jetzt jemand zu mir kommt, um mir seine Probleme zu erzählen, schicke ich ihn weg. Ich habe nicht die Kraft dafür. Keine weiteren Fehler mehr. Ich habe versagt.
Mein Handy klingelt. Das tut es in letzter Zeit oft, aber ich gehe nicht mehr dran. Ich kann ihre Stimmen nicht ertragen. Einmal hab ich mich überwunden und bin in meine Stammkneipe gegangen. Ihre Blicke schienen mich anzuklagen. Immer dieses vorsichtige „Hallo, wie geht es dir?“. Verlogen. Sie wollen nicht wissen, wie es mir geht. Sie wollen wissen, warum ich es zugelassen habe. Ich floh.
Hin und wieder gehe ich Abends weg. Immer woanders hin. Früher mochte ich die Vertrautheit meiner Umgebung, habe es geliebt, von den Leuten freudig begrüßt zu werden. Aber das war vorher. Bevor ich diesen Brief bekam. Bevor er...
Nein, ich will nicht darüber nachdenken. Stattdessen verkrieche ich mich in mein Bett. Schlafen.
Diesmal ist es die Türklingel. Schlafwandelnd gehe ich durch die Wohnung, öffne die Tür. Erst dann wird mir bewusst, was ich getan habe, aber es ist zu spät. Bevor ich die Tür wieder schließen kann, drängt sich eine schlanke Gestalt in meine Wohnung.
„Mahlzeit. Ich dachte, ich komm mal auf einen Kaffee vorbei.“
Mechanisch gehe ich in die Küche, suche in den Bergen von Geschirr nach einer sauberen Tasse. Es ist keine mehr da. Er schiebt mich wortlos zur Seite und spült zwei Tassen, dann setzt er Kaffee auf. Einen Moment betrachtet er mich nachdenklich, dann geht er in mein Schlafzimmer, holt frische Sachen aus dem Schrank, drückt sie mir in die Hand und schiebt mich resolut ins Badezimmer. Mechanisch, willenlos, schlafend stelle ich mich unter die Dusche, lasse das heiße Wasser auf mich niederprasseln. Irgendwie schaffe ich es sogar, meine Haare zu waschen.
Als ich endlich fertig bin, steht außer dem Kaffee auch noch frisches Brot und Wurst auf dem aufgeräumten Wohnzimmertisch. Einen Moment lang scheine ich aufzuwachen. Dann sieht er mich an. Ich ertrage diesen vorwurfsvollen Blick einfach nicht.
Die Wohnung ist chaotisch, ungewohnt. Sie ist so abgemagert. Ich hätte viel eher etwas unternehmen müssen. Aber wir alle dachten die ganze Zeit, dass sie stark ist und das alleine schafft. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich kenne sie gut genug. Ich hätte wissen müssen, dass sie daran kaputt geht. Und ich könnte Ralf dafür umbringen für das, was er getan hat. Aber Ralf ist schon tot. Er hat sich umgebracht. An dem Abend, als seine Freundin ihn verlassen hat. Dämlicher Kindskopf.
Anfangs schien sie es gut zu verkraften. Ralf war wie ein Bruder für sie gewesen, aber sie war stark. Dann, von einem Tag auf den anderen war sie plötzlich anders. So klein, schwach. Innerlich zierlich. Wir alle waren noch mit der Frage beschäftigt, wie man sich wegen einer gescheiterten Beziehung einfach umbringen kann. Niemand von uns hat auf sie geachtet. Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann war es nur zwei oder drei Tage nach seinem Tod. Noch vor der Beerdigung. Oder am gleichen Tag? Ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Sie hörte auf zu lachen. Dieses ansteckende Lachen, dass wirklich jeden aufheitern konnte. Ihre netten kleinen Sprüche, über die ich mich so oft geärgert hatte verstummten. Wir ignorierten es, waren zu sehr mit unserer Wut beschäftigt.
Sie kommt aus der Dusche, ich sehe sie an, und plötzlich schreit sie los. „Hör auf, mich so anzusehen! Ich hab doch alles versucht!“
Ich bin verwirrt. Sie dreht sich um, rennt in ihr Schlafzimmer. Soll ich hinterher gehen? Ich zögere, tue es aber doch.
Sie liegt in ihrem Bett, die Decke über den Kopf gezogen, zusammengerollt wie ein Fötus.
Auch hier herrscht Chaos. Mein Blick fällt auf die Dartscheibe, die an der Schlafzimmertür hängt. Steeldart. Soft mag sie nicht so gerne.
Ein Zettel hängt an der Scheibe, gehalten durch einen Pfeil. Die Löcher darin zeigen, dass er schon länger da hängt. Sie scheint viel Wut daran ausgelassen zu haben. Ich nehme den Zettel ab und lese ihn. Nur wenige Worte.
„Es tut mir leid. Ich kann nicht mehr. Danke für alles! Ralf“
Ich beginne zu verstehen. Oder hoffe es zumindest....
Er setzt sich zu mir auf das Bett. Krampfhaft halte ich die Decke fest, damit er sie mir nicht wegziehen kann. Aber er versucht es gar nicht erst. Dieses vorwurfsvolle Schweigen ist schier unerträglich für mich.
„Sieh mich an!“
Für einen Moment bin ich versucht, diesem Befehl Folge zu leisten. Aber will ich diesen Blick sehen? Will ich hören, was er mir zu sagen hat? Ich weiß es doch. Ich hätte es verhindern müssen. Ich hätte ihn an dem Abend nicht gehen lassen dürfen.
„SIEH MICH AN!“
Ich hasse es, sie so anschreien zu müssen, aber ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.
„Nein“ höre ich leise unter der Decke hervor ihre Stimme. Irgendwie freut mich das. Es ist eine Reaktion. In der Hoffnung, dass sie mir zuhört, fange ich leise an zu reden. Dass sie nicht die Einzige ist, die unter Ralfs Tod leidet. Dass wir alle wütend und traurig sind. Wie albern es war, sich wegen der Beziehung umzubringen.
An dieser Stelle setzt sie sich plötzlich auf. Ihr Gesicht ist rot vor Wut.
„Hör auf mit dem Schwachsinn. Sag doch endlich, was du wirklich sagen willst. Ich weiß doch, was ihr alle denkt. Ich bin schuld. Ich hätte ihn daran hindern müssen. Ich hätte ihn an dem Abend aufbauen müssen, stattdessen hab ich irgendetwas gesagt, dass ihn noch dazu ermutigt hat. Ich wusste doch, wie schlecht es ihm in Wahrheit ging.“
Plötzlich bricht es aus ihr heraus, wie eine Sturzflut. Betroffen höre ich, was sie mir erzählt. Dass er sich immer wie der Prügelknabe gefühlt hat, als Zielscheibe des Spottes von seinen Freunden, seiner Familie, seiner Band. Seine Verachtung sich selbst gegenüber, weil er es nicht schaffte, Arbeit zu bekommen. Den Kampf mit dem Sachbearbeiter vom Arbeitsamt, der sich weigerte, ihm eine Bescheinigung für das Sozialamt auszustellen, damit er da endlich Geld bekam. Ich verstehe nicht, wie jemand von fünf Euro in der Woche leben kann, und wie es in unserem Land möglich ist, dass so etwas geschieht.
Sein Schuldenberg, der immer weiter wuchs. Der Druck von Freunden und Familie, die ihm vorwarfen, er würde sich nicht um sein Leben kümmern. Sein einziger Halt war seine Liebe zu seiner Freundin.
„Sie kann nichts dafür. Sie wusste es nicht. Er empfand seine Probleme für zu minderwertig, um sie ihr zu erzählen.“
Vor meinem geistigen Auge sehe ich Ralf, wir er schweigsam in der Ecke sitzt und in Ruhe den ganzen Abend ein einziges Glas Bier trinkt. Erschrocken wird mir klar, wie wenig ich ihn kannte. Wie falsch ich die ganze Lage beurteilt habe.
Ich weine. Die ganze Zeit hält er mich fest. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis ich endlich aufhören kann. Noch ist nicht alles wieder gut. Aber ich glaube, ich bin dabei, endlich wieder zu erwachen.