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Schuld

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18.04.2002
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Schuld

Vor mir das leere, weiße Blatt Papier. Es starrt mich an, eine mächtige Anklage wegen Sprachlosigkeit, ein Plädoyer für Erlösung. Der Stift in meiner Hand bewegt sich unruhig, ungeduldig: Schwarze Schlange mit Druckknopf. Vormals züngelte ihre gespaltene Zunge auf Knopfdruck, bereit, furchtlose Worte kratzend aufmarschieren zu lassen. Subjekt, Objekt, Prädikat. Eine Schlachtordnung verstärkt durch Adjektive. Bis jetzt immer überzeugend formuliert, verführerisch, ein unerkannter Angriff auf hoffendes Vertrauen. Begehrt ist die Tinte der Illusion, unauslöschlich und schwarz.
Die Holzmaserung des Tisches umwebt das schlichte, weiße Blatt Papier. Dort stehen wirkliche, aber nicht dechiffrierten Botschaften, verdichtete Geheimnisse, eine ganze Welt von Lebenslinien. Ich sehe, doch erkenne sie nicht. Bin verhaftet in verantwortungslosen Theorien, welche mir persönliche Wichtigkeit vorgaukeln. Diese Lebensspuren sind oft gewunden, wie rankende Kalligraphien, an bedeutungsvoller Breite zunehmend oder sich verjüngend - auch manchmal durch einen Kratzer abrupt abbrechend, dann wieder sanft im Nichts eines Universums aus Mustergespinst vergehend.
Wundersam geschwungenen Linien zeigen Lichtreflexe, manchmal spiegelt sich mein Gesicht verschwommen in den Bildern des Holzes.
Vor mir das leere, weiße Blatt Papier. Keine Erlösung. Nur ein weiterer Tag, das Ticken einer mit sich selbst beschäftigten Uhr. Die schwarze Schlange umgibt meinen gesamten Körper mit ihren Windungen, presst selbsterkennende Wahrheit aus meinen Gedanken, die allen trügerischen Schein langsam erblinden lässt, weil ich mir immer mehr Einsicht über mich zugestehe. Ich bin Geisel meiner als vorbildlich erachteten Vergangenheit. Alle Wahrheiten, die ich aussprach, waren Zeugen von Lebenslügen, weil ich nicht die Person bin, der sie lebte. Meine Jünger, gestorben in den Klauen der Macht, rütteln an den Gitterstäben meines weggesperrten Gewissens. Warum ließen sich diese Leute auf Wortmächtige wie mich ein? Ich brauchte sie jedenfalls für den verursachten Missbrauch, diesem mich mächtig machenden Drachen.
Nun das Ende meines Selbstbetrugs, das Öffnen des Kerkers, unser Zeitalter der Illusionen ist schon lange im Mahlwerk trister Realität verendet.
Vor mir, das leere, weiße Blatt Papier.
Weiß ist die Unschuld,
endlich.

 

Hallo Woltochinon

wie du es wiedermal geschafft hast, aus so einen verhältnismäßig kurzen Text, so viele verschiedene Interpretationen verschiedener Autoren zu entlocken.
Wie ich mir deinen Text durchgelesen habe, ging mir als erster Gedanke durch den Kopf:
Jeder Autor ist für sein Geschriebenes verantwortlich. Wieviel Autoren in unserer Gesellschaft nützen das Geschriebene für irgendwelche Intrigen oder Machenschaften, derer sie nicht einmal bezichtigt oder bestraft werden, weil es niemand aufdeckt oder erkennt.
Man sollte sich seinem Tun erfürchtig bewußt werden.


Zum Glück schreiben wir nur Geschichten zu unserer Unterhaltung.
Doch für die anregenden Gedanken möchte ich dir Danken

einen schönen Abend wünscht dir

Morpheus

 

Hallo Morpheus,

Dein Grundgedanke trifft genau ins Schwarze: Die Verantwortung des Schreibers bzw. die Macht des Geschriebenen ist das Thema.
Schon oft in der Geschichte der Menschheit haben Theorien die Welt verändert, aber auch zum Tod von Menschen geführt. (Wie Popper so treffend als Konsequenz aus dieser Erkenntnis sagte: Laßt Theorien sterben, nicht Menschen).
Die gesamten Bilder (Holzmaserung etc.) sind eine Beschreibung des Geschehens und den Wechselwirkungen zwischen den Menschen.

Wie Du ja sagst: Zum Glück hat unsere Schreibtätigkeit keine weitreichenden Konsequenzen, aber weniger
„Intrigen oder Machenschaften, derer sie nicht einmal bezichtigt oder bestraft“

werden können würde ich mir auch wünschen.

Ich danke Dir für Deine sachliche Rückmeldung,

alles Gute,

tschüß… Woltochinon

 

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