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Schuld und Eitelkeit einer feinen Dame
Als ihr einundzwanzig Jahre junger Bruder Anthony eines Abends mit ein paar Mädels in einigen Clubs unterwegs war und mit diesen bis in den frühen Morgenstunden jede Menge Alkohol in sich hinein gejagt hatte, geschah etwas, was sie veranlassen sollte, endgültig Südafrika den Rücken zu kehren. Im Orange Club, eine Diskothek, wo sich die Schönen und Reichen Weißafrikaner trafen, fing Anthony – er war immer schon sehr streitsüchtig gewesen - an, den weißen Barkeeper zu beschimpfen, weil dieser ihm angeblich nicht den richtigen Drink serviert hatte. Kurz darauf verließ er sturzbesoffen die Disko und wollte mit dem weiblichen Anhang zurück in das schöne Anwesen der Eltern, dort hatte er nämlich ein kleines Häuschen für sich, mit Garage und Swimmingpool. Auf dem Nachhauseweg bretterte er mit seinem Lamborghini wild über die unsicheren Straßen der Stadt. In einer Kurve, bei Tempo 140, überfuhr er einen betrunkenen Schwarzafrikaner, der mit einer Billigweinflasche in der Hand die Hauptstraße entlang schlenderte. Der alte Mann, aufgezehrt von den Strapazen des Lebens, flog mit seinem dünnen Körper leicht durch die Luft und als er mit dem Kopf aufprallte, tat es einen dumpfen Schlag und er war auf der Stelle tot. Die Polizisten, die den Fall aufnahmen, wurden geschmiert und der Familie des Opfers teilten dieselben Polizisten mit, dass dieser im alkoholisierten Zustand, sich vor das Auto geworfen hatte. Als Jane sich am nächsten Tag mit ihrem Bruder über den Unfall unterhielt und ihn fragte wie es ihm ginge, sagte dieser: „Danke, dass du fragst. Mir geht es echt schlecht, es tut mir so unendlich leid... für den Wagen, der hat 'ne ziemliche Beule abbekommen und muss jetzt in die Werkstatt.“ Jane war entrüstet und wütend zugleich, fühlte sich aber ungleich ohnmächtig, denn sie war eine wirklich feine junge Frau, sie konnte noch zwischen Gut und Böse unterscheiden und sie wusste, dass ihre ganze Familie sich für die Herrscherrasse hielt, sie waren allesamt Rassisten. Um ihnen zu entkommen, musste und wollte sie fliehen. Sie ging in ihr Zimmer und rief sofort ihre Kusine Linda an, die in New York Vergleichende Literaturwissenschaften studierte und nah am Central Park wohnte. Linda fand die Idee toll, da sie mit Jane Kindheitserinnerungen teilte, Erinnerungen an die schönen Tage in Johannesburg, als sie noch nicht mit der kruden Realität eines Apartheidregimes konfrontiert waren, und sie Schwarz und Weiß genau auseinander halten konnten - das hatten ihre Familien ihnen schon im frühsten Kindesalter beigebracht – und sie auch nicht gezwungen waren mit der obsessiven, machtbesessenen weißen Minderheitsgesellschaft zu brechen, was Linda aber bewusst getan hatte. Nach der längeren Unterhaltung mit Linda, stieg Jane die Treppe hinunter, die ins beeindruckende, herrschaftliche Wohnzimmer führte, das mit herrlichen Kolonialmöbeln eingerichtet und dessen Boden mit Löwen- und Antilopenfelle überzogen war; an den Wänden mit einem Spezialgestell befestigt, ruhten mächtige Elefantenzähne wie zahme, müde weiße Lämmer. Die unzähligen Köpfe von Gnus, Zebras, Leoparden und Gazellen ragten aus den Wänden wie neugierige Zuschauer aus einer anderen Welt.
Janes Mutter saß auf einem schönen handgeschnitzten dunklen Stuhl aus black chacate Holz, neben ihr an der Wand gelehnt, ein Schutzschild und das Speer eines Zulukriegers. Jane erzählte zuerst ihr von ihrem Vorhaben, erst am Abend sprach sie mit ihrem Vater. Die Eltern rieten ihr die Reise zu verschieben, da sie für die Abitursprüfung lernen sollte. Jane versprach nur eine Woche zu bleiben, denn sie wolle sich vom andauernden Lernstress erholen. Die Eltern willigten schließlich ein, sie packte zwei große Koffer und flog zu ihrer Kusine nach New York. Die Tage vergingen wie im Fluge: zusammen mit ihrer Kusine stürzte sie sich ins Nachtleben und genoss es, endlich fern von ihren Eltern, tun zu können was sie wollte; zum ersten Mal erfuhr sie was es bedeutete auf einen Menschen vorbehaltlos zugehen zu dürfen und ohne der ständig mitschwingenden Angst, dafür gesellschaftlich geächtet zu werden. Vor allem war sie davon begeistert, dass im Club 54 Weiße und Farbige zusammen tanzten, in Südafrika schier undenkbar.
Nach dieser Woche war sie wie ausgewechselt. Sie flog zurück nach Johannesburg, aber einzig und allein, um das Abitur zu erlangen. Nach ein paar Monaten harten Arbeitens, bestand sie die Reifeprüfung bravourös. Ihre Eltern waren begeistert und freuten sich, als sie ihnen eröffnete, sie wolle nach Europa reisen, um Land und Leute kennen zu lernen, aber auch um in Deutschland ihre langjährige Brieffreundin zu besuchen. Da sie alleine nicht verreisen wollte, lud sie ihre Kusine Linda ein, sie zu begleiten. In Europa begann für sie eine herrliche Zeit, sie bereisten zunächst Spanien, wo sie einer Corrida beiwohnten und sie schockiert zusehen musste, wie schwarze Stiere durch die Hand weißer Toreros brutal hingerichtet wurden. Gottseidank, lernte sie dort Miguel kennen, der sich Hals über Kopf in sie verliebte und sie und Linda jeden Abend in die schönsten Restaurants Madrids entführte. Nach drei Woche spanischer Hitze, setzten sie ihre Reise fort. Sie fuhren nach Frankreich, Italien, die Schweiz und schließlich machten sie halt in München, wo sie Kerstin trafen, mit der Jane über lange Jahre korrespondiert hatte. Kerstin zeigte ihnen jede Ecke der Stadt und sowohl Jane als auch Linda fanden, dass die Stadt mit ihren Biergärten und der wundervoll attraktiven Umgebung einen Kontrapunkt zu Johannesburg bildete, was in Jane plötzlich den Wunsch weckte in Deutschland zu leben. Nach einer Woche unbeschwerten Zusammenseins, flog Linda zurück in die Staaten, weil sich ihre Mutter angekündigt hatte während Jane ihren Wunsch in die Tat umsetzte. Sie unterrichtete ihre Eltern von ihrem Entschluss und nachdem sie eine möblierte 2 Zimmer-Wohnung in München gefunden hatte, besuchte sie eine Sprachschule. Sie lernte eifrig Deutsch und nach einem Jahr konnte sie schon sehr gut sprechen. Sie las die Klassiker der deutschen Literatur und versuchte ihren englischen Akzent loszuwerden, aber das gelang ihr nicht. Als sie sich aber darüber bewusst wurde, dass die Menschen ihre Aussprache sympathisch fanden, beschloss sie, sich nicht weiter von ihrem Perfektionismus treiben zu lassen. Eines Tages lernte sie Klaus von Dahlen kennen, einen jungen Unternehmer aus Düsseldorf, er besaß eine Möbelfabrik, die sein Vater aufgebaut hatte. Er verliebte sich sofort in Jane und führte sie in die edle Gesellschaft ein. Um sie zu beeindrucken, entführte er sie dort, wo sich der Jetset bewegte: Montecarlo, Nizza, Davos, St. Moritz... Nach einem Jahr heirateten sie in Johannesburg, sie war gerade mal zwanzig Jahre alt. Geladen war das Who's who der internationalen Gesellschaft: Adelige, Unternehmer, Journalisten, Politiker, Prälaten, Modedesigner, Schauspieler, Professoren, Schriftsteller, Sportler und unzählige andere Prominente. Die Hochzeit fand in einer weiß geschmückten Kirche statt, alle waren weiß, weiß war selbst der Christus, der an einem großen, goldenen Kreuz genagelt, einsam in der Apsis hing, und von dort blickte er hinab auf das junge Paar. Jane sah hoch zu ihm und bat aus ganzem Herzen ihren Eltern die Schandtat zu vergeben, dass sie noch nicht einmal das schwarze Kindermädchen eingeladen hatten, die sie großgezogen hatte, und die nur zu gern ihrer Hochzeit beigewohnt hätte. Sie bat um seinen Segen und hoffte an diesem Tag auf ein Zeichen seinerseits, doch Christus blickte unergründlich, fast finster auf sie herab, schmerzverzerrt, aus seinen Wunden blutend. Jane glaubte in seinem Blick etwas Ermahnendes zu erkennen. Die Hochzeitsfeier mit ihren zweitausend Gästen wurde zu einem kulinarischen Feuerwerk stilisiert: berühmte Köche waren eigens aus Paris eingeflogen. Am darauffolgenden Tag flog das neu getraute Paar in die Flitterwochen nach Hawaii, während die Eltern des Bräutigams in der pompösen Villa der Cliffords blieben: die Männer packten ihre Golfausrüstung ein und fuhren zum Golfplatz Gendower, wo sie von ihren Caddys gefolgt, sich von Loch zu Loch abmühten, während ihre Frauen sich die Zeit im hauseigenen Swimmingpool vertrieben.
Der Urlaub auf Hawaii verlief für das junge Paar prächtig, Jane war sehr glücklich und Klaus von Dahlen war verliebt wie nie zuvor. Sie verbrachten die Zeit mit Windsurfing und Tauchen, und genossen es unter Palmen liegend, frische Drinks zu schlürfen.
Als sie wieder in Deutschland waren, führte das glückliche Paar ein harmonisches Leben, Jane schrieb sich an der Uni ein und studierte Philosophie, während er voller Elan neue Projekte für sein Unternehmen schmiedete. Sonntags gingen sie regelmäßig in die Kirche, Jane konnte nicht anders, es war eine Zwangshandlung, danach fühlte sie sich wohler. Klaus von Dahlen machte das alles mit, er war zwar glücklich, aber er sehnte sich nach mehr. Nach einigen Monaten beichtete er ihr dass er sich Kinder wünschte, und zwar viele Kinder. Jane dachte zunächst, dass er scherze, aber als er nach einiger Zeit sie noch erneut damit konfrontierte, sagte sie ihm, er solle sich dies aus dem Kopf schlagen, denn sie wolle ihre perfekte Figur auf keinen Fall ruinieren. Klaus von Dahlen wollte sie nicht verlieren und fand sich mit ihrem Entschluss ab, denn er liebte sie abgöttisch.
Nach ihrem Studium, arbeitete Jane als freie Journalistin, sie war erfolgreich, aber sie fühlte sich unzufrieden. In diesen Jahren reiste sie viel mit ihrem Mann, aber trotz ihrer ständigen Trips nach Marbella, dem Hochseefischen auf Kuba (ein Hobby ihres Mannes), den Trips zu ihrer Kusine nach New York, konnte sie keine innere Ruhe finden, mittlerweile waren die Jahre wie im Flug vergangen und mit fünfunddreißig sehnte sie sich nach einer Wende in ihrem Leben, sie wirkte unglücklich. Auch die vielen Geschenke seitens ihres Mannes, der sehr um sie besorgt war, vermochten nichts auszurichten. Ihre Unzufriedenheit machte sie daran fest, dass ihr ein richtiger Lebensinhalt fehlte. Sie sprach mit ihrem Mann darüber und er gab ihr den Tipp, sie solle vielleicht ein soziales Projekt aus der Taufe heben. Sie war sofort von der Idee begeistert, zumal sie schon immer den Wunsch hegte, benachteiligte Menschen an ihrem Glück teilhaben zu lassen. Sie entschied ein Verein ins Leben zu rufen, der sich für die Armen und Bedürftigen in Afrika einsetzen sollte. Ihre Freundinnen, die genauso wie sie, als gelangweilte Ehefrauen ein ödes Dasein fristeten, fanden die Idee berauschend, weil diese ihrem Leben endlich einen lang ersehnten Sinn gab. Ganz leidenschaftlich feilten die Frauen an der Fertigstellung der Vereinssatzung, einige von ihnen waren sogar Juristinnen. Der Verein hatte das Ziel Geld für Projekte in Afrika zu sammeln. Jane Clifford wurde einstimmig zur Vorsitzenden gewählt. Zusammen mit ihren reichen und einflussreichen Freundinnen, warb sie unter Freunden und Bekannten für ihren Verein. Sie veranstalteten Wohltätigkeitsveranstaltungen und sammelten für den guten Zweck. Das Geld wurde vorwiegend Waisenhäusern und engagierten Kirchen in Afrika gespendet. Auf Partys sprach jeder über Janes Engagement, und sie fühlte sich bestätigt und zufrieden, denn sie tat etwas Positives für ihr Land – ja – sie war eine feine Dame. Dadurch, dass sie so in ihrem Projekt eingespannt war, sah sie sich nicht mehr in der Lage, die verschiedenen Dinnerpartys in ihrer Jugenstilvilla in Düsseldorf-Carlsberg selber zu organisieren. Sie sprach mit ihrem Mann und bat ihn darum, einen Butler und eine Haushaltshilfe einzustellen. Ihr Mann, fand die Idee ganz toll, denn es war ihm aufgefallen, dass sie das alles nicht mehr alleine bewältigen konnte. Sie setzten eine Anzeige in die Zeitung. Unter den vierzig Bewerbern gab es auch zwei Schwarzafrikaner, Anani aus Ghana, Mayla aus Soweto. Sie führte mit jedem einzelnen Bewerber ein ausführliches persönliches Gespräch, aber nach den Vorstellungsgesprächen, fühlte sie sich nervös und abgeschlagen, vielleicht weil ihr Mann geschäftlich in der Schweiz unterwegs war er und sie mit der Auswahl des Hauspersonals alleine gelassen hatte. Nach einigem Überlegen, glaubte sie, über ihre innere Befindlichkeit sich im Klaren zu sein: Sie befand sich in einem unlösbaren Konflikt, denn wenn sie sich für zwei Weiße Angestellte entschieden hätte, wäre sie unbewusst eine Rassistin gewesen, hätte sie sich für die Schwarzafrikaner entschieden, wäre sie auch eine Rassistin, denn es hätte den Anschein gehabt, sie würde sich über die schwarze Rasse erheben. Und wenn ihre Wahl sowohl auf weißes als auch schwarzes Personal gefallen wäre? Das fand sie eine ganz gute Idee, denn so hätte sie niemanden aufgrund seiner Rasse oder Hautfarbe diskriminiert. Sie entschied, Bojana, eine nette kräftige, untersetzte Bulgarin als Köchin einzustellen und Anani als Butler. Mayla aus Soweto vermittelte sie an eine Freundin, die dringend eine Putzfrau suchte. Dieser Entschluss gefiel ihr, sie war zufrieden, und das machte sich daran deutlich, dass sie zunächst einen Kelch aus dem oberen Küchenschrank heraus holte, dann griff sie sich eine kühle Flasche KRUG aus dem eleganten Designerkühlschrank, nahm vorsichtig die Agraffe ab und entkorkte sie. Jane Clifford schenkte sich ein und betrachtete fasziniert das perlende Schauspiel. In diesem Moment fühlte sie sich wie dieser Champagner: perlend und schäumend vor Glück, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Sie nahm den süßen Kelch und musste an den Christus in der Apsis denken: er würde jetzt nicht mehr so finster und ermahnend schauen können, sie hatte deutlich gemacht, dass sie sich gerecht verhielt. Jetzt war es nicht mehr nötig, Schlaftabletten nehmen zu müssen, um ihre zerfressenden Schuldgefühle schlafen zu legen, sie hatte sich und der Welt bewiesen, dass sie ganz anders war als ihre Eltern und den Rest der Weißafrikaner in Johannesburg. Jane Clifford hatte sich endgültig rein gewaschen! Sie konnte endlich in den Spiegel schauen und sich in ihrer gerecht gerückten Welt, wohl fühlen. Dieses Glücksgefühl schien sie vollkommen zu betören, ihre Freundinnen teilten ihre Entscheidung und schauten zu ihr auf und Jane war glücklich. Auch ihr Mann bemerkte, dass seine Frau zum ersten mal nach langer Zeit, ausgeglichen und zufrieden war, sie hatte auch wieder angefangen zu malen und Klaus von Dahlen hatte extra für sie das Dachgeschoss ausbauen lassen, weil sie so in ihrem lichtdurchfluteten Atelier arbeiten konnte. Sie malte abstrakt: Menschen waren nur unerkennbare Silhouetten, in einer kühlen, sterilen Welt ohne Unterschiede. Jane hasste Unterschiede, sie wollte nicht damit konfrontiert werden, und sie vermied es auch gekonnt, Themen wie Apartheid oder Rassismus aus dem Wege zu gehen.
Eines schönen Tages, hatte sie einige Freundinnen zum Tee eingeladen, die sich ihre Bilder anschauen wollten. Als die Damen eintrafen, öffnete ihnen Anani die Tür, und mit weißen Handschuhen, servierte er Tee und schottisches Gebäck auf Sheffield Silbertabletts. Den Frauen gefielen die Bilder, aber vor allem waren sie von dem Butler begeistert, der zurückhaltend und diskret in einer Ecke stand und bei Bedarf, Tee einschenkte oder die eine oder andere von ihnen, vornehm zur Tür begleitete. Eine der Frauen (sie frönte dem Alkohol, weil ihr Mann eine Geliebte hatte ), gestand ihren Freundinnen, dass sie es chic und extrem snob fand, sich einen „Neger“ als Diener zu halten, und sie werde ihren Mann bitten, ihr auch einen zu besorgen. Mit dieser Aussage steckte sie alle Freundinnen an, die sie zwar für ihre Aussage ermahnten, aber dasselbe dachten, ja für sie war es das ultimative Zeichen von Macht, und es machte sich natürlich gut, wenn bei den Dinnerpartys, der schwarze Mann, dressiert in der Ecke stand, oder auf Kommando springen musste. Jane bekam nichts davon mit, denn die Damen wussten, dass es sich nicht gehörte, die Gastgeberin mit solchen Überlegungen zu konfrontieren, immerhin kamen sie aus der „guten Gesellschaft“.
Es geschah ein paar Tage nach dem Besuch der feinen Damen, als Anani eines Abends, in der Küche saß – er hatte bereits Feierabend -, etwas in einem kleinen Block kritzelte. Just in diesem Moment kam die Hausherrin herein und Anani versuchte schnell seinen Notizblock zu verstecken und sagte unterwürfig: „Bitte Mam, verzeihen Sie bitte, dass ich noch hier herum sitze.“ Jane Clifford sagte höflich aber bestimmt: „Haben Sie etwas geschrieben?“
„Entschuldigen Sie vielmals, ich werde jetzt wohl lieber gehen.“
„Anani, Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Wieso haben Sie ihren Schreibblock weggelegt?“ Anani nahm den Notizblock und sagte: „Ich hatte gerade eine Eingebung, und wollte sie aufzeichnen.“
„Worum handelt es sich?“
„Na ja, ich male ein wenig, und wenn ich mal inspiriert bin, dann bringe ich die Ideen auf Papier... aber selbstverständlich nicht während der Arbeitszeit. Entschuldigen Sie, dass ich mich hier noch aufgehalten habe.“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Übrigens, ich würde mir gerne ein paar ihrer Zeichnungen ansehen, ich male ja selber!“
„Gerne, ich werde einige aussuchen und ihnen morgen zeigen.“ Er verabschiedete sich. Anani war sehr glücklich über diese Begebenheit und als er in seiner Dienstwohnung war, kramte er einige Bilder heraus. Es waren Bilder von schwarzen Kriegern, Müttern, Kindern und alten Frauen und Männern. In diesen Bildern waren die Gesichter der Menschen von Qualen verzerrt, ihr Körper ausgelaugt, die Münder waren breit geöffnet, sie schienen ihre Angst und ihren Schmerz in die Welt hinaus zu schreien, ihre Ohren groß, um zu hören, ob von irgend woher Hilfe kommen würde.
Sowie ihm aufgetragen, nahm er am nächsten Tag seine Mappe mit, um sie seiner Arbeitgeberin vorzulegen. Sie saß im Wohnzimmer und schrieb an ihrem Computer, als er eintrat. Sie begrüßte ihn und fragte, ob er sich an die Bilder erinnert hätte. Er übergab ihr die Mappe und ging in die Küche, um Bojana zu begrüßen, die an diesem Morgen früher aufgetaucht war als sonst. Als er zurück kam, sagte Jane Clifford: „Anani, ich muss mit Ihnen sprechen! Nehmen Sie bitte Platz! - Nun, es ist so...“ Sie wusste nicht genau wie sie das, was sie sagen wollte, sagen sollte, und räusperte sich. Dann sagte sie in einem Ton, der nichts Gutes verlauten ließ: „Mein Mann und ich planen eine längere Reise und Sie müssen verstehen, dass wir Sie leider nicht länger beschäftigen können. Es tut uns beiden sehr leid, Sie haben exzellente Arbeit geleistet und dafür werden wir Sie angemessen entlohnen, außerdem werde ich mich persönlich darum bemühen, Sie an Bekannte weiter zu vermitteln, Sie erhalten ein vorzügliches Zeugnis.“ Anani schaute enttäuscht und erwiderte mit der von ihm erwarteten Distanziertheit: „Vielen Dank. Wann denken Sie das Arbeitsverhältnis zu beenden?“ Jane Clifford antwortete nicht, sie fragte: „Woher sprechen Sie eigentlich so gut Englisch und Deutsch?“
„Nun, ich habe Kunst in England studiert, fand dort keine Arbeit und ließ mich als Butler ausbilden. Dann kam ich nach Deutschland und habe Deutsch gelernt, weil ich dachte, meine Chancen wären hier besser.“
„Wie dem auch sei, Sie werden uns leider verlassen müssen, aber es sei Ihnen versichert, dass ich Sie weiter empfehlen werde.“
„Danke sehr!“ entgegnete Anani mit der ihn kennzeichnenden Zurückhaltung.
„Übrigens, hier ist ihre Mappe: Sie sind ein guter Maler.“
„Vielen Dank.“ erwiderte Anani höflich.
„Sie können sich heute frei nehmen, ich brauche Sie vorerst nicht.“
„Wie Sie wünschen, Mam.“ Anani verabschiedete sich und ging durch den Dienstbotenausgang ins Umkleidezimmer. Indes, stand Jane Clifford hinter der hauseigenen Bar und füllte ein Flöte mit Champagner. Sie war außer sich vor Zorn, ihr Butler war ein begnadeter Maler, seine Bilder waren dermaßen ausdrucksstark, so voller Leid und Schmerz. Sie wusste genau, dass immer wenn sie ihn ansähe, sie daran erinnert werden würde, dass ihre Kunst gegenüber der seinen bestenfalls als Schönmalerei zu bezeichnen sei. Aber in sein Antlitz zu blicken, würde sie ewig daran erinnern, dass die Schuld ihrer Familie auch ihre Schuld war, eine Schuld, die sie niemals hätte alleine abtragen können. Jane Clifford legte ihren Martini zur Seite und rief ihre beste Freundin an. Als diese endlich ans Telefon ging, sagte sie: „Michaela, meine Liebe! Ich würde gerne mit Dir shoppen gehen, ich muss dir unbedingt etwas erzählen.“ Die Freundin war ganz begeistert und erwiderte glücklich: „Ich muss dir auch etwas erzählen, am besten hole ich dich von zu Hause ab.“ Um 11 Uhr klingelte die Freundin sie über Handy an, und sie machte sich auf dem Weg nach unten. Vom Fenster aus, blickte sie kurz auf die Straße, dort wartete ein dunkelblauer Mercedes Maybach: Der Chaffeur, ein Schwarzafrikaner in dunkler Uniform mit schwarzer Chaffeursmütze und weißen Handschuhen, postierte neben der Luxuslimousine. Jane Clifford traute ihren Augen nicht, als sie das sah. Sie trat vom Fenster zurück, nahm den Hintereingang, stieg zornig in ihren Porsche Carrera und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Sie war innerlich aufgewühlt, sie empfand die Nachahmung ihrer Freundin als einen Verrat, vor allem aber, wollte sie nicht mehr mit Unterdrückung und Rassismus konfrontiert werden, sie sehnte sich nur noch danach, ihre brennende Schuld vergessen zu können. Während sie mit einer Hand lenkte, kramte sie nervös mit der anderen in ihrer cremefarbenen Coco Chanel Handtasche und holte eine kleine silberne Schachtel heraus... ihre wunderschönen Hände zitterten, dennoch schaffte sie es die Schachtel zu öffnen und daraus eine Beruhigungsablette zu entnehmen, die sie hastig in den Mund steckte, dann verstaute sie die kleine silberne Schachtel wieder in ihre Handtasche.
Aus dem Vivaldi, ihrem Lieblingsrestaurant, rief sie ihren Mann an. Als er abhob, sagte sie heiter: „Hallo Liebling! Ich habe heute den Butler entlassen.“ „Wieso? Was ist den vorgefallen?“ rief Klaus von Dahlen verwundert. Jane Clifford war nicht mit sich im Reinen und erwiderte: „Ich habe ihn erwischt, wie er in der Küche Bilder malte, so jemanden können wir nicht gebrauchen."
„Na gut, mein Schatz! Aber wer hilft dir jetzt bei den Dinnerpartys?“
„Heute ist ein viel zu schöner Tag, um über solche Dinge nachzudenken. Komme bitte etwas früher nach hause, ich möchte, dass du mich verwöhnst.“ Klaus von Dahlen sagte freudig: „Natürlich, mein Liebling! Es gibt nichts Schöneres für mich, als dir deinen heiß ersehnten Wunsch zu erfüllen. Bis heute Abend!“
„Bis heute Abend!“ erwiderte sie fast glücklich. Nach dem sie ihren Salat aufgegessen hatte, bat sie um die Rechnung. Der junge Kellner kam an den Tisch, sie zahlte und hinterließ zwanzig Euro Trinkgeld... der Kellner bedankte sich übertrieben. Als sie hinaus ging, schien die Sonne, und eine frische Brise wehte ihr ins Gesicht und zerzauste sanft ihre Frisur, sie schloss kurz die Augen und wünschte sich nichts sehnlicher als endlich frei zu sein.