Schriftsprache und Gesprochene Sprache
Vorweg: Auch wenn das Thema nicht direkt Bezug zum Autorentum hat, so ist es zumindest indirekt für uns alle von Bedeutung.
Es geht um die Frage, ob die Schriftsprache ein Eigenleben hat oder bloß ein Sklave der gesprochenen Sprache ist. Daß letztere die erstgenannte maßgeblich beeinflußt, ist dabei unstrittig - strittig ist: Wie groß ist dieser Einfluß?
Gerade komme ich aus einer anstrengenden Diskussion zu eben diesem Thema, die durch einen Streit über die beliebte Rechtschreibreform ihren Anfang nahm: Die Reform wollte die Schriftsprache vereinfachen, d.h. der gesprochenen Sprache anpassen. Falls jene Sklave der anderen ist, ist das legitim. Ist das nicht der Fall, bedarf die Schriftsprache unserer Verteidigung.
Genauer forderte der Mitdiskutant die Abschaffung der Großschreibung, mit der Begründung, sie sei überflüssig und führe zu Fehlern (zB bei inkonsequenten Regeln bzgl. substantivierter Wörter). Ob das zutrifft, kann man diskutieren, aber hier sei einmal angenommen, es trifft zu: Ist "Vereinfachung" dann ein hinreichendes Argument für das Ändern der Schriftsprache?
Ist es richtig, die Schriftsprache ausschließlich als Werkzeug der gesprochenen Sprache zu interpretieren und sie zu ändern, wie immer es die letztere verlangen mag? Oder billigen wir der Schriftsprache mehr Eigenständigkeit zu und sagen: "Schriftsprache, wir mögen dich so wie du bist, egal wie sehr du dich mit der gesprochenen Sprache auch verkrachst!"?
Hier ist besonders die Geschichte dieser Beziehung zu beachten: Kann man zeigen, daß Schriftsprache sich teilweise unabhängig von der gesprochenen Sprache entwickelte? Beispielsweise veränderte sich die Verschriftung des Lautes [y] im Laufe der letzten Jahrunderte von /iu/ über /ue/ zu /ü/ (das "ü" ist ein "u" mit aufgesetzem altdeutschem e, welch letzteres ungefähr aussieht wie zwei kleine, parallele Striche). Ist das ein ausreichendes Beispiel, um die Unabhängigkeit der Schriftsprache zu zeigen?
Für uns Autoren ergibt sich aus zwei Gründen eine akute Wichtigkeit dieser Fragestellung:
Erstens... läßt sich die Reform zu einem großen Teil aushebeln, wenn die Schriftsprache als teilweise eigenständig gezeigt werden kann. Ist dies nicht möglich, muß die Reform (bzw. die relevanten Teile derselben) hingenommen werden. Auch gäbe es keine Handhabe gegen die Abschaffung der Großschreibung u.ä., also eine viel radikalere Reform, die ja teiwleise auch gefordert wurde.
Zweitens... muß ein Autor, also jemand, der mit Schriftsprache arbeitet und sie noch dazu als wichtigstes, wenn nicht einziges Material seiner Kunst begreift, eine besondere Verantwortung für die Schriftsprache übernehmen.
Begreifen wir unsere Geschichten als eigenständige Kunst oder bloß als aufgeschriebene, mündliche Erzählungen? Das scheint banal, aber der Unterschied ist fundamental (wenngleich das nicht heißt, daß das Zutreffende nicht irgendwo in der Mitte liegen mag).
Also, verteidigen wir die Schriftsprache mit unserem Leben oder lassen wir sie im Stich?