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Schriftsprache und Gesprochene Sprache

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12.12.2001
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Schriftsprache und Gesprochene Sprache

Vorweg: Auch wenn das Thema nicht direkt Bezug zum Autorentum hat, so ist es zumindest indirekt für uns alle von Bedeutung.

Es geht um die Frage, ob die Schriftsprache ein Eigenleben hat oder bloß ein Sklave der gesprochenen Sprache ist. Daß letztere die erstgenannte maßgeblich beeinflußt, ist dabei unstrittig - strittig ist: Wie groß ist dieser Einfluß?

Gerade komme ich aus einer anstrengenden Diskussion zu eben diesem Thema, die durch einen Streit über die beliebte Rechtschreibreform ihren Anfang nahm: Die Reform wollte die Schriftsprache vereinfachen, d.h. der gesprochenen Sprache anpassen. Falls jene Sklave der anderen ist, ist das legitim. Ist das nicht der Fall, bedarf die Schriftsprache unserer Verteidigung.
Genauer forderte der Mitdiskutant die Abschaffung der Großschreibung, mit der Begründung, sie sei überflüssig und führe zu Fehlern (zB bei inkonsequenten Regeln bzgl. substantivierter Wörter). Ob das zutrifft, kann man diskutieren, aber hier sei einmal angenommen, es trifft zu: Ist "Vereinfachung" dann ein hinreichendes Argument für das Ändern der Schriftsprache?
Ist es richtig, die Schriftsprache ausschließlich als Werkzeug der gesprochenen Sprache zu interpretieren und sie zu ändern, wie immer es die letztere verlangen mag? Oder billigen wir der Schriftsprache mehr Eigenständigkeit zu und sagen: "Schriftsprache, wir mögen dich so wie du bist, egal wie sehr du dich mit der gesprochenen Sprache auch verkrachst!"?

Hier ist besonders die Geschichte dieser Beziehung zu beachten: Kann man zeigen, daß Schriftsprache sich teilweise unabhängig von der gesprochenen Sprache entwickelte? Beispielsweise veränderte sich die Verschriftung des Lautes [y] im Laufe der letzten Jahrunderte von /iu/ über /ue/ zu /ü/ (das "ü" ist ein "u" mit aufgesetzem altdeutschem e, welch letzteres ungefähr aussieht wie zwei kleine, parallele Striche). Ist das ein ausreichendes Beispiel, um die Unabhängigkeit der Schriftsprache zu zeigen?

Für uns Autoren ergibt sich aus zwei Gründen eine akute Wichtigkeit dieser Fragestellung:
Erstens... läßt sich die Reform zu einem großen Teil aushebeln, wenn die Schriftsprache als teilweise eigenständig gezeigt werden kann. Ist dies nicht möglich, muß die Reform (bzw. die relevanten Teile derselben) hingenommen werden. Auch gäbe es keine Handhabe gegen die Abschaffung der Großschreibung u.ä., also eine viel radikalere Reform, die ja teiwleise auch gefordert wurde.
Zweitens... muß ein Autor, also jemand, der mit Schriftsprache arbeitet und sie noch dazu als wichtigstes, wenn nicht einziges Material seiner Kunst begreift, eine besondere Verantwortung für die Schriftsprache übernehmen.
Begreifen wir unsere Geschichten als eigenständige Kunst oder bloß als aufgeschriebene, mündliche Erzählungen? Das scheint banal, aber der Unterschied ist fundamental (wenngleich das nicht heißt, daß das Zutreffende nicht irgendwo in der Mitte liegen mag).

Also, verteidigen wir die Schriftsprache mit unserem Leben oder lassen wir sie im Stich? :)

 

Hallo Falk,
ich bin dringend der Meinung, dass die Schriftsprache erhalten bleiben muss. Sie darf sich nicht der Umgangssprache anpassen, darf vielleicht von dieser beeinflusst werden, aber sich ihr auf keinen Fall beugen.
Nehmen wir an, wir würden jemandem in Bayern so schreiben lassen wie er spricht. Und schon wäre alles, was Luther erreicht hat, indem er mit der Bibelübersetzung eine einheitliche Sprache geschaffen hat, für die Katz, und Deutschland würde wieder dem Feudalismus anheimfallen.
Oder die desillusionierten Jugendlichen auf der Straße, die so tun, als wären sie Türken, ganz gleich, woher sie kommen. Ich kann mich mit denen durch normale Sprache nicht mehr verständigen, ich verstehe sie einfach nicht. Sollen wir die so schreiben lassen, wie sie reden? Und was dann? Als Proles in Internierungslager sperren?

Ganz schlechte Idee...

 

Bluomo schrieb:
Darf ein Staat seinen Bürger eine Sprachreform aufzwingen?
Nein, darf er nicht. Früher, noch zu Kaiserzeit hat man das machen können, aber nun haben wir eine Demokratie, das Volk hat das Sagen. Und wenn das Volk nein sagt, dann müssen alle Sprach- und sonstigen Experten einpacken. :D


Vita schrieb:
Nehmen wir an, wir würden jemandem in Bayern so schreiben lassen wie er spricht. Und schon wäre alles, was Luther erreicht hat, indem er mit der Bibelübersetzung eine einheitliche Sprache geschaffen hat, für die Katz, und Deutschland würde wieder dem Feudalismus anheimfallen.
Du vergißt, Vita, daß Luther „seine“ Sprache niemandem aufgezwungen hat, er war nur der erste, der sie aufgeschrieben und in Buchform in so großer Zahl unters Volk brachte, daß sie Allgemeingut wurde.

Aber man kann dies auch negativ sehen: Die Sprache Luthers ist zuerst auch nichts anderes gewesen als ein Dialekt des Deutschen, gesprochen von einer Minderheit. Nur aufgrund der Tatsachen, die außerhalb der Sprache liegen – Verbreitung der Heiligen Schrift -, hat dieser Dialekt alle anderen verdrängt und damit notgedrungen für eine Verarmung der Sprache gesorgt.

Und für eine Verarmung der Sprache kann kein Autor eintreten, es sei denn, er ist so eitel, daß er von möglichst vielen gelesen werden will, dann muß er sich des kleinsten gemeinsamen Nenners bedienen - der Schriftsprache.

Die Sprache ist etwas Organisches. Sie lebt, ist wie eine Pflanze. Und wie im Norden zum Teil andere Pflanzen wachsen als im Süden, so gibt es auch Sprachunterschiede zwischen den einzelnen Landesteilen. Und das ist gut so.

Doch die große Gefahr sehe ich nicht in den Sprachreformen gleich welchen Couleurs, sondern im Fernsehen, dem größten Gleichmacher aller Zeiten. Es gibt so gut wie keine Muttersprache mehr, es sei denn, man betrachtet das Fernsehen als die Mutter aller Kinder in Deutschland - die Rechtschreibreform ist nur das i-Tüpfelchen einer Entwicklung, die mit Luther ihren Anfang nahm.

Wer für Vielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt eintritt, muß auch für Sprachvielfalt eintreten und damit für Sprachfeudalismus.

Dion

 

Weil die Schriftsprache eben nicht nur ein von der Sprechsprache abgeleitetes System ist, sondern nach der Ableitung eine eigene Entwicklung genommen hat- und immer wieder Einfluß auf die Sprechsprache ausübt.

Was mir dazu noch fehlt, sind Beispiele. Mir fällt spontan nichts übermäßig überzeugendes ein: "Ok" war höchstwahrscheinlich ursprünglich eine Abkürzung, die sich verselbständigt hat und dann als eigenständiges Wort in die gesprochene Sprache aufgenommen wurde. Problem ist, daß sich das nicht mit Gewißheit nachweisen läßt. Weiteres Beispiel: "lol" wird von manchem Zeitgenossen auch gesprochen - hier haben wir also auch den Fall, daß die gesprochene Sprache eine Erfindung der Schriftsprache übernimmt. Leider könnte man argumentieren, daß solche Verwendung der Abkürzung alles andere als die Norm ist.
Gibt es Beispiele, die eindeutig sind und in der Standardsprache vorkommen?

@Dialekte
Ob Dialekte als Argument zählen, scheint mir zweifelhaft, da diese ja überhaupt nicht über eine Schriftsprache verfügen. Gleiches gilt für bestimmte Formen der Umgangssprache, die nur in bestimmten Kontexten benutzt werden. Wir können daher nur vom (utopisch perfekten) Hochdeutschen ausgehen.

 

@Dion:

Du vergißt, Vita, daß Luther „seine“ Sprache niemandem aufgezwungen hat, er war nur der erste, der sie aufgeschrieben und in Buchform in so großer Zahl unters Volk brachte, daß sie Allgemeingut wurde.
Wo habe ich denn gesagt, dass er seine Sprache irgendjemandem aufzwingt?

Nur aufgrund der Tatsachen, die außerhalb der Sprache liegen – Verbreitung der Heiligen Schrift -, hat dieser Dialekt alle anderen verdrängt und damit notgedrungen für eine Verarmung der Sprache gesorgt.
Verarmung? Die Dialekte existieren doch noch. Die Verarmung der Sprache ist ein Nebeneffekt der Globalisierung. Wahrscheinlich hätten sich vor fünfzig, hundert Jahren ein Ostfriese, der nur Platt spricht, und ein Bayer, der nur bayrisch spricht, nicht besonders gut verständigen können, oder?

Und für eine Verarmung der Sprache kann kein Autor eintreten, es sei denn, er ist so eitel, daß er von möglichst vielen gelesen werden will, dann muß er sich des kleinsten gemeinsamen Nenners bedienen - der Schriftsprache.
Richtig. Die Alternative wäre also, so zu schreiben, dass es niemand versteht?
Menschen lesen am schnellsten in der Sprache, in der sie auch denken. Wer mehrere Fremdsprachen spricht, wird auch in mehreren Fremdsprachen lesen können, trotzdem am schnellsten in seiner Muttersprache.

Doch die große Gefahr sehe ich nicht in den Sprachreformen gleich welchen Couleurs, sondern im Fernsehen, dem größten Gleichmacher aller Zeiten.
Da sehe ich eigentlich keine Gefahr. Im Gegensatz zu vielen Jugendlichen spricht der Fernsehansager immer noch dieselbe Sprache wie ich es tue. Vielen Leuten kann es nur helfen, dass sie wenigstens auf diese Art und Weise mit verständlichem Deutsch in Berührung kommen..

Wer für Vielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt eintritt, muß auch für Sprachvielfalt eintreten und damit für Sprachfeudalismus.
Aber auch hier setzen sich dominante Spezies durch. Es hat schon seinen Grund, dass es heute keine Dinosaurier mehr gibt (außer im Jurassic Parc), und es hat auch seinen Grund, dass heute nur noch wenige Menschen Plattdeutsch sprechen und verstehen können (außer in Nordschleswigholstein, was nicht so viel was anderes ist als der Jurassic Park).

@falk:

Ob Dialekte als Argument zählen, scheint mir zweifelhaft, da diese ja überhaupt nicht über eine Schriftsprache verfügen
Trotzdem gibt es Bücher mit zum Beispiel plattdeutschen Geschichten oder Gedichten. Ich weiß nicht, ob das vielleicht eine Ausnahme ist, ich bin so selten in Süddeutschland. Hat Bayrisch eine Schriftsprache?
Und sogar Alt- und Mittelhochdeutsch sind durch seine Schriftsprache erhalten geblieben, auch, wenn's heute niemand mehr spricht... Vielleicht metamorphiert die Sprache ja alle paar Jahrzehnte mal zu einer anderen?

gruß
vita
:bounce:

 

vita schrieb:
Wo habe ich denn gesagt, dass er seine Sprache irgendjemandem aufzwingt?
Das bezog sich nicht direkt auf dich, sondern auf meinen Absatz davor - die Antwort auf Bluomo -, in dem ich dafür plädierte, Sprachreformen zu unterlassen.


vita schrieb:
Die Dialekte existieren doch noch.
Ja, aber sie sind am Verschwinden. In München spricht man kaum noch bayerisch, es ist sogar so weit, daß Kinder, die manchmal in der Schule untereinander in ihrer Muttersprache, also bayerisch sprechen wollen, von anderen Kindern verspottet und von Lehrern ermahnt werden, dies zu unterlassen. Das ist Terror fast vergleichbar mit dem der Italiener in Südtirol zwischen den beiden Kriegen, als es bei Strafe verboten war, Deutsch zu sprechen.


vita schrieb:
Die Verarmung der Sprache ist ein Nebeneffekt der Globalisierung.

Dion schrieb:
Doch die große Gefahr sehe ich nicht in den Sprachreformen gleich welchen Couleurs, sondern im Fernsehen, dem größten Gleichmacher aller Zeiten.
Da sehe ich eigentlich keine Gefahr.
Einerseits gibst du zu, daß Globalisierung zu einer Verarmung der Sprache führt, andererseits aber siehst du im Fernsehen, dem Globalisierungsmedium par excellence, keine Gefahr. Wie soll ich das verstehen, Vita? Bist du am Ende für die Verarmung der Sprache?

Dion

 
Zuletzt bearbeitet:

Wer nachweisen will, dass die Schriftsprache etwas Eigenes ist, braucht sich nur mal eine Stoppuhr nehmen und dann nachzuprüfen, wie lange er braucht, um einen Zeitungsbericht zu lesen, und dann, wie lange er braucht, um ihn laut vorzulesen.

Wenn beim Lesen und Sprechen die gleichen Hirnregionen aktiv wären, müsste es doch gleich lange dauern, d. h. das Lesen so lange wie das Sprechen. Wenn das Lesen aber schneller geht, wie kann dann Schriftsprache und Lesen das bloße Nachformen gesprochenen Wortes sein? Und wie kann, wenn Schriftsprache doch viel weitere Verbreitung findet, eine tausendmal längere Lebensdauer hat und zeitlich "effizienter" ist, dann die mündliche Sprache Vorrang haben?

Zum Sprachfeudalismus würde ich sagen: Der ist der Kommunikation und daher der Entwicklung einer Gesellschaft hinderlich.
Wenn Menschen sich verständigen und miteinander kooperieren wollen, dann ist es nun einmal unerlässlich, dass jeder den anderen ohne große Mühe versteht. Deshalb gibt es in der Sprache generell die Tendenz der gegenseitigen Angleichung. Anthropologen schätzen, dass auf dem Höhepunkt der Diversifikation von Sprachen ( wann das war, kann ich aus dem Kopf nicht mehr sagen, aber ein paar Tausend Jahre waren es wohl ), etwa 12.000 Sprachen existiert haben. Heute sollen es etwa 6.000 sein, und das trotz der exorbitant gestiegenen Zahl von Sprachsubjekten. Tendenz relativ rapide sinkend.

Wenn zwei nebeneinander lebende Stämme völlig verschiedene Sprachen haben, ist das kein gutes Zeichen: Es bedeutet, dass die Kommunikation und damit auch Kooperation in der Vergangenheit sehr gering gewesen sein muss. Entsprechend werden beide bei Territorialkonflikten besonders häufig zu Gewalt gegriffen haben.

Angleichung ist die unvermeidliche Nebenwirkung von Kommunikation und fördert diese.
Allein dieses Forum ist der beste Beweis dafür: Wem merkt man an der Schriftsprache an, woher er kommt? Hat irgendjemand Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen?

Ich halte die Erhaltung und Förderung aussterbender Dialekte auch für wichtig und wertvoll.
Irgendwie scheint jede Mundart ein eigenes Lebensgefühl zu vermitteln, das sich in Worten schlecht beschreiben lässt. So als ob es tausend verschiedene Arten von Heimatverbundenheit gibt.
In meiner Gegend nehmen sich Zeitungen und Schulen des Plattdeutschen an, wenn auch längst nicht ausreichend. Und wenn man bedenkt, dass es 25 Varianten des Platt geben soll ...

Wir dürfen aber nicht vergessen, dass ihr allmähliches Verschwinden ein kleiner Preis für das Mehr an Verständigung ist. Von jemandem, der die gleiche Sprache spricht wie ich, baue ich keine stereotypen Vorstellungen auf, die sich zu Feindbildern stilisieren lassen.

 

Megabjörnie schrieb:
Ich halte die Erhaltung und Förderung aussterbender Dialekte auch für wichtig und wertvoll.
Dieses Lippenbekenntnis, das kenne ich doch von irgendwo her? Ach ja, Artenschutz! Bevor eine Sprache ganz ausstirbt, werden die letzten noch sprechenden Exemplare in eine Art Zoo gesperrt oder ihr Stammesgebiet wird umzäunt – schöne neue Welt!

Doch damit wird man scheitern oder höchstens 5 vor 12 einen bedauernswerten Zustand konservieren, denn eine Sprache muß gesprochen werden, muß neue Wörter aufnehmen, sonst ist sie tot noch bevor die letzten Sprecher sterben.

Megabjörnie schrieb:
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass ihr allmähliches Verschwinden ein kleiner Preis für das Mehr an Verständigung ist. Von jemandem, der die gleiche Sprache spricht wie ich, baue ich keine stereotypen Vorstellungen auf, die sich zu Feindbildern stilisieren lassen.
Mit Verlaub, Megabjörnie, aber das ist schlicht Käse. Ein Blick auf Europa mit ihren vielen Sprachen hätte dir sagen können, daß zum Beispiel Deutschland und Frankreich und Spanien und England und Italien nie wieder Krieg gegeneinander führen werden, trotz unterschiedlichen Sprachen.

Es ist gerade umgekehrt: in Bosnien wurde erst kürzlich Krieg geführt, obwohl alle Beteiligten dem gleichen Volk angehörten, gleiche Sprache sprachen und auf dem einen Gebiet seit Jahrhunderten zusammen lebten - was sie trennte, war allein die Religion.

Dion

 

Trotzdem - die bessere Kommunikation ist nun einmal wichtig. Ausnahmen von der Regel kann man immer anführen.
Außerdem geht es auch weniger um Krieg und Frieden, sondern mehr um Informationsübermittlung. Eine Sprachbarriere ist für keine Gesellschaft vorteilhaft, und damit basta. Deshalb gibt es die Tendenz der Vereinheitlichung. Das ist ein organischer Prozess, der durch die - gleichfalls vorteilhafte - globale Kommunikation nur ein wenig beschleunigt wird, aber sicher schon lange vorher da war - ganz einfach, weil sich die Menschen miteinander verständigen wollten. Aufhalten könntest du es nur, indem du das elektronische Kommunikationsnetz zerschlägst, und selbst dann würden keine neuen Sprachen mehr entstehen.
Als Student der Geisteswissenschaften bin ich mir bewusst, dass uns im Laufe der Generationen ein ungeheurer Kulturschatz verloren gehen wird. Das wird die Menschheit verschmerzen müssen.
Die Diskussion über das Für und Wider der Diversität von Sprachen ist ohnehin müßig. Die Tatsachen sprechen einfach für sich. Es ist eben nur die Frage, ob ich jammern oder die positiven Seiten sehen will. Und Jammern über eine Sache, deren Vorteile die Nachteile überwiegen, erscheint mir absurd. Ganz davon abgesehen, dass es ohnehin niemandem hilft.

 

So, so, die Vorteile der besseren Informationsübermittlung sind so groß, daß man dafür den „ungeheueren Kulturschatz“ der Sprachen ruhig opfern kann? Woher weißt du das? Und wie kannst du so etwas überhaupt sagen? Du, als angehender Schriftsteller? Von der Sprache leben und sie nicht schützen wollen, das ist in etwa so, als ob man ruhig zusieht, wenn der Ast, auf dem man sitzt, abgesägt wird.

Du tust so, als ob die Globalisierung der Sprachen ein unumkehrbarer Prozeß wäre, als ob es ein Naturgesetz wäre, daß zum Beispiel das Fernsehen in Deutschland nur eine einzige Sprache benutzen darf. Gewiß, es gibt dritte Programme, doch selbst diese bringen Mundartsendungen nur sporadisch, weil nicht genug Leute zuschauen. Außerdem ist das sowieso nur für die Alten, die junge Generation versteht dieses Zeug eh nicht, nicht wahr!

Als ob das öffentlichrechtliche Fernsehen Quoten machen müßte!

Und wäre die Schule nicht verpflichtet, das ungeheure Schatz der lokalen Dialekte zu pflegen statt sie zu verteufeln und diejenigen, die sie zu sprechen wagen, zu verspotten? Okay, das Hochdeutsche muß natürlich auch gelehrt werden, aber doch bitte nicht ausschließlich! Ein paar Stunden pro Woche zum Beispiel Plattdeutsch als Pflicht, das wäre ein Anfang für Norddeutschland.

Ich will dir, Megabjörnie, ein Beispiel erzählen aus meiner eigenen Familie: Meine Exfrau kommt aus Niedersachsen. Die Großmutter sprach nur Platt, deren Tochter tat das nur mit ihr und den Nachbarn, die nicht anders konnten, und deren Tochter – also meine Frau – sprach es auch als Kind, doch nur solange die Großmutter lebte, schon als Jugendliche konnte sie Platt nicht mehr sprechen, verstand es nur noch halbwegs, und unseren Söhne können weder das eine noch das andere. In vier Generation von 100 auf 0.

Es weht ein falscher Geist durch dieses Land. Ein Geist, der Landauf und Landab Menschen suggeriert, Dialekt zu sprechen sei nur was für Bauern, studierte Leute sprechen hochdeutsch. Hochdeutsch als Kennzeichen der Bildung, als Zeichen der Intelligenz. Schmarrn!*

Daß es anders auch geht, zeigt das Beispiel Schweiz. Dort sprechen auch Studierte Schwyzerdeutsch. Auch wenn sie von Schweizer Tagesschau als Experten befragt werden! Denen macht es anscheinened nichts aus, daß sie für das deutsche Publikum im 3-sat übersetzt werden müssen.

Dion

* Wikipedia kennt das Wort, canoonet (Wörterbücher und Grammatik für Deutsch) nicht!

 

Ich kann dir ein - ermutigendes - Beispiel aus meiner Familie geben: Meine Großmutter war Flüchtling aus Pommern, mein Vater dagegen spricht Platt und bezeichnet das als seine Muttersprache. Wie das möglich ist? Keine Ahnung, sein Vater starb m. W., als er drei war. Also müssen die Gleichaltrigen ihn sprachlich sozialisiert haben. Vielleicht frag ich ihn mal.

Trotzdem würde die Sprachpflege an den Schulen, auch wenn ich sie befürworte, nicht mit Sicherheit eine entscheidende Trendumkehr bewirken. Es ist halt so: Ich kann zwei Sprachen, eine davon pflege ich aus kulturellem Identitätsbedürfnis heraus, die andere ist diejenige, mithilfe derer ich mit der großen, weiten Welt kommuniziere. Letztere ist nicht auf Pflege angewiesen, erstere dagegen schon, denn ihr praktischer Nutzen im Alltag ist begrenzt.
Vielleicht kann man sie durch diese Pflege erhalten, aber das Grundproblem ist, dass sie sich nicht von allein am Leben hält, wenn nicht jede Generation von Neuem das Bedürfnis hat, sich durch den Dialekt ein eigenes Identitätsgefühl zu geben.

Vielleicht hast du Recht, und das Problem ist lediglich mentaler Natur. Ich kriege auch immer das große Stirnrunzeln, wenn in plattdeutschen Produktionen die Sprecher entweder Bauern oder Fischer sind.
Nur, eines darf nicht vergessen werden: Je aufwändiger die Pflege des Sprachguts ist, umso eher wird es irgendwann eine Regierung geben, die die Mittel für den entsprechenden Unterricht kürzt. Und dann?

Die Konzentration und damit zahlenmäßige Reduktion der Sprachen ist allerdings - historisch gesehen - wohl wirklich unvermeidlich. Das Sprachensterben geht schon seit Jahrtausenden langsam vor sich, und die Beschleunigung der Kommunikationswege beschleunigt auch diesen Prozess. Die Dialekte bedienen heute das Bedürfnis, sich identitätsstiftend abzugrenzen, und könnten aus diesem Grunde sogar ein Comeback erleben; aber ihre Beherrschung ist keine alltägliche Notwendigkeit mehr, weil es eine bequeme Alternative gibt.

Es ist ja auch nicht so, dass die Regionalsprache die Hochsprache nicht beeinflussen könnte. So war das Wort "pingelig" ursprünglich nur in einer Region ( ich glaube, es war der Ruhrpott ) üblich, bis ein Politiker es in der Öffentlichkeit verwendete. Es gibt der Bedeutung "übertrieben genau" eine ganz eigene Konnotation und hat sich daher bis heute in der Umgangssprache gehalten. Beispiele wie dieses gibt es bestimmt viele. Das mit der sprachlichen Verarmung muss also nicht unbedingt stimmen. Wo Dialektausdrücke bestimmte, einzigartige Nuancen betonen, da können sie sich sogar ausbreiten. Und das ist ein Vorteil der verbesserten Kommunikation der letzten Jahrzehnte. ;)

Aber wir sind jetzt ein wenig vom Thema ab. Es ging ja ursprünglich darum, ob Mund- oder Schriftsprache Vorrang hat. Und da sind bisher alle Beiträge auf einer Linie gewesen. Gibt es keine Gegenstimmen? :)

 

Ja, Bluomo, es gibt Lehrer, die kümmern sich um die Wurzeln, aus denen sie kommen, aber das tun sie aus privatem Interesse, nicht weil es auf dem Lehrplan steht. Was ich dagegen will: Die Pflichtschule muß Lokales berücksichtigen, muß soundso viele wöchentliche Stunden dafür verwenden, die Details regelt jede Schule selbst - so wird keine übergeordnete Bürokratie gebraucht, denn was kann zum Beispiel ein Beamter in München schon über Besonderheiten Oberfrankens wissen?

Sicher entscheidet die Gemeinschaft der Sprecher, was mit einer Sprache geschieht. Doch diese Gemeinschaft besteht aus einzelnen Menschen, jeder von uns kann also etwas für die Sprache tun, besonders aber die schreibende Zunft, weil sie vielmehr Menschen erreicht als ein nur in seinem privaten Kreis Wirkender. Natürlich können Berühmtheiten aus dieser Zunft noch mehr bewirken – siehe zum Beispiel Günter Grass, der von Anfang an gegen die Rechtschreibreform war und kraft seiner Autorität dem Verlag einfach verbot, seine Werke in der reformierten Schreibweise zu drucken.

Dieses Beispiel zeigt: Ein Schriftsteller kann ein Chronist und Gestalter seiner Zeit sein. Das bedeutet natürlich Aufwand, Unbequemsein und Anfeindung, deswegen gibt es nicht viele, die sich dem Uniformitätsstrom entgegenstellen – man kann halt leichter durchs Leben gehen, wenn man mit dem Wind geht.

Und es ist ein Irrtum, zu glauben, man könne sowieso nichts machen, die Globalisierung würde alles auffressen, was sich ihr in den Weg stellt. Das Gegenteil ist der Fall, gerade Erfolgsmodel Europa ist trotz der manchmal überbordenden Regulierungswut ein Beispiel dafür, daß Unterschied auch Stärke sein kann: Wir gehen gemeinsam, wo das nötig ist, und bleiben getrennt, wo es keinem schadet.

Aber dafür muß man kämpfen, bei der Sprache ebenso wie zum Beispiel bei Weinflaschengrößen (Bocksbeutel) oder bei Käsesorten, deren Herstellung angeblich nicht den Hygienevorschriften entsprechen (kann).

Zu der Ausgangsfrage: Die Reform war und ist so überflüssig wie ein Kropf, denn wenn man Stengel sagt, hört man nicht, ob dieses Wort als Stängel oder Stengel oder Klein- bzw. Großgeschrieben worden ist. Man hört in der Regel auch keine (fehlende) Kommata und daß und dass und das.

Mein Standpunkt dazu ist klar: Die Schriftsprache müssen wir verteidigen, denn sie ist das Ergebnis fast ausschließlich der Evolution (der Schriftsprache). Die Dundenredaktion hat bis vor einem Jahrzehnt hervorragend verstanden, die Veränderungen in der gesprochenen Sprache im Nachhinein und behutsam der Schriftsprache zuzuführen – dabei soll es bleiben.

Dion

 

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