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Schreie aus der Vergangenheit
„Sie können jetzt, Herr Michels“, sagte die Sprechstundenhilfe.
Er nickte. Die Tür zum Behandlungszimmer stand einen Spalt offen, und er trat ein. Der Arzt stand mit dem Rücken zu ihm und kramte in einem Aktenschrank.
„Schließen Sie die Tür, Karl.“
Er drehte sich um und streckte ihm die Hand entgegen.
Ein klobiger Ring drückte Karls Handfläche. Ihm fiel auf, dass der vordere Teil des Ringfingers fehlte.
„Ist ja eine Ewigkeit her“, sagte der Arzt und schlug eine Akte auf. „Damals gingen Sie mir gerade bis hier.“
Er hob den Arm und hielt ihn auf Schulterhöhe ausgestreckt. Karl erinnerte es an den Hitlergruß.
„Ich hoffe, Sie haben in der Zwischenzeit einen anderen Zahnarzt gefunden. Eine so lange Zeit, ganz ohne Kontrolle ist nicht gut.“
Es hatte sich wenig geändert seit dem letzten Besuch.
Da war der große, mit hellbraunem Leder bezogene Behandlungsstuhl, der den meisten Platz in Anspruch nahm, das übergroße Porträt eines alten Mannes dahinter, noch immer die gleichen weißen Einbauschränke. Sogar Dr. Ramstätter sah noch so aus wie damals.
Die intelligenten, blauen Augen, eingerahmt von einer schwarzen Hornbrille, das glatt rasierte Gesicht, die riesigen, seltsam grauen Zähne und nicht zuletzt sein Aftershave, das ihn wie eine Wolke umgab. Alles war wie früher.
„Irgendwie habe ich es immer vor mir hergeschoben“, gab Karl zu.
„Jetzt sind Sie da. Bitte setzen Sie sich.“
Ramstätter deutete auf das hellbraune Monstrum.
Karl nahm Platz. Ramstätter ging um seinen Schreibtisch und betätigte einen kleinen Knopf.
„Rita, würden Sie bitte kommen?“
Er wandte sich Karl zu. „Wo drückt den der Schuh?“, wollte er wissen.
„Im Unterkiefer, rechts hinten.“
„Schauen wir uns das mal an.“
Die Sprechstundenhilfe erschien. Sie war etwa in seinem Alter und hatte so durchdringend blaue Augen, dass es ihm schwerfiel, sie nicht anzustarren. Vorhin war ihm das gar nicht aufgefallen. Das helle Licht blendete ihn, und die beiden Gesichter wirkten wie Traumgestalten, die auf ihn herabsahen.
„Sie kennen doch Rita? Fangen wir oben an. Eins-Eins, Eins-Zwei, Eins-Drei … Drei-Sechs, kariös …“
Für Karl klang das alles wie Fußballergebnisse.
„Sie haben eine Menge Zahnstein, den kann ich sofort entfernen. Ihr hinterer Backenzahn erfordert allerdings eine längere Behandlung. Da ist nicht viel übrig. Wären Sie früher gekommen, hätte eine Füllung ausgereicht, so aber muss ich ihn präparieren.“
Das klang nach Schmerz.
„Können Sie das auch jetzt machen?“ wollte er wissen. Er wollte alles so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Ramstätter sah auf die Uhr. „Ich kann, es wird aber eine Weile dauern. Ich hoffe, Sie haben nichts mehr vor.“
Die Spritze tat fürchterlich weh. Er spürte die Nadel unterhalb seines Zahnes in das Fleisch dringen und zuckte zusammen. Wie er Zahnarztbesuche hasste! Kein Wunder, dass er es solange hinausgeschoben hatte.
Langsam wurde seine rechte Gesichtshälfte taub. Es kribbelte und fühlte sich an, als liefen Ameisen über seine Wange.
„Bitte weit aufmachen!“
Ramstätter beugte sich über ihn.
„Spüren Sie das?“
Er hatte etwas gespürt, aber es war nicht schmerzhaft gewesen.
„Einen leichten Druck“, lallte er.
„Gut, fangen wir an. Weit aufmachen!“
Rita steckte ihm zwei Wattepfropfen und den Speichelsauger in den Mund. Sein Schädel vibrierte, als der Doktor zu bohren anfing.
Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit.
Der kalte Pistolenlauf an seiner Schläfe ließ ihn in erstarren. Sie würden ihn ohne weiteres erschießen, wenn er jetzt nicht stehenblieb. Er hörte sie lachen. Kräftige Hände drückten ihn zu Boden. Und das alles wegen eines gestohlenen Brotlaibes.
Kurz darauf wurde er wieder hochgerissen. Er sollte sehen.
Seine Tochter schrie nach ihm, als ein Soldat ihr den Mantel von den Schultern riss. Plötzlich war es ihm egal, ob er leben oder sterben würde. Er bäumte sich auf, der Pistolenlauf verschwand von seiner Schläfe, und er rannte auf seine Tochter zu.
Ein Schuss fiel.
Er sah an sich herab. Ein kleiner Blutfleck auf seiner gestreiften Kleidung wurde rasch größer.
Er fiel auf die Knie, dann war seine Tochter bei ihm. Sie rief seinen Namen, presste ihre Hände auf die Wunde und sah sich hilfesuchend um. Einer der Soldaten packte sie, riss sie weg von ihm. Er schaffte es, noch einmal aufzustehen. Der panische Blick seiner Tochter, dann ein zweiter Schuss, und alles wurde schwarz.
Karl schreckte hoch. So realistisch hatte er noch nie geträumt, es war faszinierend, erschreckend. Er fuhr mit der Zunge über die Goldkrone, die ihm Dr. Ramstätter gestern eingesetzt hatte. Sie fühlte sich glatt und kalt an, wie etwas, das nicht in seinen Mund gehörte.
Aber immer noch besser als das Kunststoffgebilde, das er zwei Tage als Provisorium getragen hatte.
Er stand auf, um sich in der Küche einen Kaffee aufzubrühen. Der Kühlschrank war leer. Karl war erst kürzlich in diese Wohnung gezogen, und in jedem der drei Zimmer stapelten sich Kartons an den Wänden. Später würde er sie ausräumen, doch zuerst musste er einkaufen.
Die Stadt war noch immer vom Krieg gezeichnet. Fünfzehn Jahre reichten nicht aus, um die Spuren zu verwischen. Zerbombte Ruinen standen zwischen renovierten oder neuen Gebäuden. An die Bomben und Stunden im Bunker konnte er sich nur noch undeutlich erinnern. Jetzt waren die Zeiten besser. Er hatte eine Wohnung und einen Beruf, der ihm gefiel.
Frau Kramer, seine Vermieterin, kam ihm entgegen. Sie war weit über achtzig, ging aber jeden Samstag auf den Markt und mit schwer beladenem Korb zurück nach Hause. Sie grüßten sich im Vorbeigehen und wünschten einander einen schönen Tag.
Der Marktplatz war wie immer überfüllt. Frauen drängten sich zwischen den Ständen der Bauern. Karl stieg der Geruch von frischgebackenem Brot in die Nase, und er beschloss, einen Laib zu kaufen. Am Stand wartete er geduldig, bis die Dame vor ihm ihren Tratsch mit der Verkäuferin beendet hatte.
Jemand zupfte von hinten, kaum merklich, an seinem Hemdsärmel.
„Junger Mann, könnten Sie mir kurz behilflich sein?“
Karl drehte sich um und sah eine alte, spindeldürre Frau.
„Es ist so schwer, legen Sie mir den Sack doch bitte in meinen Wagen, ja?“
„Natürlich.“
Er beugte sich hinunter und wuchtete einen Kartoffelsack in einen kleinen Bollerwagen. „Danke sehr. Mein Neffe ist zu Hause, er wird mir helfen.“
Karl lächelte. „Gern geschehen.“
Noch immer waren die Frauen im Gespräch. Karl überlegte, wie er auf sich aufmerksam machen sollte, da vernahm er ein Flüstern, kaum mehr als einen Hauch, nahe an seinem linken Ohr.
„Es tut so weh.“
Er drehte sich um und erwartete, die alte Dame mit dem schweren Kartoffelsack zu sehen, aber sie war fort. Eine andere alte Frau hatte ihren Platz eingenommen.
„Haben Sie etwas gesagt?“, wollte Karl von ihr wissen.
Die alte Frau schüttelte den Kopf.
Mittlerweile hatten die Damen ihr Gespräch beendet, und Karl kam an die Reihe.
Karl saß er in seinem kleinen Heim und überlegte, wohin er die Schwarzweißfotografie seiner Eltern hängen sollte. Seine Mutter war vor zwei Jahren gestorben, und die Aufnahme war das einzige Bild, das er noch von ihr besaß.
Da sein Vater früh in den Krieg gezogen war, hatte er an ihn kaum eine Erinnerung. Mit großen, rauen Händen war er ihm immer durchs Haar gefahren. Eines Tages, Karl musste etwa vier Jahre alt gewesen sein, überbrachte ein uniformierter Soldat der Mutter die Nachricht, ihr Mann sei für Führer und Vaterland gefallen.
„Hilf mir.“
Er ließ das Bild fallen. Der Glasrahmen zerbrach vor seinen Füßen.
„Ist da jemand?“
Natürlich keine Antwort. Er bildete sich diese Stimme nur ein. Sie war ein Konstrukt seiner Fantasie, ein Hilferuf seines Geistes. Er war zu einsam, seine ehemaligen Freunde waren fast alle weggezogen oder hatten bereits eine Frau, manche sogar schon Kinder. Das musste es sein.
Während er die Scherben auffegte, begann seine Zunge wie von alleine, an der Goldkrone entlangzufahren. Vor und zurück. Wie glatt sie war.
Sie war unendlich müde, konnte sich kaum mehr aufrecht halten. Esther, ihre Freundin, hielt sie so unauffällig wie möglich an der Schulter fest, um das Zittern zu verbergen, dabei war es den Soldaten egal, ob sie gerade standen oder hin- und herwankten. Anwesend musste man sein.
Ein Soldat erreichte ihren Platz in der Reihe.
„Siebenundfünfzig.“
Sie hatte sich abgewöhnt, ihnen in die Augen zu sehen. Gestern hatten sie ihren Vater vor ihren Augen erschossen und sie danach vergewaltigt.
„Zwei fehlen!“, schrie der Soldat.
Sie mussten zusehen, wie zwei leblose Frauen aus der Baracke gezogen, auf einen Karren verfrachtet und weggebracht wurden. Kurz beneidete sie die beiden.
Eine Trillerpfeife erklang: Das Zeichen zum Waschen. Anfangs hatte sie sich immer beeilt, eine der ersten am Becken zu sein, denn wenn man zu weit hinten lief, konnte es sein, dass keine Zeit mehr blieb oder das Wasser dreckig war, wenn man an die Reihe kam. Aber seit gestern hatte sich das geändert. Sie saß abseits und dachte an ihren Vater.
Wieder erklang die Trillerpfeife: Frühstück fassen! Das Brot vom Abendessen musste auch für den Klecks Marmelade am Morgen ausreichen.
Als sie neben Esther auf der Bank saß, zog sie zwei Scheiben Brot aus der Manteltasche. „Nimm du.“
Esther starrte sie eine Weile an, dann sagte sie:
„Ich will es nicht. Wenn du nicht isst, stirbst du!“
Sie sah, dass Esther das Brot gern genommen hätte. Während sie hineinbiss, ließ sie ihren Blick durch die Bankreihen wandern.
Wie dünn sie alle geworden waren.
Karl wachte mitten in der Nacht auf. Sein Herz klopfte wild. Deutlich spürte er die Traurigkeit und Resignation der jungen Frau, von der er geträumt hatte. Seine Wange war nass, und er fuhr sich mit dem Handrücken über die Lider.
Wer war sie?
Karl konnte sich noch deutlich daran erinnern, wie er einmal beim Spielen auf dem Dachboden hinter einer großen Weltkarte das Bild Adolf Hitlers in einem goldenen Rahmen entdeckt hatte. Damals fand Karl, dass er wie eine jüngere Version seines Opas aussah. Bei seinem Opa hatte Karl dann auch zum ersten Mal aus dem Mund eines Erwachsenen und nicht von einer krächzenden Radiostimme etwas über die Lager erfahren. Opa hatte bereits im ersten Weltkrieg gekämpft und dort sein rechtes Bein verloren. Die meiste Zeit saß er in einem klapprigen Rollstuhl. Bei Besuchen musste Karl ihn von Zimmer zu Zimmer schieben und peinlichst darauf achten, die Wände mit den Reifen nicht zu berühren, um keine schwarzen Gummispuren darauf zu hinterlassen. Eines der Räder zog nach rechts, es war schwierig, ihn geradeaus zu schieben. Opa nannte es eine Geschicklichkeitsübung. Einmal berichtete der Radiosprecher über den Nürnberger Prozess, als Opa plötzlich die Stimme erhob und sagte: „ Das waren alles Kriegsgefangene. Ein Kriegsgefangenenlager ist nun mal kein Hotel. Das ist alles eine Erfindung der Amerikaner und Russen. Es gab keins dieser Konzentrationslager. Nicht in Auschwitz und nicht in Dachau, nirgendwo!“
Karl war froh, als Opa ein paar Jahre später starb. Er hatte es sattgehabt, ihn durch die Wohnung zu schieben.
Ein unangenehmes Ziehen und Pochen riss ihn aus seinen Gedanken. Die neue Krone schmerzte. Karl betastete sie mit der Zunge. Für einen Moment fühlte es sich an, als berühre er etwas Lebendiges.
Die Erinnerungen hatten ihn wieder schläfrig gemacht, doch plötzlich erklang der Schrei einer Frau, langgezogen, schrill wie ein Schmerzensschrei, aus unbestimmbarer Richtung. Karl sprang aus dem Bett, stürzte zur Tür und riss sie auf.
Der Schrei war verklungen, doch sein Echo schwebte im dunklen Flur.
Karl lief die kleine Wendeltreppe hinunter bis zu Frau Kramers Tür und klopfte. Nach dem dritten Klopfen öffnete sie sich einen Spaltbreit, und Frau Krämers runzliges Gesicht, erleuchtet von einer Kerze, lugte zwischen Rahmen und Tür hervor.
„Geht es Ihnen gut? Ich hab einen Schrei gehört und dachte, Sie brauchen vielleicht Hilfe.“ Seine Vermieterin sah ihn verschlafen an, und schüttelte den Kopf.
„Ich hab nicht geschrien, Sie müssen geträumt haben. Gehen Sie wieder zu Bett, Herr Michels.“
Sie gähnte noch einmal demonstrativ und schloss dann langsam die Tür.
„Entschuldigung“, murmelte Karl.
Verwirrt schlich er zurück in seine Wohnung. Er hatte doch deutlich den Schrei gehört. Er zog die Tür hinter sich zu und füllte sich in der Küche ein Glas mit Wasser.
Wieder ein Schrei! Diesmal aus seinem Schlafzimmer, daran gab es keinen Zweifel.
Er spürte die Kälte des Wassers an seinen nackten Füßen, als das Glas auf dem Küchenboden zerschellte. Wie in Trance ging er auf die Schlafzimmertür zu, ohne zu bemerken, dass er blutige Fußabdrücke hinterließ. Langsam stieß er die Tür auf und sah in das schwach erleuchte Zimmer, das er vorhin so eilig verlassen hatte.
Jemand trat aus dem Schatten. Blutverschmierter Mund, der hintere Teil des Kopfes fehlte. Als sie schrie, sah er ein schwarzes Loch, umgeben von Blutspritzern. Durch den Schrei öffnete sich eine Pforte in die Bewusstlosigkeit.
Esther war tot. Nachdem ihre Abteilung gestern zwölf Stunden lang die Straße zum Lager ausgebaut hatte, waren sie alle in Zweierreihe angetreten.
„Mein Tuch!“
Schon war Esther aus der Reihe und zurückgelaufen. Einer der Soldaten schoss und traf sie in den Rücken. Sie blieb liegen. Der Soldat starrte mit aufgerissenem Mund, sein Blick ließ ihn jünger erscheinen. Dann ein Pfiff, und der Trupp setzte sich in Bewegung. Der Himmel hatte noch diesen leicht violetten Grundton, die wenigen Wolken hoben sich strahlend davon ab.
Der Oberaufseher trat vor die Gruppe. Sie bekamen ihn nur selten zu sehen, diesen dicken, aus Schweinsaugen blickenden Mann mit dem vornehmen österreichischen Dialekt.
„Da ihr gestern fleißig gearbeitet habt, sollt ihr eine Belohnung bekommen. Heute braucht ihr nicht zu arbeiten, sondern werdet von einem Arzt untersucht. Dazu müsst ihr nüchtern sein, Frühstück gibt es also erst hinterher. Wascht euch, und dann geht es los.“
Nach dem Waschen stellten sie sich in einer langen Schlange auf. Vorn erwartete sie ein Mann im Doktorkittel. Sie beobachtete, wie der Arzt die Frauen in Gruppen einteilte. Als sie näher kam, sah sie ihn die Rippen einer Frau betasten, danach leuchtete er ihr mit einer kleinen Taschenlampe in Mund und Augen.
„Die nicht, kann aber noch arbeiten.“
Ihr fiel auf, dass eine der drei Gruppen nur aus alten oder ausgezehrten Frauen bestand. Diese musste jetzt als erste durch eine große Schwingtür gehen. Die Tür schloss sich, kurz danach begannen die Frauen dahinter zu schreien. Einer der Soldaten grinste.
Sie wehrte sich nicht. Hier war es viel heller als in der Halle. Man führte sie zu einem riesigen, mit hellbraunem Leder bezogenen Behandlungsstuhl. Sie musste sich setzten, und ein Soldat band erst ihre Arme, dann ihre Beine mit einem Ledergurt fest. Auf der Armlehne sah sie viele kleine Blutspritzer. Tränen liefen über ihre Wangen.
Der Doktor sah ausdruckslos auf sie herab. Sein Kittel war blutbefleckt. Um den Kopf trug er ein Band mit einer Stirnleuchte. Er rückte sich die Brille zurecht und sah sie mit strahlend blauen Augen an. Ein Lächeln.
„Würdest du bitte den Mund aufmachen, meine Liebe?“
Sie presste die Lippen zusammen. Im nächsten Moment spürte sie, wie ein Lederband um ihren Kopf gelegt und festgezogen wurde. Weiße Lichtblitze zuckten vor ihren Augen.
„Sei brav, dann geht es schneller“, hörte sie den Arzt sagen und biss die Zähne noch fester zusammen.
Eiserne Hände zerrten und rissen an ihrem Kiefer. Sie hörte den Soldaten hinter sich keuchen. Die Hände erschienen wieder in ihrem Blickfeld, und diesmal hielten sie ihr die Nase zu. Der Arzt hatte seine Stirnlampe eingeschaltet und blendete sie damit. Sein breites Grinsen sah sie trotzdem.
Als sie nach Luft schnappen musste, steckte man ihr eine Metallkonstruktion in den Mund. Es fühlte sich an, als müssten ihre Lippen platzen. Wieder beugte sich der Arzt über sie.
„Es tut mir Leid, aber du wolltest es ja so.“
Der Soldat hinter ihr lachte.
„Ah ja, sehr schön. Tja, hättest du dir öfters die Zähne geputzt, wäre dir das jetzt erspart geblieben.“
Eine Zange wurde ihr ins Gesicht gehalten. Sie schrie, ohne die Lippen bewegen zu können. Der Schrei kam aus tiefster Seele, alles Leid der vergangen Wochen lag darin.
Die Zange fasste den ersten Backenzahn mit Goldkrone. Mit der freien Hand stützte sich der Arzt auf ihrem Körper ab, zwickte sie in die Brust.
Der Schmerz war so stark, dass ihr schwarz vor den Augen wurde. Ihr Mund füllte sich mit Blut, Blut lief ihren Rachen hinunter. Die Worte des Arztes wurden zu einem fernen Gemurmel.
Plötzlich schienen ihre Lippen bis zum Hals hinunterzuhängen: Man hatte ihr das Gestell aus dem Mund genommen. Eine neue Blutwelle schwappte in ihrem Mund zusammen. Sie hörte etwas in eine Schüssel fallen und dachte plötzlich an ihren Vater, an Mutter und die Brüder, die sie seit dem Abtransport nie wieder gesehen hatte. Sie biss mit aller Kraft zu.
Die Zange wurde gegen ihren Gaumen gedrückt und dann aus ihrem Mund geschleudert. Sie spürte etwas Weiches zwischen all dem Blut. Jemand schrie, aber es dauerte, bis sie begriff, dass nicht sie es war.
„Die hat mir den Finger abgebissen!“, schrie der Arzt, und dann: „Spuck ihn aus, du Schlampe! Spuck schon!“
Sie schluckte.
Einen Schlag ins Gesicht, einen Moment lang war alles schwarz. Dann wurde sie über den Boden gezogen, sah eine Tür sich öffnen und wieder schließen.
Tageslicht. Sie lag am Boden und sah den Himmel. Ein Vogel flog über sie hinweg. Breitbeinig stand der Arzt über ihr und hielt eine Waffe auf ihren Kopf gerichtet.
„Du elendige Judenschlampe!“
Sie sah wieder in den Himmel. Gerade kam die Sonne hinter den Wolken hervor. Der Arzt drückte ab.
Karl öffnete die Augen und sah Bodendielen. Einen Bettpfosten. Was war passiert?
Mühsam stand er auf und setzte sich auf die Bettkante. Sein Hinterkopf tat schrecklich weh. Er musste gestürzt sein, konnte sich aber nicht daran erinnern. Am Hinterkopf ertastete er eine dicke Beule. Wenigstens blutete es nicht. Aber was war geschehen?
Vor dem Fenster hörte er Kinder spielen. Er sah hinaus. Zwei Jungs spielten Fußball. Ein Mädchen mit langem rotem Haar kam dazu. Einer der Jungs zog an ihrem Zopf, und sie rannte kreischend und lachend davon.
Als Karl das Mädchen schreien hörte, erinnerte er sich wieder. Der Schrei im Zimmer, die Gestalt, der Traum, die schreckliche Angst, die Schmerzen: Das war passiert. Die Frau aus seinen Träumen hatte ihn besucht. Und sie hatte ihm etwas gezeigt.
Karl griff sich in den Mund, berührte die Goldkrone und zog hastig die Hand zurück, als er eine Bewegung spürte. Im Bad, im Spiegel, sah er sich an: Er war blass, sehr blass. Wie ein Geist.
„Du weißt es!“, sagte die Stimme in seinem Kopf.
„Du weißt es, du weißt es, du weißt es!“
„Aufhören!“, schrie Karl.
Es klappte, vorerst. Er verließ das Badezimmer und begann die herumstehenden Kartons aufzureißen. Schließlich hatte er gefunden, was er gesucht hatte, ging zurück ins Bad und riss den Mund auf. Sein Kiefer knackte. Die Goldkrone glitzerte im Licht der Badezimmerlampe. In einer Hand hielt Karl die Zange aus dem Werkzeugkoffer seines Vaters. Ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, Geschenk der Kompanie. Vorsichtig führte er sie in seinen Mund und beobachtete sich dabei im Spiegel. Konnte er das überhaupt tun?
Dann fiel sein Blick auf das kleine, eingravierte Hakenkreuz am Zangengriff. Er zog die Zange aus dem Mund und ließ sie fallen. Sie schlug eine Macke in die Bodenfliese.
Der Tag verstrich langsam. Karl saß in der Küche und trank einen Kaffee nach dem anderen. Die Stimme hatte gesagt, er wüsste, was zu tun sei. Aber er hatte nicht den blassesten Schimmer.
Als es Abend wurde, ging ihm der Kaffee aus. Das Wochenende war vorüber, er musste morgen früh raus, und doch wollte er nicht schlafen, obwohl er nicht einmal wusste, ob es noch etwas zu träumen gab. Sie war erschossen worden. Das war das Ende.
Aber was, wenn sie wieder erschien mit ihrem schwarze Loch, das ein Mund gewesen war, den blutigen Haaren, dem zerfetzten Hinterkopf?
Solange sich diese Goldkrone in seinem Mund befand, würde er keinen Bissen hinunter bekommen. Ein weiterer Punkt, den es zu überdenken galt. Er hatte Hunger.
Es war halb vier in der Nacht, als sich Karl dazu entschied, nicht zur Arbeit zu gehen.
Er beobachtete, wie Rita, seine hübsche Sprechstundenhilfe, aus der Tür trat. Sie hatte einen strammen Schritt, was ihm in diesem Moment nur recht sein konnte. Karl schaffte es, einen Fuß zwischen Tür und Angel zu bekommen. Rita hatte nichts bemerkt und war schon längst um die nächste Ecke gebogen, als Karl das Treppenhaus betrat.
Er schlich die Stufen bis zu Ramstätters Praxis hinauf und blieb vor der Tür stehen. Plötzlich war ihm schwindlig. Er stützte sich am Treppengeländer ab, um nicht umzufallen. Die Stimme war wieder in seinem Kopf. Ganz leise flüsterte sie zu ihm, und Karl hörte ihr zu.
Ramstätter saß am Schreibtisch und las in einer Patientenakte. Hannah Levi, eine Jüdin. Er musste sie behandeln, konnte sie nicht einfach ablehnen. Die Zeiten hatten sich geändert. Aber er hatte ihr Schmerzen zugefügt. Und er würde ihr Geld abknöpfen.
Er hörte, wie die Praxistür geöffnet und wieder geschlossen wurde.
„Rita, haben Sie etwas vergessen?“
Keine Antwort. Diese Rita. Hübsches Ding, aber dumm. Vielleicht war es auch Friedrich, die Halbtagskraft. Seufzend erhob sich der Doktor und öffnete die Tür zum Wartezimmer.
Eine dürre Frauengestalt stand in der Tür. Sie stand im Schatten, und er konnte zuerst nur ihre Umrisse erkennen, dann machte sie einen Schritt nach vorne und wurde von der Deckenbeleuchtung erfasst.
Diese Kleidung hatte er vor siebzehn Jahren zuletzt gesehen. Schwarzes Haar verdeckte das Gesicht der Frau. Sie machte einen weiteren Schritt, wobei sie rote Fußspuren auf dem Linoleum hinterließ. Ramstätter wich immer weiter zurück, den Blick fest auf die Gestalt gerichtet, die erbarmungslos näherkam. Er stieß mit den Oberschenkeln gegen seinen Behandlungsstuhl und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand die Gestalt direkt vor ihm. Ein weibischer Schrei löste sich aus seiner Brust.
Hinter ihm polterte etwas zu Boden. Er riss den Kopf herum. Das Bild, das den Tresor verbarg, war von der Wand gefallen. Die Tür des Tresors sprang auf, und unzählige Goldkronen fielen zu Boden. Die Kronen, die er hinausgeschmuggelt und nach dem Krieg, als er sich sicher fühlte, sein Eigen genannt hatte.
Ramstätter sah die Gestalt vor ihm an, blickte in ihre Augen. Mit einer bleichen Leichenhand strich sie sich das Haar zurück, und Ramstätter sah das ausgefranste, blutige Loch in ihrem Gesicht.
Etwas fiel plötzlich aus ihrem Mund in seinen Schoss: Der obere Teil eines Fingers, seines Fingers. Er schloss die Augen. Etwas drückte seine Kiefer auseinander und ließ seine Lippen reißen. Er wollte es aus seinem Mund ziehen, doch er konnte den Arm nicht mehr heben. Sie hielt eine Zange vor seine Augen.
Ramstätter schrie.
Als Karl erwachte, hatte er einen bitteren Geschmack im Mund, fühlte sich aber ungewöhnlich ausgeruht. Seltsam war, dass er fast vollständig bekleidet in seinem Bett lag. Neben ihm auf dem Kissen schimmerte etwas. Vorsichtig griff er danach.
Seine neue Goldkrone war ihm im Schlaf aus dem Mund gefallen.