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Schreiben zum Verstehen
Ich schreibe um zu verstehen.
Jede Geschichte beginnt mit Tränen und so sollte sie auch Enden.
Was ich als Kind gerne getan habe frage ich mich manchmal. Ich war gerne in der Natur, habe an einem Bachlauf gespielt, bis meine Füße nass waren. Ich ging nach Hause und meine Mutter schimpfte, dass ich wieder in den Bach gefallen sei. So ging es für viele Jahre.
Dann habe ich zum Leidwesen meiner Eltern angefangen Pfeil und Bogen zu bauen. Am Anfang aus einem dünnen Zweig und einem Bindfaden, den ich zufällig beim Spielen am Bach fand.
Jetzt beim Schreiben erinnere ich mich besser daran. Einmal half mir mein Vater und nahm einen Gummizug aus einem alten Hosenbund, befestigte diesen mit Sorgfalt an einem gebogenen Ast und baute mir einen passablen Bogen. Ich wusste damals nicht wie ein Bogen funktioniert. Dass die Zugkraft aus dem harten Holz kommen muss und nicht aus einem verformbarem Gummi. Aber der Bogen funktionierte und das reichte mir als Kind. Ich war glücklich über meinen neuen Bogen. Ich erinnere mich gut daran, obwohl ich so vieles andere vergessen habe.
Das sind echte Momente in einem Leben. Dafür weiß ich heute nicht einmal mehr wie ich mich gefühlt habe, als ich mein Examen zugeschickt bekam. Per Post versteht sich. Vom Postboten überreicht, der nicht einmal wusste, was er mir dort aushändigte. Den verdienten Lohn für jahrelange Arbeit.
Beziehungen sind an meinem Studium zerbrochen. In erster Linie wegen mir und dem Leben das ich geführt habe. Die Schuld trägt niemand sonst. Woran ich mich sonst noch aus meinem Studium erinnere? Etliche Nachtschichten im Krankenhaus. Die Pflege von kranken und sterbenden Menschen. Es sind viele gestorben. Die meisten alleine ohne dass ich es mitbekam. Häufig findet man sie einfach beim Rundgang. Tot im Bett liegend. Halb so wild, denkt man sich. Es war ja bekannt, dass sie sterben. Bei der Übergabe heißt es präfinal. Manchmal kommt man in die Zimmer, sieht dass es zu Ende geht. Dann wird die Tür wieder geschlossen und man kommt später wieder, wenn es vorbei ist. Das Ganze wird akzeptiert. Nur wenige Krankenschwestern finden die Zeit einen Menschen beim Sterben zu begleiten. Umso mehr schätze ich diejenigen, die es versuchen. Diese Aufgabe fällt eigentlich den Angehörigen zu, was richtig wäre. Aber häufig ist niemand da. Manchmal denke ich mir, dass könnte mein Vater sein, der dort liegt. Er ist ja nicht mehr bei bester Gesundheit. Mein Vater, der mir den Bogen vor vielen Jahren gebastelt hat.
Wer denkt mit dem Tod ist es dann zu Ende, täuscht sich. Die Verstorbenen werden fertig gemacht, damit, falls ein Angehöriger noch kommen sollte, er Abschied nehmen kann. Die Katheter und Zugänge werden entfernt, damit sie das Bild nicht trüben. Der Tod soll natürlich aussehen, als ob der Patient die letzten Monate ohne diese medizinische Hilfe gelebt hätte. Manchmal kommen Angehörige dann nachts auf Station, wenn alles vorüber ist. Ein Wort des Beileids in die häufig erleichtert wirkenden Gesichtern. Vielleicht tue ich den Menschen hier Unrecht. Ich weiß nicht, was in Ihren Köpfen vorgeht.
Aus dieser Zeit im Krankenhaus haben sich zwei Ereignisse in meinem Gedächtnis verankert. Ich werde sie jedoch nicht erzählen, da sie die meisten langweilen würden und viele wahrscheinlich ähnliche Erinnerungen teilen. Wenn ich danach gefragt werde, werde ich sie erzählen.
Nach diesen Nächten kommt man übermüdet und übernächtigt am nächsten Morgen in die Vorlesung, später dann ins Labor und quält sich durch den Tag, obwohl jede Faser im Körpers und jede Synapse im Kopf nach Erholung schreit. All das nur, um an Ende ein Blatt Papier von einem Postboten gebracht zu bekommen. Und ich weiß nicht mal, wie mir in diesem Moment zu Mute war. Ich müsste mich selber dafür hassen, wenn es mir nicht so egal wäre. Ich denke, ich muss in dem Moment glücklich gewesen sein, zumindest erleichtert, als ich die Urkunde in der Hand hielt. Aber ich weiß es nicht, verdammt noch mal. Ich glaube, ich saß in dem Moment in der Küche mit meiner damaligen Freundin. Ich kann mich täuschen.
Der Lohn bedeutungslos und um die ganze Ironie zu erfassen: Ich habe heute zu niemanden meiner Kommilitonen Kontakt. Nur das Examenszeugnis zeugt von dieser Zeit und das ist gut versteckt zwischen anderen Unterlagen, unsichtbar. Was hätte ich in dieser Zeit alles machen können. In 7 Jahren Studium - ja solange habe ich studiert. 7 Jahre in denen ich so viel mehr hätte machen können. Vielleicht hätte ich malen sollen…
Als Kind habe ich gerne gemalt. Heute besitze ich nicht mal ein Set anständiger Buntstifte. Das muss man sich erstmal vorstellen. Meine ganze Kindheit habe ich gemalt. Hunderte von Bildern, meist Dinosaurier. Ganze Ordner zeugen davon. Meine Mutter hat gewissenhaft die Bilder gesammelt und in Ordnern abgeheftet. Jetzt vermodern sie bei mir im Keller und ich besitze nicht einmal mehr Buntstifte.
Warum ich aufgehört habe das zu tun, was mir als Kind Freude bereitet hat…ich kann es nicht sagen. Nicht weil ich nicht will, sondern weil ich es nicht weiß. Vielleicht weiß ich es eines Tages und dann werde ich ganze Galerien mit den Bildern füllen, die es erklären. Es werden viele Dinos auf den Bildern sein, in allen Farben. Das weiß ich jetzt schon.
Aber jetzt verstehe ich es noch nicht. Vielleicht habe ich einfach das getan, was von mir erwartet wurde. Den Buntstift gegen den Taschenrechner getauscht. Ich will nicht mehr das tun, was man etwas von mir erwartet. Ist das falsch?
Natürlich war nicht alles schlecht in den letzten Jahren. Die Menschen, die ich kennenlernte waren echt und meine jetzige Persönlichkeit ist das Ergebnis aus diesen Erfahrungen. Zumindest würden Psychologen so etwas Ähnliches sagen. Ich war nie beim Psychologen. Und ich bin auch kein Psychologe, eher Wissenschaftler. Aus wissenschaftlicher Sicht sind die Spiegelneurone schuld. Also ich selbst.
Zumindest kann ich nicht leugnen, dass sich mein Charakter aus vielen Eigenschaften zusammensetzt, die in den letzten Jahren entstanden sind. Das zu leugnen, hieße mich selbst zu leugnen, mich selbst unbedeutend zu machen. Niemand ist unbedeutend. Das ist doch das Menschenbild, was uns beigebracht wird. Jeder Mensch ist einzigartig.
Heute nehme ich all das an. Das Glück, dass ich spürte als ich den Bindfaden für meinen ersten Bogen fand und auch die Gleichgültigkeit über mein Examen. Mir soll es eine Lehre sein.
Ich erzählte meiner damaligen Freundin, dass ich seit mehreren Jahren nicht mehr geweint habe, was, soweit ich es in Erinnerung habe, stimmte. Sie wunderte sich zu Recht. Ich erklärte es damit, dass ich einfach nicht nah am Wasser gebaut bin. Heute fließen die Tränen leichter. Ich denke, das ist gut.
Jetzt brauche ich allerdings erstmal eine Zigarette. (Eines der Dinge, die ich in den letzten Jahren schätzen lernte.)
Ich muss leider los zu einem Treffen, denn auch ich bin auf die Selbstbestätigung anderer angewiesen.
Wenn es sich ergibt, erzähle ich ihr, dass ich angefangen habe ein Buch zu schreiben. Es ist immer eine Sie. Vielleicht zeige ich ihr einige Zeilen. Ich habe keine Ahnung wie sie reagiert. Immerhin ist mein Schreibstil miserabel ausgeprägt. Kein Wunder, der letzte zusammenhängende Text den ich schrieb, war zu meiner Schulzeit. Aber irgendwo muss ich anfangen.