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Schreibblockade
Nachdenklich starrt sie auf das Blatt Papier vor sich. Den Kopf auf die linke Hand gestützt, schließt sie die Augen und erinnert sich.
Wenn sie früher Gedichte, Geschichten oder Träume geschrieben hat, dann war ihr die Umgebung egal. Manchmal hat sie dabei im warmen Bett gelegen, eng unter die Decke gekuschelt. Oder sie hat am helllichten Tag an ihrem Schreibtisch gesessen. Der stand direkt vor der weißen Wand, gespickt durch wenige Poster. Die konnten sie kaum inspiriert haben.
Heute hat sie es sich extra richtig gemütlich gemacht. Sie hat Kerzen angezündet und sogar ein Räucherstäbchen angemacht, was sie sonst nie tut. Dann hat sie eine CD eingelegt. Nicht zu romantisch, das ist nicht ihr Fall, aber eine, die viele sentimentale Erinnerungen ich ihr weckt. Trotzdem fällt ihr nicht ein, worüber sie schreiben könnte.
Die Anfänge, ja, die hat sie zuhauf in ihrem Kopf. Aber wenn sie die Geschichten weiterspinnen will, dann fängt der Film vor ihrem inneren Auge plötzlich an zu flimmern, bis schließlich nichts mehr zu erkennen ist.
Sie seufzt und öffnet die Augen. Frustriert dreht sie den Stift in ihrer Hand hin und her. Worin kann sie nur begründet sein, ihre Ideenlosigkeit? Das ist ihr doch sonst nie passiert! Darauf ist sie doch immer so stolz gewesen. Es ist ja auch nicht so, dass sie völlig unkreativ wäre. In ihrem Job profitiert sie täglich von ihren spontanen Einfällen.
Ist sie so oberflächlich geworden? Es sind ja nicht die Worte, die ihr fehlen, es sind die Bilder und vielleicht auch die Empfindungen. Die Empfindungen? Nein, sie fehlen ihr nicht im Allgemeinen. Im Alltag nimmt sie ihre eigene und anderer Stimmungen sehr intensiv wahr.
Sie ist sich einfach unsicher, über was sie berichten möchte.
Früher hat sie meist sehr traurige Geschichten geschrieben, weil sie sich selbst einsam fühlte. Oder aber ihre Schilderungen waren sehr gesellschaftskritisch, wenn sie aufgebracht war, weil etwas persönlich betroffen machte.
Ungeduldig pocht sie mit dem Kugelschreiber auf das weiße Blatt und hinterlässt dabei blaue Pünktchen.
Sie schreibt immer noch per Hand. Die Gedanken fließen dann besser, als bei dem abgehackten Getippe auf der Computertastatur.
Sie will den Leser ins Herz treffen, das ist klar. Das ist nach wie vor ihr Ziel. Das Thema ist eigentlich egal. Es kann eine traurige, humorvolle, kritische Geschichte sein, hauptsache ist, dass sie erst einmal ihr eigenes Herz daran aufhängen kann. Denn nur dann kann sie so schreiben, dass sie anderen auch eine überzeugende Botschaft vermitteln kann.
Gedankenverloren wippt sie den Kugelschreiber zwischen ihren Fingern. Jetzt ist sie schon einen kleinen Schritt weiter.
Was beschäftigt ihr Herz, ihre Gedanken zur Zeit? Ihr Privatleben ist völlig intakt, die Arbeit läuft, sie treibt wie gewohnt begeistert Sport. Soweit so gut. Ihre Freunde und die Familie, was ist mit denen? Michelle zum Beispiel, sie hat so viele Probleme, warum kann sie die nicht als Leitfaden für eine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft nehmen?
Ist sie so gefühllos? Kann sie sich nicht mehr in andere einfühlen? Das klappte doch früher!
Klack, der Stift fällt ihr aus der Hand. Das Geräusch reißt sie aus den Gedanken. Doch wie es oft so ist, durchfährt es sie in diesem Moment, in dem sie aufgehört hat hartnäckig nach einer Antwort zu suchen, wie einen Geistesblitz.
Plötzlich ist ihr klar, warum sie derzeit nicht schreiben kann. Sie hat ja Ideen, das sieht man an den vielen Anfängen, die ihr beim Joggen durch den Kopf schießen.
An dem Punkt, dass sie sich nicht einfühlen kann, da ist jedoch etwas dran. Allerdings wohl nicht so negativ, wie sie dachte. Sie ist schließlich auch in der Lage für ihre Freunde da zu sein, so wie früher auch. Aber sie fühlt sich ihnen gegenüber nicht mehr so hilflos. Als sie damals geschrieben hat, fühlte sie sich immer unsicher. Sie zweifelte an sich selbst und ihren Fähigkeiten, an ihren Freunden, an ihrer eigenen Weltanschauung oder der anderer. Sie wusste nie genau, wo sie wirklich stand. Erst durch das Schreiben, währenddessen sie sich mit diesen Themen auseinandersetzte, hatte sie ihren eigenen Standpunkt definieren und sich in ihren Gefühlen und Ansichten bestärken können. Doch genau so eine Auseinandersetzung war derzeit für sie nicht nötig.
Aufgeregt begann sie, einen Punkt in der Ferne, draußen vor dem Fenster, zu fixieren und auf den Nägeln zu kauen.
„Eine Auseinandersetzung ist für mich derzeit nicht nötig“, hielt sie ihren Gedanken fest. Klingt irgendwie überheblich. Ich setze mich doch mit vielen Dingen auseinander, dachte sie. Ich rege mich immer noch häufig über Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit verschiedener Art auf. ... Aber, führte sie den Gedanken fort, ich weiß dabei immer wo ich stehe. Ich fühle mich zur Zeit völlig sicher und bin selbstbewusst geworden, stellte sie mit Erstaunen fest. Sie hatte endlich das Gefühl, ihren Freunden auch etwas geben und ihnen bei Schwierigkeiten zur Seite stehen zu können. In ihrer Beziehung fühlte sie sich sicher, auch wenn Reibereien auftraten; und sowohl ihr Job als auch ihre Freizeit, bereiteten ihr Freude.
Das war der Grund, warum sie keine tiefsinnigen Geschichten schreiben konnte. Sie war im Moment ganz einfach ausgeglichen und zufrieden.
Und positive Regungen in Worte zu fassen, das hatte sie schon vor Jahren begriffen, ist viel schwieriger, als alles Negative zu schildern. Denn dafür gibt es wirklich viel zu wenig passende Wörter und Bilder.
Entschieden legte sie den Stift zur Seite, blies die Kerzen aus und zog ihre Jacke an, um einen Spaziergang zu machen. Sie wollte den Zustand der Ausgeglichenheit auf diese Art genießen. Schreiben würde sie bald schon wieder können, wenn sie sich erneut ihren Platz in ihrer kleinen Welt neu erkämpfen musste. Der Zeitpunkt würde kommen, da war sie sich ganz sicher.