Schrecklich normal
Der Besen rutschte zur Seite, als Christian Frankenburg ihn fassen wollte. Kurz bevor seine Hand den Stiel erreichte, rutschte der Reisigbesen mit dem Kopfende ruckartig an der Klinkerwand entlang und blieb dann in dieser Position, und der Berater hatte das Gefühl, dass der Besen mit ihm spielen würde.
Christian wollte sich die seltsamen Symbole auf dem Besenstiel näher ansehen, die ihn entfernt an Tierkreiszeichen erinnerten. Anscheinend hatte der Besen etwas dagegen, und er drehte den Kopf, aber niemand war in der Nähe, der die eigenständige Bewegung des Besens hätte sehen können.
Er trat einen Schritt zurück und sah sich um. „Ein Kinderparadies“, dachte er. Am Klettergerüst im Garten schwang eine Schaukel im Herbstwind, und der kleine Sandkasten daneben war mit einer Plastikplane abgedeckt. Ein Strohkranz hing an der Eingangstür, und durch das rautenförmige Fenster konnte er in das Innere des Hauses sehen. In jedem der Fenster schimmerten geschliffene Kristallkugeln und schickten Lichtreflexe auf die Straße.. Frankenburg drückte auf den Klingelknopf des Reihenendhauses und hörte gleichzeitig einen melodischen Gong, der die Bewohner in Bewegung setzte. Er ging einen Schritt zurück, um nicht so groß zu wirken.
Er schätzte die Frau auf Anfang dreißig. Die langen blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und die Ringe unter den Augen zeigten ihm, dass sie wohl einige schlaflose Nächte hinter sich gebracht hatte. Ihr skeptischer Blick durchdrang ihn von oben bis unten, aber schließlich reichte sie ihm doch die Hand und beantwortete seinen Händedruck fast zaghaft.
Gleichzeitig stellte er sich vor. „Guten Tag, Frau Landgreber. Ich bin Christian Frankenburg.“ Es erschien ihm nach dem kühlen Blick sinnvoll, das Gespräch freundlich, aber doch sehr sachlich zu beginnen.
„Guten Tag, bitte kommen Sie herein. Hatten Sie eine gute Fahrt?“ Er ging ein Stück vor ihr in den Hausflur hinein und drehte sich dann um.
„Ja, danke. Hildesheim ist von uns aus über die Autobahn schnell erreichbar, und um diese Zeit sind wenig Autos unterwegs.“
Sie nickte und ging in das Wohnzimmer. Rechts war eine offene Küche, in der allerlei Kräuter und Gläser mit eingelegten Früchten oder Pflanzen auf einem Regal standen.
Plötzlich gab es einen Knall, und von oben war lautes Kindergeschrei zu hören. Die Frau sprang auf, rief im Laufen „Mein Mann kommt gleich“ und verschwand auf der Treppe. Etwas irritiert stand der Berater vor dem runden Kiefernholztisch, zu dem sich ein paar passende Stühle gesellt hatten, und fing an, leise vor sich hin zu fluchen. Wenn seine Interessenten weder pünktlich waren noch interessiert wirkten, dann waren die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Gesprächsverlauf schon schlecht.
Der Raum war ungefähr 30 Quadratmeter groß und endete mit einem größeren Fenster und einer Terrassentür, die in den Garten führte. Bemerkenswert großzügig empfand er den Garten, und eine alte Eiche neigte ihre Äste über den Maschendrahtzaun. Wie viele Reihenhäuser er schon gesehen hatte, wusste er nicht mehr. Irgendwie sahen sie alle gleich aus. Nach der Tür kam rechts die Küche und links das Gäste-WC, dann kam links die Treppe nach oben und am Ende des Flures folgte das Wohnzimmer, und das war eben rund 30 Quadratmeter groß, gemütlich und praktisch genug für ein glückliches Leben.
Das Geschrei von oben hörte nicht auf, und gelangweilt ging er zum Bücherregal, das ebenfalls aus Kiefer war und im unteren Bereich schon einige Dellen aufwies.
„Sage mir, was Du liest, und ich sage Dir, wer Du bist“, murmelte er und hielt den Kopf ein wenig schräg, um die Titel besser lesen zu können. Neben den „Hexsprüchen für alle Gelegenheiten“ stand die „Kleine Hexenkunst“ von Samuel Sottbroich, dann folgte die „Sieben Nothexsprüche“ und „Verliebt, verlobt, entzaubert“ von Ramona Weisenhorn. Etwas erstaunt stellte er fest, daß sich ein ganzer Bereich anscheinend nur mit Hexenkunst beschäftigte, und fragte sich, was er wohl in der Küche finden würde, wohl die „ 10 Schnellhexsprüche für die beschäftigte Hausfrau“, oder eingelegte Froschaugen, Spinnenbein und Krötenhaut. Selten war er bei Menschen, die auf den ersten Blick so abgedreht wirkten.
Der Berater fühlte sich beobachtet, und er drehte sich langsam um. Außer ihm war niemand im Zimmer, der Krach von oben hatte noch an Stärke zugenommen und er hörte die Frau laut schimpfen. Sein Blick fiel auf ein Ölgemälde, das in einem Goldrahmen an der Wand über dem Sofa hing. Es stellte eine fette Frau in einem weißen Kleid dar, die auf einem reich verzierten Stuhl vor einer mediterranenen Landschaft saß. Er hätte schwören können, dass die Dame sich gerade eben bewegt hatte.
Derweil der Lärm von oben anhielt, ging er zurück in den Flur und sah noch einmal in den Spiegel. Wenn er schon unfreundlich begrüßt wurde, dann sollte das folgende Gespräch wenigstens korrekt ablaufen. Seine Krawatte war schnell gerichtet, und er zog für den passenden Sitz den Gürtel seiner Hose etwas enger. Als er wieder in den Spiegel schaute, war von seinem Sakko ein Ärmel abgerissen, die Krawatte hing schief und er hatte ein verschwollenes und blaues Auge. Blickte er auf seinen Arm, dann sah er seinen karierten Sakko, und als er erneut in den Spiegel sah, hatte er eine schwarze Lederkluft an und trug in der linken Hand eine lange Motorradkette. In diesem Moment fragte er sich ernsthaft, ob er nicht lieber gehen sollte.
Der Schlüssel rutschte in das Schloss, und ein großer und schlanker Mann in einem schwarzen langen Mantel trat durch die Tür. Im ersten Augenblick verzog der Mann die Mundwinkel nach unten und kniff die Augen leicht zusammen, dann streckte er die Hand in Richtung des Beraters und beiden schüttelten sich mit einem festen Druck die Hände.
„Landgreber, Steffen Landgreber ist mein Name. Guten Tag. Sie sind Herr Frankenburg?“
„Christian Frankenburg. Guten Tag, schön, Sie kennen zu lernen.“
Steffen Landgreber hängte sorgfältig seinen Mantel auf und ging in das Wohnzimmer. „Ich hatte noch eine Besprechung, die etwas länger gedauert hat. Möchten Sie einen Kaffee?“
Der Berater nahm den Kaffee dankend an, und beide setzten sich an den Kieferntisch. Frankenburg stellte sich vor, erzählte etwas von seinem Lebenslauf und bemühte sich, langsam in die gleiche Körperhaltung zu gleiten, die sein Gegenüber auch hatte. Zurück gelehnt auf seinem Stuhl, mit gekreuzten Armen und Beinen hörte Landgreber ihm zu, ohne eine Miene zu rühren. Als der Berater ebenfalls die Arme gekreuzt hatte, kam die Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm in den Raum. Er schätzte das Alter des Jungen auf drei Jahre.
„Schön, dass mein Mann Sie schon versorgt hat,“ sagte Frau Landgreber.
„Ich habe auch zwei Kinder,“ lächelte der Berater, „ da muß man manchmal eben schnell sein.“ Damit schien er den richtigen Ton getroffen zu haben, denn zum erstenmal lächelte die Frau zurück.
„Und wie alt sind Ihre Kinder?“ Die Frau drückte den Jungen an sich, der von der Seite vorsichtig zu ihm herüber schaute.
„ Vier und sechs Jahre, ein Junge und ein Mädchen. Es sind ganz muntere und normale Kinder“.
„Normal ja, das ist unser jüngster auch, ganz normal. Wie schön, ein Pärchen. Das haben wir auch, 3 Jahre und drei Monate alt.“
„Meinen Glückwunsch.“ Er nickte freundlich zu der Frau hinüber, die traurig lächelte, und beschloß, auf ein anderes Thema gehen.
Herr Landgreber warf seiner Frau einen durchdringenden Blick zu, und seine Frau senkte den Kopf und griff mit der Hand fest in ein Kissen.
„Herr Frankenburg, es geht uns um die Versorgung unseres jüngsten Kindes. Wir wollen etwas für die Ausbildung und auch jetzt schon für die Altersversorgung tun, und möchten von Ihnen hören, welche Möglichkeiten es gibt“.
„Jetzt ist er wenigstens aus der Deckung gekommen,“ dachte Frankenburg, als sein gegenüber locker die Arme auf die Tischplatte legte und sich vorbeugte.
Er legte die verschiedenen Möglichkeiten dar, und schloß mit den Worten „sinnvoll ist auf jeden Fall eine Analyse Ihrer Vermögensverhältnisse.“
Die Landgrebers nickten sich zu, und Frau Landgreber meinte, dass sie bei mehr über Aktienfonds wissen wollten. Um sein Notebook zwischen den Packen der Prospekte heraus zu holen, legte er zuerst die Taschenlampe auf den Tisch und zog dann das Notebook aus der Tasche. Steffen Landgreber nahm sich einfach die Taschenlampe, hielt sie sich dicht vor die Nase und betrachtete sie von allen Seiten.
„Eine Taschenlampe.“ Christian Frankenburg kniff die Lippen zusammen. „Sehen Sie sich die Taschenlampe ruhig an.“
Der Mann schaltete das Licht ein und murmelte etwas, das der Berater nicht verstand. Plötzlich öffnete er leicht die Augen, schaltete die Lampe wieder aus und gab sie ihm lächelnd zurück.
„Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit, es ist wirklich eine sehr praktische Taschenlampe.“ Er nickte seiner Frau freundlich zu und zwinkerte dabei mit den Augen.
Als Frankenburg das Notebook und den Taschenrechner auf den Tisch stellte, hatte er das Interesse des Jungen geweckt, der sich schnell neben ihn stellte und neugierig zusah.
Frau Landgreber holte ihm selbst gebackene Kekse, und er war irritiert über die plötzliche Freundlichkeit.
„Das ist ein kleiner Computer, Tobias“, sagte sein Vater, „damit kann man rechnen und schreiben, und auch malen.“
Gebannt starrte der Junge auf die Symbole auf dem Display. Gerade wollte Frankenburg die Datenbank mit den Fondskursen öffnen , als der kleine blaue Fisch aus dem Taskmanager anfing, über den Bildschirm zu schwimmen, und von allen Seiten weitere kleine blaue Fische hinzu kamen, die Luftblasen ausstießen und im Kreis herum schwammen.
„Das ist mir ja noch nie passiert,“ murmelte Frankenburg.
„Tobias, lass den Mu.., äh, den Mann in Ruhe und komm sofort hierher!“ Widerwillig gehorchte der Junge und ging zu seinem Vater.
„Möchten Sie noch Kaffee?“, fragte Frau Landgreber aus der Küche, und Frankenburg sah zu ihr hinüber und bejahte die Frage. Als er wieder auf den Bildschirm schaute, war der Fischschwarm verschwunden. Er beschloß, einfach darüber hinweg zu gehen und erläuterte die verschiedenen Aktienfonds und diskutierte mit den – jetzt sehr freundlichen – Landgrebers die beste Anlagestrategie.
Zum Ende des Gesprächs hoffte Frankenburg auf einen weiteren Vertrag. „Und was möchten Sie für Ihren Sohn tun?“ fragte er und nickte in Richtung des Jungen.
„Für ihn ist gesorgt,“ entgegnete Herr Landgreber lächelnd, und der Berater holte die Anträge heraus.
Als er kurze Zeit später wieder in seinem Auto saß, ließ er sich das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. An jede Einzelheit des Gespräches konnte er sich erinnern, aber wie es im Haus ausgesehen hatte, war ihm entfallen. Bevor er losfahren wollte, blickte er noch einmal zur Haustür zurück, neben der ein Reisigbesen stand.
Er stieg aus dem Auto und ging zurück zum Besen. Erst jetzt fielen ihm die Symbole auf dem Besenstiel auf. Als er sich die Zeichen näher ansehen wollte und nach dem Stiel griff, rutschte der Besen blitzschnell ein Stück zur Seite, und er stieß sich die Knöchel an der Hauswand. Kopfschüttelnd stieg er wieder in seinen Wagen.