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Schraube locker

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23.06.2001
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Schraube locker

Schraube locker
(by Maxinho)

„...Rivaldo am Ball. Rivaldo schießt. Kahn! Kahn kann den Ball nicht festhalten! Ronaldo ist da und da ist es! Das 1:0 für Brasilien durch – wie könnte es anders sein – Ronaldo nach einem fatalen Fehler unseres Nationaltorhüters. Jetzt ist Rudi Völler gefragt, um ...“

Weiter ist es unmöglich dem Kommentator des WM-Finales zu folgen. Zu laut hallen die aufgebrachten Stimmen durch den gewölbeartigen – und dadurch die Akustik unterstützenden – Aufenthaltsraum. Von den hektischen Ereignissen auf dem Fernsehbildschirm verunsichert, über den Rückstand der deutschen Nationalmannschaft verärgert oder einfach nur von der Stimmung der anderen mitgerissen eskaliert die Situation unter den Patienten.
Die einen jubeln, klatschen freudig in die Hände, springen erregt umher und lachen und schreien lauthals. Ein anderer ist aufgesprungen und hat sich an dem den Bildschirm schützenden Gitter bis auf die Höhe des aufgehängten Fernsehapparates heraufgezogen und rüttelt nun impulsiv an ihm, sodass sich schon die ersten Befestigungsschrauben der Aufhängevorrichtung lösen. Auch er schreit ohrenbetäubend.
Wieder ein anderer Patient – der unter Pseudologie leidende Christian Rugel – sitzt zusammengekauert auf der großen, weißen Couch des Raumes, den Kopf zwischen die Knie gesteckt und die Ohren zugehalten. Seine Augen sind zugekniffen, er zittert am ganzen Leib. Plötzlich schreit der notorische Lügner laut auf: „Hört auf! Seid endlich still, oder mein Cousin wird kommen und euch mit seinem nuklearen Raumschiff aus dem Arsenal der US Army abschießen!“.

Im Nebenraum begutachten die leitende Pfleger Frau Schweiger und die männliche Krankenschwester Karl Webber durch die Glasscheiben den Aufruhr. Während die Schweiger mit Hilfe des Durchsagemikros immer wieder zu Besinnung und Ruhe ermahnt, sitzt Karl mit vor dem Körper verschränkten Armen und verfinstertem Gesicht auf einem Plastikstuhl, dem Geschehen den Rücken gekehrt.

„Verdammte Scheiße. Ich hätte nach Baden-Baden gehen können, dort einen ruhigen Wärter-Job verrichten können. Die Bezahlung wäre in Ordnung gewesen und den Umzug von Bayern weg hätte ich auch verkraftet. Aber nein. Ich Vollidiot musste mich ja für St. Veit entscheiden. ´St. Veit ist angesehen` haben sie gesagt. ´St. Veit ist eine vorbildliche psychiatrische Einrichtung` haben sie behauptet. Jetzt hocke ich hier in Pulling, in St. Veit, inmitten von ausflippenden Irren, von denen einer wahnsinniger ist als der andere, und muss...“
Die Schimpftirade Karls wird jäh durch Frau Schweiger unterbrochen. „Jetzt reiß dich mal wieder zusammen und sorge für Ruhe anstatt dich hier auszuheulen.“

Karl schaut die Schweiger mit leerem Blick an. Dann springt er von seinem Stuhl auf und verlässt das Schwesternzimmer. Er betritt energisch den Aufenthaltsraum und packt sich sogleich den am Fernsehgitter hangelnden Patienten. Dank seiner kräftigen Statur hat Webber keine Probleme ihn herunterzuheben und in dessen Schlafzimmer zu tragen. Dort angekommen wirft er ihn unsanft auf das Bett und schnallt ihn an den Händen ans Bettgestell. Der Mann wehrt sich, entschlossen den Fernseher weiter zu bearbeiten. Doch Karl schafft es mit etwas Mühe, die Lederriemen festzuziehen und den Patienten auf dem Bett zu fixieren.
Als Karl zurück in den Aufenthaltsraum gerannt kommt, hat sich die Situation bereits wieder etwas entspannt. Zwei weitere Wärter sind aus dem Nachbargebäude zur Verstärkung gekommen und haben die meisten Patienten beruhigen können. Einer von ihnen hat auch den Fernseher auf seichtere Unterhaltung umgeschaltet – irgendein alter Disney-Film flimmert nun auf dem Bildschirm und alle Insassen erfreuen sich an den bunten Bildern und fröhlichen Tönen.
Nur der weinerliche Christian sitzt noch immer total verkrampft auf der Couch und schreit umher.

„Es ist doch ... ich meine, es ist doch nicht zu viel verlangt, einen Ferrarri zu bekommen. Ich meine, es ist doch nicht ... es muss doch möglich sein, einen Panzer hierher zu bekommen. Man kann mir doch nicht ... ich glaube nicht, dass ... dass ... einen scheiß Ferrarri-Panzer! Wieso bekomme ich keinen scheiß roten Ferrarri-Panzer wie mein japanischer Großcousin einen hat?!“

Karl Webber versucht sanft auf Rugel einzureden, indem er ihm erklärt, wie schwer es ist, einen Ferrarri-Panzer zu bekommen. Vor allem, wenn er rot sein soll. Plötzlich kommt die Schweiger aus dem Schwesternzimmer gestürmt, in der linken Hand eine nicht zu kurze Spritze haltend. Geradewegs auf Rugel zulaufend empört sie sich lautstark: „Mir langt`s. So geht das nicht, Christian. So geht das nicht. So muss ich Mr. Nadel hier um Hilfe bitten.“ Rugel ist verstummt und blickt der Schweiger mit weit aufgerissenen Augen entgegen. Verzweifelt versucht er, davon zu krabbeln, doch die beiden dazu gekommenen Wärter halten ihn fest.

Karl betrachtet konsterniert das Treiben seiner Kollegen. „Das ist doch nicht nötig, Eva. Wir können ihn auch so beruhigen. Lass` das doch sein.“

Doch die Schweiger hat die Nadel bereits in Rugels Arm gestochen und die Flüssigkeit eingeflößt. Schnaufend zieht sie die Nadel wieder heraus. Kurz fährt sie sich durch die aus der Form geratenen Haare, dann ordnet sie den zwei Wärtern an: „Jetzt bringt ihn zur Phanbox.“ Noch energischer als zuvor versucht Webber die Schweiger umzustimmen. „Eva! Das ist nicht nötig. Die Spritze genügt. Siehst du nicht, er ist bereits benommen.“ Das stimmt. Christian Rugel hängt bewegungslos in den Armen der beiden Wärter und starrt unkontrolliert umher.

„Rein mit ihm! Jetzt!“

Die Wärter schleppen Rugel den Gang entlang. Die Schweiger schaut zufrieden hinterher, bis sie um die Ecke marschiert sind. Anschließend dreht sie sich zu Karl um und erwidert seinen vorwurfsvollen Blick mit gleichgültiger Kälte. Nachdem sie dann ins Schwesternzimmer entschwunden ist, wendet sich Karl ab und schlendert durch den Aufenthaltsraum. Alle Patienten schauen sich in Ruhe den Zeichentrickfilm an, unbeeindruckt von den Ereignissen, so scheint es. Karl geht bis ans Fenster und schaut nach draußen. Die Mittagssonne scheint genau vor der Fensterreihe und lässt Webber die Augen zusammenkneifen. Auch lässt sie den im Süden liegenden See des Klinikum-Areals strahlend funkeln.

Neben Karl steht unscheinbar Xavier Sperlingen, auch aus dem Fenster schauend. Sein kalter, teilnahmsloser Blick fixiert einen Vogelschwarm am blauen Himmel, der sich wie ein einzelnes, riesiges Flugtier durch die Lüfte bewegt und einen Schatten auf den See wirft. Starr steht Xavier vor der Scheibe, nur seine Finger betasten das Gitter vor dem Fenster und wandern von Masche zu Masche.

„Hey, Xavier. Warum schaust du nicht wie alle anderen Fernsehen?“

Xavier reagiert nicht auf Karl, lediglich sein Griff um die Gittermaschen verfestigt sich.

„Hör mal, du bist der einzige, der nicht in die Glotze schaut.“

Gelangweilt wendet Sperlingen seinen Kopf Karl zu. Dann hebt er seinen Arm und zeigt auf einen älteren Mann, der unter dem Fernseher steht und der rhythmisch mit seiner Hand an die Wand klatscht und dabei leise vor sich hin murmelt.

„Bin ich nicht.“
„Alfredo zählt nicht. Alfredo ist ein alter, kranker Mann, der seinen Lebensabend hier verbringen wird. Du solltest dich aber der Gruppe anschließen und dich einbringen.“

Von der Seite brüllt ein Patient spöttisch zu den beiden Außenstehenden: „Nee, lass` mal, der bbb..bb..brr...braucht sich nnn.nnnii..niicht einbringen.“

Erzürnt schnellt Xavier herum und macht einen Schritt auf den Spötter zu. Sofort hält Karl ihm den Arm vor die Brust und ermahnt ihn zu friedlichem Verhalten. Xavier scheint sich zu besinnen, doch plötzlich versucht er sich von Karl loszureißen und nach vorne zu schnellen.

„Hör auf, Xavier. Lass` ihn doch in Ruhe.“
„Lass` mich!“

Während Xavier hysterisch versucht, sich vom festen Griff Karls zu lösen, bemerkt die Schweiger im Schwesternzimmer den Vorfall und macht sich mit zorniger Miene auf den Weg nach draußen.

„Beruhige dich.“
„Verdammt, lass` mich. Der Fernseher.“
„Was soll das denn, bleib` hier.“
„Lass` mich! Der Fernseher! Der Fernseher, du Idiot!“
„Hey, jetzt reicht es! Komm wieder runter!“

Mit einem kräftigen Stoß drückt Karl Xavier an die Wand und hält ihn am Kragen fest. Auf einmal ertönt ein lauter, dumpfer Knall. Der Fernseher, dessen Schrauben vom Gitterkletterer von vorhin gelockert waren, ist heruntergefallen und hat Alfredo auf den Kopf getroffen. Sofort eilt Karl zu ihm und begutachtet die Wunde an Alfredos Stirn. Sperlingen hat sich wieder dem Fenster zugewendet und lässt seine Finger erneut über das Gitter wandern. Finster ist sein Gesichtsausdruck. Geballt ist seine Faust, die er wuchtig ins Gitter rammt. „Der scheiß Fernseher fällt herunter, Karl“ zischt Xavier.

„Nein, Eva. Er wollte nicht...“

Die Schweiger ist zu Xavier herangetreten und hat ihm eine Injektion in den Arm verpasst. Erschrocken schnellt Sperlingen herum, doch bevor er überhaupt das just Geschehene realisiert, fällt er zu Boden und kann sich nur schwer bei Bewusstsein halten.

„Karl, bring` Sperlingen zur Phanbox. Und heb` dir diesmal dein Mitgefühl für jemand anderes auf. Rein mit dem Irren in die Phanbox. Und Rugel kommt wieder auf sein Zimmer. Verstanden?!“

Webber hat sich aufgerichtet und steht der Schweiger gegenüber. Fragend, beschwörend, kritisch, durchlöchernd blickt er sie an, doch ihre Erwiderung ist unüberwindbar. Karl sucht die Augen Xaviers, doch der blickt unkoordiniert im Raum umher, die Augen halb geschlossen.

„Verstanden, Frau Schweiger.“

Eva Schweiger sammelt sich und trottet ins Schwesternzimmer, während sich Karl den Verurteilten Sperling schnappt. Er trägt ihn den Gang entlang, um die Ecke und schließlich zum Zimmer Nr. 61.

Zimmer 61, die Phanbox. Ein an allen Stellen gepolsterter Raum, der kein Licht und keinen Schall hinein oder heraus lässt. Eine Blackbox, doch mit einem nicht zu unterschätzendem Gimmick. Die einströmenden Gase katalysieren die Wirkung der Spritze und beeinflussen das Gehirn des Eingesperrten.
Als Karl die Tür zu Zimmer Nr. 61 öffnet, liegt Christian Rugel total besinnungslos inmitten des Raumes. Webber setzt Xavier neben der Tür ab und zieht anschließend Chris vor selbige. Rugels Muskeln zucken rhythmisch, ansonsten ist er ohne Regung. Nun schleppt Karl Xavier in die Phanbox und legt ihn zu Boden. Er kniet neben ihm, vergewissert sich seines Zustandes. Dann verlässt er die Box und schließt die Tür.

 

Hallo Storyteller,

im Prinzip gefällt mir Deine Geschichte. Sie ist interessant und ich habe sie gerne gelesen.

Im Prinzip...:rolleyes:

Was mir nicht gefällt, ist der Schluß. Irgendwie habe ich auf einen "Knaller" gewartet. Die Schwester ist fies, der Wärter ist menschlich, da dachte ich, entweder befreit er sie oder diese Phanbox macht "etwas ganz Schlimmes" ;).

Eins noch:

Anschließend dreht sie sich zu Karl um und erwidert seinen stechenden Blick mit einem ebenso stechenden Blick
Hier würde ich vielleicht eher schreiben
Anschließend dreht sie sich zu Karl um und erwidert seinen stechenden Blick in der gleichen Art
oder
...dreht sie sich zu Karl um und beide fixieren sich mit stechenden Blicken

VG

Petra

 

Hi Petra.

Herzlichen Dank, dass du meine Geschichte gelesen hast. Auch für deine Anmerkung bin dankbar, lassen sie mich doch realisieren, dass ein etwas "pompöserer" Schluss wirksamer gewesen wäre. Auch die von dir angeführte sprachliche Unzulänglichkeit empfinde ich genauso und werde sie ändern.

Ciao,
Maxinho.

 

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