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Schnitter
Schnitter
Nichts war zu sehen, als gehöre dieser Sinn nicht mehr zum menschlichen Körper, doch allgegenwärtig war der Wald. Sein modriger Geruch und dieses Gefühl der Ewigkeit, den er vermittelte, war ein Bestandteil des Denkens.
Matthew irrte schon eine ganze Weile ziellos umher und stieß dabei immer wieder gegen Bäume und Sträucher wobei er sich unzählige Prellungen und Kratzer zuzog. Er spürte, wie ihm warmes Blut über das Gesicht rann und in seinen nutzlosen Augen brannte. Gellende Schreie hallten durch das dichte Unterholz. Die Schreie seiner Freundin, seiner Kameradin, die um ihr Leben fürchtete.
„Nehmt sie weg von mir! Oh Gott, sie sind in mir! Nehmt sie doch we....!“
Ihre Schreie gingen in einem gutturalen Geräusch unter und dumpf klang es wider, als ihr filigraner Körper zu Boden ging und der Tod sie holte.
Das durfte alles nicht wahr sein. Ein Gedanke, der wieder und wieder durch Mathews Kopf ging. Ein Gedanke wie ein Messerstich. Schmerzhaft und unausweichlich.
Er drückte sich fest gegen einen großen Baum, den er in seinem Rücken spürte und ließ sich daran niedergleiten. Die Hände schützend vor sein Gesicht geschlagen wartete er und erinnerte sich an ihre Ankunft. An das, was ihnen widerfahren war. Das Geschehene verwandelte sich vor seinen Augen in ein bebildertes Buch, dass Seite um Seite umschlug, weil es seine Geschichte noch einmal erzählen wollte. So als hätte Mathew keine Kontrolle mehr über seinen eigenen Verstand.
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Langsam zog die Dämmerung über dieses herrliche Land, das er bald sein eigen nennen würde. Marius war als Erstgeborener direkter Erbe, des herzoglichen Besitzes. Die englischen Wälder glichen für ihn einem riesigen Spielplatz, denn hier wurden Geschichten erzählt und Helden geboren. Schon als Kind, noch bevor er für Jahre nach Frankreich musste, hatte er sich immer wieder hinausgeschlichen und zwischen den dunklen Ästen und Sträuchern gespielt. Er war ein Held, der die Feinde des Königs in die Flucht schlug und genauso verfuhr er mit bösen Geistern, die es sich in den Sinn gesetzt hatten, seine Familie des Nachts heimzusuchen.
Nun war er aus Frankreich zurück und er genoss jede Sekunde, die er durch den alten Wald ritt. Der Duft von Moosen und Holz, roch für ihn besser als jedes Festmahl und so machten sich seine Begleiter von Zeit zu Zeit darüber lustig, wie gierig und übertrieben er die Luft in sich hineinsog. Mathew war der schlimmste von ihnen, denn als engster Freund des jungen Adligen, traute er sich das meiste. Immer wieder kam er nach vorn neben seinen Herren geritten und hielt ihm ein Stück morsches und schimmliges Holz unter die Nase.
„Na. Riecht das nicht gut?“ Mathew konnte sich jedes Mal darüber amüsieren, auch wenn er der einzigste war. Marius selbst, tat es nur mit einem netten Lächeln ab, da er genau um die humoristische Ader seines Gefolgsmannes und Freundes wusste.
Es waren jetzt fünf Jahre her, als Marius, Mathew das Leben rettete. Ein Haufen Vogelfreier hatten den Zimmermannsohn überfallen. Marius beobachtete das Schauspiel mit vielen anderen aus einer Taverne heraus und niemand außer ihm, traute sich einzuschreiten. Der Umgang mit dem Schwert war ihm seit seiner Kindheit gelehrt worden und so schritt Marius als einzigster mit gezogener Waffe hinaus und richtete die Klinge direkt auf die Angreifer. Sie traten sogleich die Flucht an, denn an diesem Abend trug er das Wappen seiner Familie auf der Brust. Mathew gelobte ihm Treue und schwor mit seinem Leben das seines Retters zu schützen. Er lehnte geehrt ab, doch als der Zimmerer darauf bestand, tauschte er seinen Schutz gegen den seiner Frau ein. Mathew stimmte zu und war seit diesem Zeitpunkt immer an der Seite der jungen Jeanette anzutreffen. Als Marius und seine Frau Frankreich verließen, schloss sich auch Mathew der Gruppe, ebenso wie der kräftige und sprachlose Deutsche Michael und der Waliser Robert an. Beide hatten sich mit dem wohlgeborenen Paar angefreundet und gehörten seit diesen Tagen auch zu ihrem Gefolge.
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Sein Körper zitterte und wurde in seinem eigenen Schweiß gebadet, als die Seiten des Buches immer weiter blätterten und der unausweichliche Tod immer näher kam. Es waren Märchen und Sagen, die über das, was er soeben erlebte, erzählt wurden, doch nie hätte er daran gedacht, dass auch nur Teile dieser Erzählungen einmal der Realität entsprechen konnten.
Leise Schritte näherten sich seinem Standpunkt und er bildete sich ein wie die schwarzgewandete Silhouette des Schnitters durch die Nacht auf ihn zu wandelte. Wie sich seine schweren Stiefel in den feuchten Waldboden drückten und seine Gegenwart sämtliches Leben verjagte. Keine Vögel, keine Nager, nur sie beide.
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Mathew warf einen neugierigen Blick zu Jissabelle hinüber, denn ihr blaues Kleid war ein wenig verrutscht, sodass er einen scheuen Blick auf ihre bleiche Haut werfen konnte. Sie schien im Fackelschein zu funkeln, solche Reinheit besaß sie.
Michael und Robert hatten die Fackeln entzündet, denn die Nacht brach herein und verschluckte das Licht der Sonne. Michael ritt nun voran und aus den Nüstern seines braunen Pferdes quoll der warme Atem in Stößen hervor und zerstreute sich in der kalten Nachtluft. Robert übernahm die Nachhut und passte auf, dass weder Wegelagerer noch anderes Gesindel der Gruppe zu nahe kamen, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Jissabelle hatte mittlerweile die Blicke ihres Begleiters bemerkt, vermied es aber ihr Kleid wieder an die richtige Stelle zu rücken und genoss die lüsternen Blicke, die auf ihr lagen. Auf den Lippen Lisbeths, die direkt neben ihr ritt, spielte ein Lächeln, denn sie hatte die ganze Szenerie genauso erfasst.
„Wir sind bald da. Es ist ein altes Herrenhaus mitten im Wald. Sie werden uns ein Nachtlager bieten, wenn ich ihnen meine Herkunft schildere.“ Marius hatte sich im Sattel herumgedreht und sprach zu der gesamten Gruppe, doch sein Blick richtete sich ausschließlich auf Jeanette, die sich schüchtern ihre Hand vors Gesicht hielt, um ihre Errötung zu verbergen.
Und er behielt recht, denn es dauerte nur noch wenige Minuten, bis das alte Gemäuer in einer Lichtung vor ihnen aufragte. Trotz seines üppigen Pflanzenbewuchs war seine Größe und Architektur beeindruckend, denn weitausladende Anbauten verliehen dem Gebäude das ästhetische Äußere einer Kirche.
Sie saßen ab und hielten einen Augenblick inne, um den Anblick des Hauses zu genießen, denn der Ritt war lang und anstrengend und besonders die Frauen freuten sich auf eine erholsame Nachtruhe. Marius und Robert gingen voran und ihre Anwesenheit den Bewohnern anzukündigen. Eine große hölzerne Tür, gerahmt von Ornamenten und anderen Verzierungen hieß sie willkommen. An hier hing ein großer eiserner Ring, der bei Benutzung laut und dumpf durch das komplette Haus hallte. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die linke Hälfte der Doppeltür und das Gesicht einer älteren Frau blickte aus dem Inneren hinaus in die Dunkelheit. Der Schein der Fackel fiel in ihr Gesicht und offenbarte die einstige Schönheit, welche diese Frau besessen haben musste, die nun unter grauen Strähnen und ebenso grauen Augen litt.
„Guten Abend. Mein Name ist Marius. Aus dem Geschlecht der Harbinger. Ich bitte für mich und mein Gefolge um eine Unterkunft für diese Nacht. Wir haben eine lange Reise hinter uns und sehnen uns nach ein wenig Schlaf.“
Die alte Frau antwortete mit einer Stimme, die nicht zu ihrem Äußeren passte. Sie klang jung, fast wie ein Kind.
„Harbinger sagtet ihr. Dann sei es mir nicht erlaubt, euer Gesuch abzulehnen.“
Marius bedankte sich mit einer angedeuteten Verbeugung und winkte seine Begleiter heran.
„Lasst eure Pferde dort stehen. Man wird sich um sie kümmern. Legt Gepäck und Waffen am Eingang ab. All das werdet ihr nicht brauchen. Wir möchten euch unsere Gastfreundschaft anbieten.“ Ein alter Knecht eilte herbei und führte die Tiere an ihren Zügeln fort.
Einer nach dem andern bedankte sich und trat in das Haus. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, war es als würden sie zu Hause sein. Jeder hatte das Gefühl der Geborgenheit und so ließen sie sich gleich von ihrer Gastgeberin in den Speisesaal führen. Vorbei an Skulpturen und Säulen, die sich kunstvoll bis zur Decke schraubten. Es war warm, denn überall brannten kleine Feuer in stählernen Körben und hölzerne Fackeln und doch roch die Luft nicht nach Qualm und Ruß, sondern nach Blüten und duftenden Ölen.
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Mathew erinnerte sich an dieses Gefühl der Geborgenheit, als wäre er zu Hause und er dachte an das köstliche Essen und er erinnerte sich auch, dass genau damit alles angefangen hatte. Innerhalb eines Augenblicks war es um die Sicherheit und die Klarheit ihres Verstandes geschehen. Bei dem Wort Verstand musste er Lächeln und er zwang sich sein geistiges Auge von den Bildern des Buches zu lösen und in hinaus in die Dunkelheit zu spähen. Noch immer hörte er die Schritte und noch immer sah er die Schemen des Schnitters.
Wachte er als Kind aus Alpträumen auf, zwang er sich immer einen klaren Gedanken zu fassen und die Realität um ihn herum wahrzunehmen. Doch hier hatte es keinen Sinn, denn dies war kein Traum und einen klaren Verstand zu erzwingen war nicht möglich. Gegen das Schicksal, vermag es auch noch so schrecklich zu sein, kann man sich nicht wehren.
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Niemand außer der alten Frau hatte sich während des Essens zu ihnen gesellt und alle hofften, dass ihre Pferde gut versorgt seien. Jedoch wollten sie sich auch nicht nach ihnen erkundigen, denn das würde die Ehre des Gastgebers verletzen.
Marius nahm einen letzten Schluck Wein, dessen holziger Geschmack ihn gleich wieder an die Wälder seiner Kindheit erinnerte. Er stellte den Kelch auf den massiven Eichentisch und blickte über die Tafel in die zufriedenen Gesichter seines Gefolges. Ansammlungen von Kerzen; ein Meer aus kleinen flackernden Lichtern ließ die bunten Teppiche und Gemälde noch edler wirken. Im Geiste beschloss er, diesem Haus seine Aufwartung zu machen, wenn er sein Erbe antreten würde. Er blickte herüber zu ihrer Gastgeberin.
„Danke. Mehr kann ich leider nicht sagen. Und auch sonst kein Wort vermag zu sagen, was ich – wir fühlen.“
Die Frau lächelte, während sich ihr fransendes, schwarzes Kleid zu bewegen schien.
„Wir sind es, die danken müssen.“
Dann öffnete sich eine Tür und weitere Frauen betraten den Saal.
Zuerst fragten sich alle, was es sei, dass an den acht Frauen merkwürdig erschien und dann traf es alle wie ein Schlag. Es waren alles die Selben. Die selben Gesichter, die selben Körper.
Marius sprang auf. „Was geht hier vo.....“
Noch bevor er den Satz beenden konnte, spürte er eine Klinge an seinem Hals. Eine der Frauen war von hinten geräuschlos an ihn herangetreten und bedrohte ihn nun mit einem kurzen Dolch. Der kalte Stahl schnitt ihm in die Haut und ein feines Rinnsal roten Blutes floss an seinem Hals herab. Nur einen kurzen Augenblick lang waren Michael und Robert wie gelähmt, dann rückte ihr Bewusstsein wieder an die Stelle des Schocks. Michael warf sich auf seinem Stuhl herum, Teller und Krüge zersplitterten laut auf dem Boden. Mit einem gewaltigen Satz war der Deutsche auf den Beinen und warf sich mit seinem ganzen Körper der Frau, die seinen Herren bedrohte, entgegen. Die Alte und schwächliche Person vermochte nichts dagegenzuhalten und ging unter dem kräftigen Leib zu Boden. Derweilen war auch Robert auf den Füßen und stieß die Frau hinter ihm nieder, während ein gleichzeitig ausgeführter Tritt eine zweite niederstreckte.
„Stop!“ Ein heller Schrei durchschnitt die Luft. Der Schrei eines Kindes.
Es war ihre Gastgeberin, glaubte Marius, die einen Dolch am Halse Jeanettes hielt. Die junge Frau zitterte und weinte. Die Angst um ihr Leben stand in ihren Augen geschrieben, denn das satte Grün darin schien zu flackern. Mathew schlich langsam auf sie zu, doch er kam nicht weit, denn ein alter Frauenkörper baute sich bereits nach wenigen Schritten vor ihm auf und versperrte den Weg.
„Ihr solltet euch nicht länger wehren.“
„Und warum sollten wir das nicht tun?“ schrie Michael ihr entgegen.
Die Antwort kam in einem erstickten Schrei, als der Dolch tiefer in Jeanettes Hals drang.
„Nun. Ihr seid zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wir sind ein Zirkel und wir brauchen euch dringender als ihr denkt.“
„Hexen!“ entfuhr es Robert abschätzig. „Wozu solltet ihr uns schon brauchen.“
„Das werdet ihr bald erfahren. Und du wohl zuerst, damit deine Neugierde alsbald befriedigt werden kann.“ Die Alte nickte einer der ihren zu. Ohne ein weiteres Wort nahm sie Robert wie eine Mutter ihr Kind bei der Hand und führte ihn weg. „Tu was sie wollen!“ beschwor Marius den Waliser, der daraufhin ohne Gegenwehr der Hexe folgte.
Die Alte spielte mit der Klinge am Körper Jeanettes herum. Der Stahl strich ihr über den ganzen Körper, vom Kinn, hin zwischen ihre Beine. „Er wird sich über ein Geschenk wie euch freuen.“
Marius konnte nichts anderes tun, als den Bewegungen des Dolches zu folgen.
„Ihr wisst nicht wer ich bin.“
„Oh doch. Das wissen wir. Immerhin hattet ihr euch ja vorgestellt.“
„Dann wisst ihr auch, dass dies ein Nachspiel haben wird.“
„Das glaube ich nicht.“ Der erstickte Laut eines Sterbenden drang herein. Es war Robert.
Mathews Augen glitten unsicher hin und her. Michaels Muskeln waren angespannt und auf Marius Stirn zeichneten sich dicke Adern ab. In seinem Kopf arbeite es. Robert war tot, oder verletzt und seine Frau wurde bedroht. Er musste handeln und er sah in den Augen seiner Begleiter, dass sie das selbe dachten. Wenn er jetzt handeln würde, konnte er fest mit einer direkten Reaktion Michaels und Mathews rechnen. Doch die beiden Frauen waren ein Risiko. Ihr Verhalten war nicht vorauszusagen und vielleicht würde ihre Reaktion das Leben von allen anderen gefährden. Aber Marius kam zu dem Entschluss, dass er dieses Risiko eingehen musste und so plante er in einem Sekundenbruchteil das weitere Vorgehen.
Blitzschnell griff er einen der schweren Kerzenständer auf dem Tisch und warf ihn gezielt der Alten entgegen. Heiße Wachstropfen schleuderten wie Regen durch die Luft, während die kleine Flamme der Kerze im Luftzug erlosch. Alles geschah so schnell, dass eine Reaktion der Hexe ausblieb. Sie schaffte es zwar ihren Kopf zur Seite zu drehen und so dem Ständer auszuweichen, doch das heiße Wachs legte sich wie brennendes Öl auf Jeanettes Gesicht. Sie schrie auf und ohne auf die Klinge, die mittlerweile wieder an ihrem Hals verweilte, zu achten, drehte sie sich vor Schmerzen weg. Michael erkannte die Gunst dieser Ablenkung und hechtete heran. Mit seinen Armen umschlang er Jeanettes Hüften und riss sie mit sich fort, so dass der Stich der Hexe im Leeren landete. Marius holte aus und sein Faustschlag traf sie mitten ins Gesicht. Ohnmächtig und blutüberströmt ging die Alte nieder.
Michael lag immer noch schützend über seiner Herrin und sondierte den Saal. Zwei Hexen lagen bewusstlos am Boden, eine dritte hatte mit Robert den Raum verlassen. Die restlichen fünf hatten sich zusammengeschlossen und kamen nun gemeinsam auf die Gruppe zu. Jissabelle und Lisbeth kauerten hinter den beiden Männern, die sich nun gegen die anrückenden Hexen, wie eine kleine Mauer, nebeneinander stellten. Michael zog einen der schweren Stühle heran und hielt ihn vor sich, während Marius inzwischen einen der großen Kerzenständer wie ein Schwert vor sich hielt., doch die Frauen ließen sich nicht abschrecken und gingen weiter. Nur noch wenige Schritte und die beiden Parteien prallten aufeinander.
„Das sind Frauen. Wir können doch nicht...“
„Keine Frauen. Hexen! Schlag drauf!“ In Marius brannte der Zorn und mit einem Blick auf seine weinende Frau und die verängstigten Zofen, wurde dieser Zorn noch weiter geschürt. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden sprang er auf die Hexen zu und wirbelte den Kerzenständer in ausschweifenden Kreisen herum. Drei Frauen traf er fast gleichzeitig. Die anderen beiden entgingen seinem wütenden Angriff nur knapp und einer von ihnen gelang es, sich in eine günstige Position zu bringen. Ihr Dolch bohrte sich tief in den Oberschenkel und Marius ging keuchend in die Knie. Die zweite Frau war direkt über ihm und hielt ihre Klinge weit erhoben, bereit den kalten Stahl tief in sein Fleisch zu treiben. Doch Michael schmetterte ihr den Stuhl gegen die Seite und ihr zierlicher Körper wurde wie Papier hinweggefegt. Mit einer geschickten Drehung, die in ihrer Ausführung einem Tanz glich, war Michael bei der zweiten Hexe, die ohne Waffe auf dem Boden kauerte. Er hatte immer noch Bruchteile des Stuhl in der Hand. Das Stuhlbein drang ohne Widerstand in den Körper der Frau ein und beendete ihr Leben innerhalb eines einzigen Augenblicks.
Keine der Hexen war noch auf den Beinen. Michael beugte sich zu seinem Herren herab und blickte besorgt auf den Dolch in seinem Bein. Mit einem kräftigen Zug, glitt der Stahl aus dem Fleisch heraus und wurde von Fontänen aus Blut begleitet. Mit seinem Gürtel band er das Bein ab und der Strom von Blut verebbte langsam. Er stützte Marius und beide gingen zu den Frauen hinüber.
„Wo ist Mathew?“ Marius drehte sich im Kreis und suchte den ganzen Saal ab, aber von seinem Freund war keine Spur zu entdecken. Von hinten drang Jissabelles Flüstern heran: „Als Jeanette h... hier wa r, rannte er direkt – hinter Robert her...“ Ihre Worte gingen in einem Schluchzen unter.
„Du bleibst hier. Wenn sich auch nur eine dieser verdammten Frauen hier rührt, schlachte sie ab. Und ich meine Wirklich schlachten. Kein Mitleid, denn du wirst auch keins erfahren.“
Michael nickte und blickte dem humpelnden Marius hinterher, wie er im fahlen Fackelschein verschwand.
Er durchschritt die gleiche Tür, die auch die Hexe und Robert benutzt hatten und die gleiche, durch die wahrscheinlich auch Mathew geschritten war. Dahinter war es dunkler, als im Festsaal und seine Augen brauchten einen kurzen Moment lang, um sich an die Düsternis zu gewöhnen. Es war ein großer Raum, in dessen Mitte noch ein weiterer Raum stand. An den Wänden prangten Runen und Symbole. Schriften und Hieroglyphen, die er nicht entziffern konnte.
Er entdeckte Mathew, wie er scheinbar ziellos umherirrte. Er suchte etwas und zu seinen Füßen lag der leblose Körper der Hexe.
„Mathew! Was ist los?“
„Ich brauch was um die Tür aufzubrechen. Ich hab dahinter was gehört. Ich glaub es ist Robert.“
Marius humpelte heran, die Lippen zu einem schmerzerfüllten Gesicht verzogen. Sein Blick traf wieder auf einen jener Kerzenständer, die anscheinend überall im Haus verteilt waren.
„Nehmen wir den da.“ Auch Mathew hatte ihn mittlerweile entdeckt und war schon auf dem Weg, die schwere Tür zum Raum im Raum mit dem Ständer aufzubrechen. Er stemmte das stählerne Ende in die groben Fugen und drückte mit seinem ganzen Gewicht dagegen an. Marius warf sich mit hinein und nach einen lauten Knacken brach das Schloss und ein kleiner Lichtstrahl fiel durch den geschaffenen Spalt nach draußen.
„Halt! Das könnt ihr nicht tun!“
Eine der Frauen kam wild gestikulierend herbeigerannt. Dicht gefolgt von Michael, der das blutgetränkte Stuhlbein vor sich her schwang.
„Warte! Warum können wir das nicht?“
„Ihr wisst nicht was dahinter ist!“
„Dann erklärt es uns!“
„Ja. Aber wartet!“
„Wenn dies nur ein weiteres Spielchen von euch ist, Hexe, werdet ihr brennen wie schon so viele vor euch.“
Die Alte kam keuchend heran und blickte Marius tief in die Augen. Sie flehten ihn an, auf ihre Worte zu hören. Worte, die nun in kindlicher Stimme aus ihr heraussprudelten.
„Unser Zirkel hatte seit Beginn nur ein einziges Ziel. Ewiges Leben. Und durch das Studium alter Schriften fanden wir auch einen Weg. In Sagen und Erzählungen wird das Ende des Lebens immer durch den Tod in Menschengestalt dargestellt. Ein Mensch, gehüllt in einen schwarzen Umhang. Mit Sense und bleichem Gesicht.
Das Ende ist der Tod und so nahmen wir diese unsichtbare Macht und entzogen sie unseren Körpern. Wir bannten sie in die Gestalt eines Menschen und schlossen ihn ein. Der Tod konnte uns nicht mehr erreichen, doch bald nahm er auch die Züge eines Menschen an. Der Wahnsinn belegte seinen Geist und der Durst nach Rache erlaubte ihm nicht mehr zu ruhen. Wir mussten also einen Weg finden, seine Gier zu befriedigen. Also brachten wir ihm Opfer. Er konnte seiner Arbeit nachgehen und wurde so friedlich.“
„Was ihr uns da erzählt klingt ein wenig weit hergeholt. Und ihr glaubt doch wohl nicht wirklich, dass wir daran glauben, dass hinter dieser Tür der leibhaftige Tod haust.“
Mit diesen Worten und einem kräftigen Ruck an dem Kerzenständer, brach die Tür nun vollständig auf und das Licht blendete ihn, so dass er blind nach hinten strauchelte.
„Nein! Was habt ihr getan!“ Die Hexe lief schreiend davon. Marius und Michael hingegen betraten den Raum und blinzelten gegen die gleißende Helligkeit an. Unzählige Feuer brannten darin, so dass ein Meer aus Schatten und Licht sämtliche Möglichkeit des Erkennens nahm.
„Robert. Bist du hier?“
Umrisse schälten sich aus dem Licht hervor und die beiden Männer bewegten sich instinktiv zurück, als würde eine Bedrohung von dieser Person ausgehen, die auf sie zukam und sie waren sich sicher, dass es nicht Robert war.
Die Umrisse wurden deutlicher und bald war die Gestalt zu erkennen. Von der Statur her war es ein Mann, doch weder Gesicht noch Körper war zu erkennen, denn alles war unter einem weiten, schwarzen Mantel verborgen. Eine Mischung aus Umhang und Mönchskutte.
Der schwarze Mann ging auf Michael zu und hob seine rechte Hand. Knochige Finger reckten sich aus dem weiten Saum des Mantels hervor und bleiben dicht vor Michaels Gesicht stehen. Endlos schienen sie dort zu verharren, bis kein Atem mehr aus seiner Lunge drang. Der Deutsche sackte zusammen und war tot. Sein Herz schlug nicht mehr und sein Bewusstsein verschwand im Dunkel der absoluten Stille.
Marius war starr vor Schreck, denn die alte Hexe hatte die Wahrheit gesagt. Es war der Tod, der Schnitter, der nun vor ihm stand und sich bereits das Leben Michaels und Roberts geholt hatte.
„Mathew! Lauf zu den Frauen und bring sie hier raus. Schnell!“
Ohne zu fragen machte sich sein Freund auf den Weg. Er hatte geschworen das Leben Jeanettes zu beschützen und lies seinen Herren allein. Marius und der Schnitter standen sich nun gegenüber und blickten sich an. Marius versuchte die Augen der Gestalt zu entdecken, doch unter dem Schwarz seiner Kapuze schien nur die Leere zu herrschen.
In diesem Moment kam eine weitere Hexe hereingerannt und stockte, als sie ihren Gefangenen in Freiheit sah. Ihre Augen schrieen vor Angst, etwas, dass ihre Kehle nicht mehr tun konnte, denn wie von Geisterhand rollte der Kerzenständer den Raum herunter, direkt in die Füße der Hexe. Sie stolperte und fiel in ihren eigenen Dolch, den sie in der linken Hand hielt.
Die Erkenntnis traf Marius wie ein Schlag. Der Tod würde sie alle holen. Fliehen war zwecklos, denn trotz seiner menschlichen Gestalt konnte sich sein Werk in den groteskesten Formen manifestieren. Aber er würde nicht aufgeben. Er lief um sein Leben, hinaus aus dem verfluchten Gefängnis, durch den Saal hindurch, in die freie Natur, die in der tiefen Nacht schlief und ruhte.
Draußen traf er auf die Frauen und Mathew, alle in Tränen aufgelöst. Jissabelle schluchzte und zeterte, was denn los sei. Doch sie war kaum zu verstehen. Die anderen beiden weinten nur jämmerlich und Mathew vermochte niemanden zu trösten, egal was er tat.
Marius sah seine Frau an, wie sie vergehend auf dem Boden kauerte. Irgendwas regte sich in ihm bei diesem Anblick. Die Hexe erzählte, er währe ein Mensch. Menschen kann man töten, auch wenn sie tief in ihrem Inneren etwas anderes sind. Er musste seine Frau beschützen. Nur das war noch wichtig. Er wand sich an Mathew: „Flieht! Lauft in den Wald hinaus und bleibt nicht stehen!“
„Was hast du vor?“
„Lauft!“
Mathew half den Frauen hoch und schubste sie in die Tiefen der Dunkelheit. Hinein in den Wald.
„Du bist ein Narr!“
„Kann sein. Aber dann ihr König.“ Mit einem süffisanten Lächeln verschwand Marius ein zweites Mal, während Mathew mit schrecklicher Gewissheit den Frauen in den dunklen Wald hinein folgte.
Das zweite Mal in dieser Nacht betrat Marius die Eingangshalle mit ihren Säulen und Skulpturen durch das große Tor. Er unterdrückte die Schmerzen in seinem Bein, er unterdrückte die Gedanken an seine gefallenen Freunde und an jene, die noch in Angst im tiefen Wald umherirrten. Ihre Waffen lagen noch immer dort, wo sie sie abgelegt hatten und dort befand sich auch sein Schwert, dass nun wie die Hoffnung selber in seinen Händen lag. Schreie gellten durch die Mauern. Eine Hexe nach der anderen wurde von ihm geholt und mit jedem nähernden Schritt des Todes wurden auch die Stimmen der Hexen älter. Man konnte hören, wie ihr Leben dahinglitt und das Alter sie in Gestalt des Schnitters holte.
Eine Tür pendelte langsam auf und durch sie hindurch kroch der geschundene Körper der letzten übrig gebliebenen Hexe. Und hinter ihr tauchte der schwarze Mann auf und strich mit seiner Hand über den Rücken der Frau. Bewegungslos bleib sie liegen und rührte sich nicht mehr. In seiner anderen Hand hielt er eine große Sense, und es war als würde vor Marius ein lebendes Bild entstehen. Doch dies war die Wirklichkeit.
Er streckte sein Schwert dem Tod entgegen. Dieser nahm die Sense, die zum Teil auf seiner Schulter ruhte und hielt sie vor sich. Das Bild eines Bauers schoss Marius in den Kopf, der begann sein Feld zu ernten.
Die beiden Männer gingen aufeinander zu...Unausweichlich...
Die Klingen kreuzten sich und Funken flogen weit in den Raum hinein. Jeder Schlag wurde von einem metallischen Kreischen begleitet. Marius schlug so hart und präzise, wie er nur konnte, doch jede Bewegung schien sein Gegner zu kennen und nicht einmal bestand die Chance seine Deckung zu durchdringen. Der Schnitter führte seine Sense wie einen kleinen Dolch, denn die Größe seiner Waffe schien ihn in keiner Sekunde in der Bewegung einzuschränken. Die Sichel wirbelte in Kreisen und kurzen Stößen umher und Marius hatte große Mühe den tödlichen Schlägen zu entgehen. Sein Atem ging schwer und seine Muskeln schmerzten, als er sich seinen letzten Fehler erlaubte. Er versuchte mit einem gekonnten Streich die Füße des Schnitters zu treffen, doch sein Schlag war zu kurz angesetzt und so streifte die scharfe Schneide nur Millimeter an den dunklen Füßen des Gegners vorbei. Er blickte hinauf und sah die Sense, die im Fackelschein glänzte, wie sie auf ihn niederging. Es wurde kurz schwarz, dann wieder hell und er sah, wie der Tod hinaus in den Wald ging, dann wurde es wieder schwarz.
Lisbeth verlor in der Dunkelheit ihren Verstand und alles was sie hörte war ein zirpen und rasseln von Insekten. Sie hasste Insekten. Vor nichts in der Welt hatte sie mehr Angst und nun schienen sie überall zu sein, denn mit jeder Sekunde schwoll das Geräusch an, bis ihre Ohren nur noch von diesem Ton erfüllt waren. Dann begann ihr Todeskampf. Überall auf ihrer Haut spürte sie kleine Füße und haarige Beine. Sie wurde gestochen und gebissen.
Angst, Ekel und Wahn vermischten sie zu einem Gefühl der absoluten Verlorenheit.
Sie schrie: „Nehmt sie weg von mir! Oh Gott, sie sind in mir! Nehmt sie doch we....!“
Ihr letzter Schrei!
Jissabelle kroch um ihr Leben. Nachdem sie mehrmals gegen Bäume gerannt war, bewegte sie sich nur noch auf allen vieren fort. Es krachte. Sie hielt inne und lauschte. Es krachte wieder. Das Geräusch von brechendem Holz. Überall um sie herum brachen Äste und Stämme. So laut, dass nur noch ein Klingeln in ihren Ohren lag. Sie spürte noch, wie sie von etwas schweren zu Boden gedrückt wurde, dann krachte es noch einmal, doch diesmal war es kein Holz, sondern ihre Knochen und die Dunkelheit des Waldes legte sich auch über ihr Leben.
Jeanette rannte, wie sie noch nie zuvor gerannt war. Sie störte sich nicht daran, dass sie alle zehn Schritte gegen einen Baum stieß, oder über Wurzeln fiel. Sie wollte nur so schnell sie konnte von diesem Ort des Todes weg.
Das Blätterwerk wurde dichter und sie spürte eigenartige Schlingpflanzen, die ihre Äste nach ihr ausstreckte. Erneut kam sie zu Fall und sie spürte, wie ihr Knöchel brach. Das Gleichgewicht wich einer sich drehenden Welt, doch etwas bremste ihren Sturz. Sie fiel nicht zu Boden, denn eine Schlingpflanze hatte sich um ihren Hals gelegt, während sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie kämpfte und wehrte sich, doch nie mehr drang frische Luft in ihre Lungen.
Mathew hatte seinen Schwur nicht erfüllt und diese Gewissheit nagte mehr an ihm, als die Tatsache, dass der Tod ihn bald finden würde. Er hatte die Augen immer noch geschlossen, als die Schritte nicht mehr näher kamen. War er weg? Hatte er ihn nicht gefunden?
Er zwang sich die Lider aufzuschlagen und sah noch die Sense, wie sie ihn entzwei schnitt.
Der Schnitter stand allein im weiten Wald und er wusste, dass die Welt ihm nun zu Füßen lag. All die Leben würde er sich holen, denn die Ewigkeit war sein Verbündeter.
Es war das Atmen der letzten Hexe. Dies war das Geräusch, dass Marius die ganze Zeit in den Ohren lag. Er war noch nicht tot und sie war nicht tot. Der Schnitter hatte einen Fehler gemacht. Menschen machen Fehler und er begriff, warum die Alte noch lebte. Er war abhängig, denn wenn ihr Leben ein Ende findet, war auch er nicht länger existent. Denn er lebte nur durch sie. Für ewig würde er die Hexe gefangen halten.
Marius schloss das Heft seines Schwertes fest in seine Faust und kroch auf seine Gastgeberin zu. Er stemmte sich hoch auf seine Knie und setzte die Spitze der Klinge auf den Nacken der Frau. In dem Moment, indem er seine Muskel anspannte, tauchte der Schnitter auf und blickte auf ihn und die Frau. Es war das erste Mal, dass er die Augen des schwarzen Mannes sehen konnte. Sie waren leer.
Die Welt um ihn herum wurde wieder schwarz und er wusste, dass er diesmal nicht wieder erwachen würde. Marius legte sein Gewicht auf das Schwert und durchtrennte die Nackenwirbel der Hexe. Gurgelnd verlor sie ihr Blut, als der Schnitter im Nichts verschwand. Als hätte er nie existiert.
Schwarz wurde nun die Welt und alle waren tot, auch der Tod selbst.