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Schnitt in die Seele
Als Veronika die Wohnungstür aufschließt und auf den Flur tritt, empfängt sie nur Stille. Obwohl sie sich sicher ist, das Fenster im Wohnzimmer heute Morgen nicht geschlossen zu haben, scheint die Luft zu stehen. Veronika schlüpft aus ihren grünen Ballerinas, stellt sie achtlos neben das Schuhregal und tapst barfuß über das warme Parkett. Sie bleibt kurz stehen, bevor sie das Wohnzimmer betritt, atmet tief ein, als wolle sie Mut fassen. Die cremefarbenen Vorhänge wehen sachte im lauen Wind dieses schönen Tages, der Boden ist sonnengeflutet. Sie lässt sich auf der Fensterbank nieder und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Nichts deutet darauf hin, dass ihr Leben seit gestern nicht mehr so sein wird wie vorher. Dass er einfach gegangen ist und sie und ihr Unglück allein gelassen hat. Die Weinflasche die sie in hastigen Schlucken geleert hat um sich zu betäuben, steht noch auf dem Couchtisch. Die Wolldecke mit der sie sich nach stundenlangem Weinen notdürftig zugedeckt hat, liegt auf dem Boden. Die ganze Nacht hat sie auf der kleinen Ikea Couch gelegen, war nach Einsetzen des Alkohols in einen leichten und unruhigen Schlaf gefallen. Jedes Geräusch von der Straße ließ sie hochschrecken und hoffen, dass er wieder zurückgekommen war. Aber als die Vögel langsam draußen zu zwitschern begannen und die Sonne aufging, war er immer noch nicht wieder da. Und auch dann konnte sie nicht ins Schlafzimmer gehen und sich ins Bett legen, sie hätte seinen Geruch auf den Laken nicht ertragen können.
Allein. Er hat sie einfach allein gelassen. Veronika lässt sich auf dem Teppich vor dem Fernseher nieder und knipst den Bildschirm an. Die Nachmittagstalkshowgäste, die sich um Sorgerecht und Geld streiten, flimmern ihr entgegen und durch sie hindurch. Sie starrt auf den Fernseher und sieht doch nichts. Sie möchte weinen, aber es ist als wären ihre Tränendrüsen plötzlich zu stolz geworden. Dabei würde weinen helfen, diesen langsam von ihrer Brust in den Hals hochsteigenden Druck zu reduzieren. Sie fasst sich an den Hals, schluckt. Obwohl sie hier oben im vierten Stock sehr wohl noch den Verkehr der Autos auf der Hauptstraße hören kann, erscheint ihr alles so totenstill. Er hat jegliche Geräusche und Leben aus der Wohnung mitgenommen, aus ihrer Wohnung, als er einfach gegangen ist. Zurück bleibt nur diese grausame Stille, wie ein schwarzes Loch. Veronika fasst sich an ihren flachen Bauch, auf ihre Brust. Genauso hier hat er ihr ein schwarzes Loch in sie gerissen, sie fühlt sich innerlich abgestorben. Miau. Der gestreifte Stubentiger schleicht sich von hinten an sie heran und schaut sie erwartungsvoll an. Veronika beginnt das Tier zu streicheln, lässt ihre Hand durch das Fell gleiten. Die Katze scheint zu merken dass ihr Frauchen mit den Gedanken ganz woanders ist und macht es sich lieber auf dem Sofa bequem.
Das Loch stopfen. Diese unbändige Leere, die sein Weggehen in sie gerissen hat, füllen. Kein Essen der Welt kann diese Leere füllen. Veronika steht auf, geht langsam ins Bad. Kritisch schaut sie in den Spiegel. Eine junge Frau mit heller Haut und vom Weinen geröteten Augen schaut sie an. Braune schulterlange Haare umrahmen das Gesicht, dass eigentlich sehr hübsch wäre, wenn da nicht diese zugequollenen Augen wären. Veronika zieht ihr Top hoch, betrachtet sich. Ihr Bauch ist schön, da gibt es keine Frage. Sie dreht sich um und blickt über die Schulter. Es muss an ihrem Hintern liegen, da ist sie sich sicher. Er ist einfach zu breit, und gar nicht knackig. Felix muss gelogen haben, in all den Nächten in denen er ihr geschworen hat dass sie die schönste und einzige Frau für ihn wäre. Gelogen wie bei allem anderen. Wie ein Gewitter prallen die Erinnerungen auf Veronika ein, sie schnappt nach Luft und setzt sich auf den Badewannenrand, so schwindelig ist ihr plötzlich. Dass sie ihn erdrücken würde mit ihren Forderungen und ihrer Eifersucht hat er gesagt. Dass er nicht mehr kann und erstmal ein wenig Abstand braucht. Weder ihr hysterisches Weinen, noch ihr Betteln hatte etwas geholfen, genauso wenig wie ihre Drohungen, sie tue sich etwas an wenn er weg sei. All das hat es nur noch schlimmer gemacht. Sie war wütend auf ihn, so wütend. Dabei war er ja selbst schuld, da er mit der hübschen Blonden Mittag gegessen hat, anstelle seine Freundin zu treffen. Veronika atmet tief durch. Jetzt fühlt sie sich plötzlich nur noch taub, wie abgestorben, als ob das Leben in ihr mit ihm gegangen wäre.
Veronika weiß nicht ob sie ein paar Sekunden oder einige Stunden so dagesessen hat. Als sie schließlich aufsteht, spürt sie den Schmerz nicht mehr. Weder den Seelischen noch den, den die Rasierklinge verursacht hat, mit der sie sich ein paar mal in den Unterarm geschnitten hat. Veronika betrachtet das rote Blut, das auf den Boden fließt und ein Rinnsal bildet. So saube rund rein sieht es aus, und der Anblick beruhigt sie. Sie ist jetzt ganz entspannt, als sie ihren Arm notdürftig mit Pflaster und Verband versorgt. Der Grund, warum sie auch im Sommer meist langärmliche Shirts trägt. Und das Einzige Mittel, das ihr in Situationen wie dieser helfen kann. Veronika legt sich auf das Sofa, schließt die Augen und träumt davon, dass er sich meldet. Irgendwann. Dann wird er anrufen und sagen, dass es ihm leid tut. Die Stellen am Arm wird sie dann versuchen vor ihm zu verstecken solange es geht. Und wenn er bei ihr ist, dann braucht sie das Schneiden eh nicht. Denn dann fühlt sie sich wieder komplett.