Schnellgericht
Er war der Erste. Um 11:20 Uhr stand Roland Flieger vor drei Richtern, die weit über ihm thronten und ihn vernahmen:
„Sie haben also heute Morgen ihrer Nachbarin, Frau Anna Puttfarken angedroht, sie aus dem Fenster zu schmeißen?“
„Wat ärjert mich die Alte schon am frühen Morjen. Macht Radau an meiner Wohnungstür und als ich endlich aus’m Bett raus bin, labert die mich an, ich hätt‘ das Treppenhaus versaut.“
Der zweite Richter fuhr fort: „Sie haben hier drei eng beschriebene Seiten Vorstrafen und Geldbußen - Körperverletzungen, tätliche Beleidigungen, üble Nachrede und so weiter. Bisher haben sie noch keine schwere Straftat begangen, aber es besteht offensichtlich die Gefahr, dass sie sich in naher Zukunft nicht mehr zurückhalten können.“
Die drei Schwarzröcke steckten die Köpfe zusammen: „Gefährdungsverwahrung auf unbestimmte Zeit.“
Mittags fand sich Roland Flieger in einem weiß gestrichenen Raum wieder, in dem vier Betten und zwei Schränke standen. Der Raum sah derart nach Krankenhaus aus, dass er meinte, den typischen Geruch in der Nase zu haben.
Ein Mann in weißem Kittel kam in den Raum und legte einen Stapel Kleidung auf das erste Bett:
„Hier haben Sie Waschzeug und Sachen zum Anziehen. Handtücher hängen im Bad.“
„Bin ich im Krankenhaus?“
Der Mann grinste. „Das sollte mal ein Krankenhaus werden, aber es steht nicht mehr im Bedarfsplan, also haben die Politiker daraus eine Bewahranstalt gemacht.“
„Was‘n das? Bewahranstalt?“
„Sie werden vor ihren Nachbarn bewahrt, die sie immer auf die Palme bringen und ebenso müssen ihre Nachbarn sie nicht mehr ertragen - hilft allen.“
Die Tür sprang auf. Zwei weitere Weißkittel schleppten ein schmächtiges Kerlchen ins Zimmer und warfen den Mann aufs Bett. „Und jetzt Ruhe, sonst binden wir sie fest!“
Dann verließen alle drei das Zimmer.
Nach fünf Minuten lag das Männchen immer noch regungslos auf dem Bett. „Ich heiße Roland Flieger. Und ihr Name?“
Das Männchen richtete sich langsam auf und sah verwirrt um sich: „Hans Kuschter, aber wo sind wir hier?“
„In einer Bewahranstalt. Sind sie auch ausgerastet?“
„Sicher nicht. Ich tue keiner Fliege was zu leide. Oder vielleicht doch. Ich rauche nämlich. Und da stand ich plötzlich vor einem hohen Tresen und jemand stauchte mich zusammen, weil ich Mensch und Umwelt in Gefahr bringe. Soll ich jetzt hier lernen, das Rauchen aufzugeben? Und wann kann ich wieder nach Hause?“
Roland Flieger war inzwischen zur Tür gegangen und stellte fest. dass sie sich nicht öffnen ließ. In der Tür befand sich ein kleiner Ausschnitt, der eben so aussah wie die Gucklöcher im Gefängnis. „Ich fürchte, wir sind hier weggesperrt. Zum Wohle der Menschheit.“
In den folgenden Tagen trat langsam Routine ein. Das Essen wurde ins Zimmer gebracht. Minimalkost. Roland Berger träumte inzwischen von seinem Krankenhausaufenthalt vor zwei Jahren. Damals hatte er sich über den Fraß heftig aufgeregt und wär beinahe aus dem Haus geflogen. Inzwischen schien ihm das Essen damals eine Delikatesse zu sein.
Alle vierzehn Tage bekamen sie neue Kleidung. Einmal in der Woche wurden sie auf einen kleinen Innenhof gescheucht. Während sie dort sich selbst überlassen blieben, wurde offensichtlich ihr Zimmer gereinigt. Besuch bekamen sie nicht - wer sollte auch kommen, sie hatten keine Angehörigen. Vielleicht waren Beruhigungsmittel in ihrer Nahrung, jedenfalls regte sich niemand auf, sondern beide lebten stumpf vor sich hin. Wenn es ihnen zu langweilig wurde, erzählten sie sich Geschichten. Nach einem Hofgang standen einige Bücher im Regal. Heidi und das doppelte Lottchen und weitere seichte Werke. Sie hatten keinen Kalender aber sie vermissten ihn auch nicht. Es gab kein Datum für eine Entlassung. Warum sollten sie irgendwelche Tage zählen?
Allmählich wurde aus dem Sommer Herbst und es regnete häufig, als ein Neuer in ihr Zimmer kam. Auch er trug die blau-weiß gestreifte Kleidung, die sie von den Wärtern unterschied.
Der Neue saß auf dem dritten Bett, rang die Hände und bewegte seine Lippen, als ob er stumm wäre und sich mit jemand unterhielte.
„Und wer bist‘n du? Was haste getan?“
Der Mann sah erstaunt auf. Er war recht jung: „Getan? Ich hab gar nichts getan.“
„Dann wärste ja wohl nich‘ hier. Alkoholiker? Unruhestifter? Schmarotzer?“
Der Mann lief rosa an: „Das haben diese Typen gesagt: Ich wäre ein Schmarotzer und Nestbeschmutzer.“
„Also haste wat jetan.“
„Ich bin Redakteur und habe einen Artikel über die neuen Gefährdervorschriften geschrieben und ausführlich erläutert, dass dieser Weg falsch ist.“
„Ja und? Wahrscheinlich waren die Schwarzkittel anderer Meinung.“
„Ich bin unverantwortlich, bereite meinem Volk Schande und gefährde das Staatswohl. Und dann hat der in der Mitte geschnarrt: Erst mal fünf Jahre Arbeitslager.“
„Sowas gibt’s doch gar nicht“, warf Hans Kuschter ein.
„Das meinte der rechts auch. Aber der in der Mitte erwiderte nur: Dann werden diese Individuen sich eben eines bauen.“