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Schneewittchen
Schön, schön, so wunderschön. Wenn die Schönheit zum Fluch wird... Schöne Menschen haben es leichter, sagt man. Doch keiner sieht den Schmerz dahinter. Ein Kindheitstrauma in Schnee, Blut und Ebenholz spielte sich ab.
Schnee, im Schnee begann es. Mutter war schwach, sie war alt, älter als die Meisten bei der Geburt ihres ersten Kindes. Ich kenne nur noch ihren Namen, aber er bedeutet mir nicht mehr als 'Wind' oder 'Regen'. Eine flüchtige Erscheinung, ein Gedankenbild aus Schnee, Blut und Ebenholz. Zu schwach, zu sehnsüchtig, zu sehr hat sie gewünscht, bereit sich selbst zu opfern. Mir ließ sie nicht einmal eine Erinnerung, nur einen Fluch aus Schnee, Blut und Ebenholz.
„Was für ein schönes Kind“, so sagt man überall. Doch was nützt die Schönheit? Muss eine Königin schön sein? Was bringt die Schönheit, wenn Krieg droht? Was bringt die Schönheit, wenn das Volk hungert? Wenn man an der schönen Oberfläche kratzt, was sitzt darunter? Wer wird schon sagen: „Meine Kinder hungern und frieren, aber wenigstens ist unsere Königin wunderschön“? Schönheit ist ein Fluch. Man wird gesehen und doch wird man übersehen.
„Wie ist eure Prinzessin?“ - „Oh, sie ist wunderschön.“
Soll das alles sein? Bin das ich? Ist das alles, was ihr seht? Schönheit ist ein Fluch. Blendwerk aus Schnee und Blut und Ebenholz.
Und dann kam sie. Groß und stolz und schön. Was sah Vater in ihr außer dem? Blendwerk. „Das Kind braucht eine Mutter“. Einfach und logisch klingen die Worte. Jedes Kind braucht eine Mutter, so wie jeder Bauer Ackerboden braucht und jeder Tischler Holz. Doch wie erntet ein Bauer Früchte, wenn der Boden karg und ausgezehrt ist? Wie soll ein Tischler schaffen, wenn das Holz dünn und harzig ist? Schönheit macht eine Frau nicht zur Mutter. Sie war jung, ehrgeizig, kalt wie Schnee, jähzornig wie kochendes Blut und düster wie Ebenholz. Ein Fluch, der hereinbrach, geformt durch ihre Schönheit. Auch eine Rose ist schön, bis man sich an ihren Dornen sticht. Ein Tiger ist schön, bis er die Krallen wetzt. Ein Feuer ist schön, bis man die Kontrolle verliert. Vater war geblendet. In einem schönen Körper steckt eine schöne Seele. Was für ein Trugschluss; aber weit verbreitet. Ihr Lächeln ist aufgemalt, eingemeißelt in den Marmor ihres Gesichts. Sanfte Locken umrahmen es, doch jede einzelne liegt in kühler Perfektion. Perfekte Schönheit, die jeden Makel gnadenlos ausmerzen muss. Perfekte Schönheit in vollkommener Egomanie, die nichts neben sich duldet.
„Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.“ Schönheit ist vergänglich, Schönheit ist käuflich. Eine Hure mit Marmorgesicht, nicht mehr. Eine Schönheit, keine Volksdienerin. Bloß Herrscherin. Stolz und schön und düster, wie Schnee, Blut und Ebenholz.
Wie wächst man so heran? Die Mutter verblichen, der Vater geblendet, das Volk blind. Ein schönes Kind. Doch was noch? Was mehr? Kann das alles sein? Ein Fluch, der sich fortsetzt, sich hinzieht und weiter wachsen wird, bis eines Tages endlich Falten und Runzeln das Gesicht verzieren mit Geschichten und Erfahrung. Erst wenn die Oberfläche bröckelt, wird man die Wahrheit darunter sehen können, sehen wollen!
Doch bis zu diesem schönen Tag... schön und immer schöner. Wunderschön verflucht. Keiner sieht die Einsamkeit dahinter, all den Neid, der mir entgegen brandet, wie die stete Flut von Schaum gekrönt. Welche Mutter vermag schon ihrem Kind zu schaden? Die, die neidisch ist. Denn all die Schönheit tritt in den Schatten, wenn eine Zutat sich mit ihr vermischt, die so schnell verdirbt und mit keinem Geld der Welt zu halten ist. Jugend. Jung und schön und die Welt steht dir offen. Doch die Türen führen dich auf Abwege. Blendwerk, Neid und Lippenstift. Schönheit kommt von Innen. Doch oft meißelt man, zwingt dem Körper Schönheit aus, die man nicht nach Innen ziehen kann. Wäre ich nicht schön, würdet ihr mich lieben? Lügen und Gestammel. Ich schimpf euch neidisch, ihr mich undankbar. Wofür? Für Lügen und Blendwerk? Danke, dass niemand mich sieht, nur mein Äußeres? Nur Mutters Fluch aus Schnee, Blut und Ebenholz.
Ich folge dem Jäger in den Wald. Als er das Messer zieht, seh ich ihn zögern.
„Was hält dich ab?“, brüll ich ihm zu. „Fällt es dir schwer, etwas Schönes zu zerstören? Eine Blume pflückst du, weil sie schön ist und besiegelst damit ihren Tod, was hält dich bei mir?“ Verwirrtes Schweigen. Er tötet eine Sau und lässt mich stehen. War sie nicht schön? War sie nicht perfekt? Die glänzenden, schwarzen Augen, wie funkelnder Hämatit, der Körper kräftig und kraftstrotzend. Sie tötest du und mich lässt du hier stehen?
Der Wald ist schwarz und unbeugsam, doch ich fürchte nichts. Hier bin ich Beute oder Bedrohung. Aber nicht meiner Schönheit wegen, sondern wegen meiner Menschlichkeit. Ein Fasan ruft nach seinem Weibchen. Schlicht und grau gefiedert, schön muss sie nicht sein nur kräftig und gesund und schlau genug den Füchsen zu entkommen.
Kräftig bin ich und gesund und schlau. Gütig, herzlich, liebevoll, fleißig, hilfsbereit. Doch alle sehen nur 'schön', stellen mich auf ein Podest, wo ich einsam verwelke. Hier ist es ebenso einsam, aber ehrlich. Gefürchteter Mensch, schwierige Beute. Wer mich reißt muss würdig sein. Ein Wolf, ein Bär sieht festes Fleisch in mir und verschont nicht feige meine Schönheit.
Tief im Wald steht ein kleines Haus. Was haben Häuser hier zu suchen, weit ab des trubelnden Lebens? Eine Frechheit meine Eremität zu stören! Und doch treibt mich die Neugier. Von Außen scheint es ruhig, fast lauernd. Mein Magen knurrt nach fester Kost. Der Mensch ist ein Rudeltier und selbst der Einsamste sucht hin und wieder nach Gesellschaft.
Drinnen lauert Chaos. Dunkel, Dreck gespickt, dass ich fast schon glaube, es müsse Jahre schon verlassen sein. Doch auf dem Feuer köchelt Suppe. Die Heimat fehlt mir plötzlich. Der Mensch ist ein Rudeltier und wie die Kröte stets zu dem Weiher heimkehrt, aus dem sie schlüpfte, so sehnen wir uns immer wieder Heim zu Mutter und Vater. Auch wenn sie verblichen und geblendet sind. Heimat ist dort, wo man geliebt wurde?
Verwirrt erwache ich, umringt von Stimmen im fremden Bett. Ich weiß nicht, welcher Wahn mich trieb, tollkühn das Haus mir anzueignen. Heimweh, Trotz, was auch immer. Die Stimmen brummen tief, wie ein Schwarm schwarzer Bienen. Sieben Männer stehen um das Bett, die Spitzhacken in ihren harten Händen.
„Wieso zögert ihr?“, brülle ich sie an, wie einst den Jäger. „Fällt es euch schwer ...“ Ich breche ab. Ihre Augen starren durch mich durch. Tellergroß, milchigweiß starren sie ins Leere. Blinde Bergarbeiter. Maulwürfe, die der Unterwelt die Schätze abringen. Sie sind freundlich, aber distanziert als ich berichte, wer ich war.
„Uns kümmert nicht, wie du aussiehst“, spricht ihr Chef. „Doch du kannst gerne bleiben, wenn du das Haus in Ordnung hälst.“ Fairer Deal. Sie sehen mich nicht und doch bin ich für sie 'klug' und 'fleißig'. Nicht erfüllend, aber ehrlich. Oberfläche schert sie nicht und doch holen sie nicht als Schönheit aus den Tiefen. Schönheit, die sie niemals sehen werden. Ein Septett der Frustration, so mag man meinen, doch für sie zählt nur 'Klugheit' und 'Fleiß'.
Und doch bin ich gefangen.
„Geh nicht vor die Tür“, „Sprich mit keinem Fremden“. Fürchten sie um mich oder ihre geflickten Socken, gewischten Böden und gemachten Betten? Schönheit mag nicht zählen, doch sind sie auf ihre Art genauso oberflächlich. Sie sehen nur den Fleiß, doch nicht das Ganze. Nicht mich, wer ich bin.
Eine Krämerin klopft an die Tür. Schmeichelnde Worte umwölken meinen Kopf, der so lange nicht 'schön' geheißen wurde. Ihre Verkleidung ist nicht ohne Fehl. Ich sehe die Ringe an den manikürten Fingern, rieche noch den teuren Moschus und die Augen, wie könnte ich sie vergessen, kalt glitzernd und dunkel, wie Schnee und Blut und Ebenholz. Ein Seufzer sitzt in meinem Brustkorb, ein Schrei hängt fest. Verfolgt von Neid, Gefangene der Oberflächlichkeiten. Ich lasse sie ein. Ein Seufzer sitzt in meinem Brustkorb.
„Fester“, sag ich bereitwillig, als sie das Mieder schnürt. Der Atem stockt und wird schwarz. Ich brauche das nicht mehr.
Verwirrt erwache ich, umringt von Stimmen.
„Was hättet ihr vermisst, mich oder die geflickten Socken?“, brüll ich trotzig. Ich bin gefangen. Sie wollen nur mein Bestes. Wie wollen sie es wissen, wenn sie mich nicht als Ganzes sehen? Sehen wer ich bin, nicht nur was ich schaffe?
Die Königin kommt wieder. Ich heiße sie willkommen. Setze mich, schließe bereitwillig die Augen, während sie mein Haar bürstet.
Verwirrt erwache ich, umringt von Stimmen. Das Haus wird versperrt. Gefangen, um zu schaffen. Perfektes, schönes Bild; fleißige Sklavin. Beides reicht nicht aus, beides bin ich nicht.
Und wieder kommt die Königin. Ich weiger mich sie einzulassen. Zu oft hat sie schon versagt, die Flucht wurde vereitelt. Ich bin es Leid. Eine Apfelspälte reicht sie mir durchs Fenster, isst die andere selbst um mich in falscher Sicherheit zu wiegen. Närrin, glaubst du ich erkenn dich nicht? Eine Mutter warst du nie, hast auch nie das Volk vertreten, doch nie vergess ich deine Augen. Der Apfel ist vergiftet. Ich rieche, spüre es, bevor ich's schmecke. Wenn das nicht hilft, was dann? Ich bin es Leid. Brich den Fluch aus Schnee, aus Blut und Ebenholz.
Verwirrt erwache ich, umringt von Stimmen. Eingerahmt in Glas. Das Septett bricht in Freudentränen aus. Ein Mann kniet neben mir. Er ist so schön, dass mein Blut kocht und der Schnee schmilzt. Doch ist er klug? Ist er freundlich? Gütig, tapfer, liebevoll? Und dann spricht er die Worte, die das Ebenholz zum Bersten bringen.
„Du bist wunderschön.“
Der Schnee ist geschmolzen, Blut fließt über Glas. Ein Bissen Apfel liegt in der Flut von Haar wie Ebenholz. Wunderschöne Sklavin, wunderschöne Gefangene. Ich bin es Leid. Das Glas splittert.