Schneewittchen 007
Trautes Heim, Glück allein
Schneewittchen lebte mit Ihrer Stiefmutter und Ihren Stiefschwestern Anastasia und Drusella in einer großzügig geschnittenen Plattenbauwohnung in einem wirklich ruhigen Ort im Osten der Republik. Sie wohnten allein im 13. Stock des Hauses, denn die anderen Bewohner hatten sich bereits geschlossen in den Westen abgesetzt. Ihren Vater sah Schneewittchen nur selten, denn dieser arbeitete als Kioskpächter auf der Bohrinsel „Schwarze Anna" und war deshalb nur alle paar Monate einmal zu Hause. Ihre Stiefmutter und Stiefschwestern waren angesichts ihres Schicksals reichlich frustriert und Schneewittchen bekam dies jeden Tag zu spüren. Was war das anstrengend jeden Tag Dutzende Male die Treppe vom 13. Stock in den Keller hinauf und hinunter zu rennen! Schmutzige Wäsche in den Keller, saubere Wäschen wieder hinauf. Leere Pfandflaschen hinunter, volle Flaschen hinauf. Recyclebarer Müll ordentlich getrennt in die Müllbehälter, neue Vorräte zurück in die Küche. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie diesen Weg in ihrem Leben schon gegangen war. Doch es gab auch Lichtblicke: letzten Monat hatte sie an einem Treppenlaufwettbewerb in Brandenburg teilgenommen und überraschend den dritten Platz belegt! Stolz zeigte Schneewittchen der Stiefmutter und den Stiefschwestern ihren Preis: einen 50-Euro-Gutschein für den Kauf eines Treppenliftes. Wenn sie noch 145 Mal den dritten Platz belegen würde, hätte das Gerenne ein Ende!
Discounterhexenwerk
Eines Tages kam die Stiefmutter vom Einkaufen nach Hause und machte einen verstörten Eindruck, denn sie hatte die Einkaufstüten selbst nach oben getragen und nicht wie sonst im Erdgeschoss für Schneewittchen stehen gelassen. „Was ist denn los mit dir?" fragte Drusella ihre Mutter. „Ach Kinder, mir ist etwas Seltsames passiert. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Also, ich stand bei Aldi an der Kasse, als mich jemand von hinten stupste. Ich drehte mich um und sah eine merkwürdige Gestalt vor mir: eine mittelalte Frau mit langen, rosa und grün-gefärbten Haaren, die einen langen schwarzen Mantel und Springerstiefel trug. Sie sah sehr blass aus und ihre Augen leuchteten seltsam grün, als sie mich ansprach. Ich hatte arge Schwierigkeiten die Frau zu verstehen, denn sie hatte so viele Zungenpiercings, dass es ihr kaum möglich war, ordentlich zu sprechen. Ich zog sie an ihrem großen Nasenpiercing näher zu mir heran und hörte sie fragen, ob sie nicht einmal die Tüte Äpfel in meinem Einkaufskorb ansehen dürfe. Was wollte diese Hexe denn mit der 5-kg- Vorratspackung frisch aus China importierter Boskop-Äpfel zum sensationellen Preis von 1,99 Euro? Neugierig reichte ich der Frau den Beutel. Ich durfte mit ansehen, wie sie die Äpfel mit schnellen Bewegungen in ihren Händen kreisen ließ und dabei irgendetwas Beschwörendes murmelte. Anschließend warf sie die Packung zurück in den Korb. Verwundert musste ich feststellen, dass die Äpfel sich verändert hatten und nun fast aussahen wie die Granny Smith aus Chile für 2,49 Euro! Als ich mich umsah, war die seltsame Frau plötzlich verschwunden. Was für ein Erlebnis! Fast hätte ich sogar vergessen, den Pfandzettel abzugeben..." Alle blickten auf die Tüte grüner Äpfel, die nun einsam und noch nicht ausgepackt auf dem Küchentisch lag. Sollten sie wirklich...
Der Weg in die Freiheit
Da kam Schneewittchen zum heute 17. Mal aus dem Keller und betrat die Küche. Grinsend riss Anastasia den Apfelbeutel auf und reichte Schneewittchen einen der Äpfel. „Hast du nicht Lust auf ein paar gesunde Vitamine nach dem anstrengenden Tag?" Erfreut nahm Schneewittchen den Apfel und biss beherzt hinein. Sie wunderte sich ein bisschen über den leichten Schwefelgeschmack, aber ehe sie noch etwas sagen konnte, klingelte ihr Handy. „Hier ist Bond - James Bond." Sie traute ihren Ohren nicht. „Ich bin im Keller." Ohne um Erlaubnis zu bitten rannte Schneewittchen zum 18. Mal die Treppe hinunter. Sie riss die Kellertür auf, verlor aber ganz plötzlich das Bewusstsein und fiel in die Arme von Bond. Dieser fing sie geschickt auf und trug sie hinaus aus dem 33-stöckigen Plattenbau zu der quietschgelben Rikscha, die schon auf sie wartete. Er schmiss Schneewittchen vorsichtig auf das Sitzkissen, schnalzte mit der Zunge und die Rikscha setzte sich in Bewegung. Gezogen wurde das Gefährt von sieben Zwergen, die nur auf Bonds Signal gewartet hatten. Sie traten beherzt in die Pedale und die Rikscha nahm phänomenal schnell Fahrt auf. Kein Wunder, denn die Zwerge waren mit hautengen, orangefarbenen Latexrennanzügen bekleidet, hatten aerodynamisch geformte Schnabelschuhe an den Füßen, eine gestreifte Gesichtsmaske mit integrierter Rennbrille auf der Nase und einen tropfenförmigen Fahrradhelm auf dem Kopf, der dafür sorgte, dass der Hintermann auch ja nicht sehen konnte, was vor ihm passierte.
Die Hatz beginnt
„Wir wollen zu Insel Caspasian!" rief 007 den Zwergen zu und diese legten sich noch mächtiger ins Zeug. Doch was war das? Bond blickte sich um und konnte eine Meute Hochsprungkängurus erkennen, die sich eben aus dem Gehege der Kleingärtnerkolonie „Waldeslust" befreit hatten und nun mit wilden Sprüngen der Rikscha hinterher setzten. Bald hatte das Oberkänguru das Fahrradtaxi erreicht und versuchte, das Gefährt zu entern. 007 konnte den Angriff mit einer schnellen Links-Rechts- Kombination durch K.O. in der 3. Runde abwehren. Auch das Vizekänguru musste sich durch technisches K.O. in der 5. Runde geschlagen geben. Känguru Nummer 3 ereilte das gleiche Schicksal: Sieg nach Punkten für 007 nach 12 Runden. Bond war sichtlich erschöpft und bemerkte nicht, dass es dem letzten Känguru gelungen war, unter die Rikscha zu klettern und sich an der Deichsel festzuklammern. Es versuchte die geheime Luke im Boden zu öffnen, die aber leider aufgrund eines Konstruktionsfehlers des indischen Importeurs mächtig klemmte. James wurde auf die Geräusche unter dem Wagenboden aufmerksam, riss die Luke auf und blickte in das Antlitz des Kängurus. Das Känguru versuchte sofort durch die nun offene Klappe in das Wageninnerne zu gelangen. Doch 007 griff reaktionsschnell zu seiner Geheimwaffe für solche Fälle: l,5%ige-UHT-Sprühsahne mit wirkungsvollen Geschmacksverstärkern. Eine volle Ladung dieser Waffe mitten ins Gesicht des Kängurus zeigten sofort Wirkung. Das Tier begann augenblicklich, sich die Sahne aus dem Gesicht zu schlecken und ließ dabei die Deichsel los, an der es sich festgehalten hatte. Mit einem verärgerten Quieken plumpste das Känguru zu Boden und blieb hinter der Rikscha zurück. Gerettet!
Eine Seefahrt, die ist lustig
Nach gut 47 Minuten und 23 Sekunden hatten sie das offene Meer erreicht. Bond drückte einen geheimen Knopf an der Unterseite seines linken Stiefels in Größe 43,5, und die Räder der Rikscha verwandelten sich in 2,42 Meter lange Wasserskier. Auch die Zwerge hatten sich verwandelt. Über den wollenen Thermounterhosen trugen sie nun einen grün-violetten Neoprenanzug, der nahtlos in eine atmungsaktive Schwimmhaube überging. Tiefseeschwimmflossen ersetzten die Schuhe und auch die Hände waren durch Krokodilhautfäustlinge gut gegen Kälte geschützt. Für die Überfahrt hatte James Bond Schneewittchen in den ausklappbaren Sicherheitsglassarg gelegt, der am hinteren Ende des Gefährts eingehakt wurde. Der Sarg war bruchsicher, schussfest und konnte selbstredend wasserdicht verschlossen werden. Durch den eingebauten Sauerstoffkanister konnte der Gast darin ca. 49 Minuten verweilen. Die Rikscha glitt sanft über die vier Meter hohen Wellen, die bei Windstärke sieben bis acht dem Gefährt entgegen brandeten. Nach kurzer, abwechslungsreicher Fahrt erreichten sie die Gestade der Insel.
Die geheimnisvolle Insel
Die Räder wurden wieder ausgefahren, und die Rikscha setzte ihre Fahrt auf der 10-spurigen Autobahn fort, die den kleinen Sandstrand mit der 129 Einwohner-zählenden Hauptstadt Ubuntu verband. „Wir müssen in den Zauberwald!" rief er den sieben Zwergen zu, die ihre Wassersportausrüstung bereits gegen baumwollene Lendenschurze, farbenfrohen Blumenketten sowie schmucken „Aloha"-T-Shirts getauscht hatten. An der dritten Ausfahrt bog das Fahrradtaxi auf eine staubige Sandpiste ab, über die sie nach kurzer Fahrt den Zauberwald erreichten.
Der Zauberwald
Weiter ging es in rasender Fahrt entlang einer einsamen und kurvenreichen Bergstraße hinauf zu dem 3452 Meter hoch gelegenen Berggipfel des Masalulu. Die Zwerge waren kaum mehr zu bremsen und Bond hatte alle Mühe, die Rikscha auf Kurs zu halten. An einer engen Kurve passierte es: der Sarg löste sich aus seiner Verankerung und rollte samt Schneewittchen die steile Böschung hinab! Der Sarg überschlug sich 34 Mal und kam mit einem lauten Krachen an dem Tor einer wunderschönen Burg zum Stehen. 7 goldene Türme leuchteten hell im Sonnenschein, die Zinnen waren mit rosa Häkeldeckchen kunstvoll verziert und die Wäsche wehte Persil-weiß-gewaschen von der Brüstung. Eine kleine Tür in dem mächtigen Schlosstor öffnete sich, und zwei verängstigte Wachen lugten verstohlen nach draußen. Als sie den Sarg erblickten, machten Sie erschrocken kehrt und die Tür fiel mit einem lauten Knall wieder zu. Kurze Zeit später wurde das Schlosstor hochgezogen, und ein wohl gekleideter, junger Mann trat hinaus. Blond gelocktes Haar umrahmte sein ebenes Gesicht, aus dem einem leuchtend-blaue Augen entgegen strahlten. Sein durch tägliches Bodybuilding im schloss-eigenen Fitnesscenter wohl geformter Körper steckte in samtenen Kleidern. Eine purpurrote Pumphose betonte die muskulösen Beine, an die sich zart gestreifte Strumpfhosen schmiegten. Er trat an den Sarg, der immer noch verschlossen war, und blickte in das Antlitz von Schneewittchen. „Oh welch zauberhaftes Wesen kann ich da erblicken!" rief er aus. „Ich will sie wecken und um Ihre Hand anhalten." Er nahm seinen diamantbesetzten Dolch und versuchte den Sarg damit zu öffnen. Doch trotz zahlreicher Versuche gelang es ihm nicht. Als er erschöpft in Gras fiel, erblickte er einen großen Knopf, der sich an der Stirnseite des Sargs versteckt hatte. „Zum Öffnen des Sargs dreimal kurz drücken." las er da auf dem Schild. Er tat wie ihm geheißen und der Sargdeckel öffnete sich mit einem leisen Zischen. Der schöne Jüngling beugte sich hinab, um Schneewittchen wach zu küssen, wie er es in der Jubiläumsausgabe von Grimms Märchen gelesen. Doch bevor sich ihre Lippen berührten, schlug Schneewittchen die Augen auf. „Wo bin ich?" sagte sie und fühlte eine starke Übelkeit in ihrem Körper aufsteigen. „Du bist bei mir, dem Prinzen Dragomir, hier zu Füßen meiner schönen Burg im geheimnisvollen Zauberwald." antwortete der schöne Jüngling. „Entschuldige bitte." entgegnete Schneewittchen, sprang aus dem Sarg und verschwand kurz hinter einer dichten Tanne. „Jetzt geht es viel, viel besser!" rief sie aus, als sie dem Prinzen gegenüber stand. Der Prinz fiel vor ihr auf die Knie: „Willst du meine Frau werden und mich lieben und ehren, bis das der Tod uns scheidet?" Schneewittchen fiel die Kinnlade herunter. Doch ehe sie irgendetwas antworten konnte, wurde sie wie von Geisterhand nach oben gezogen.
Die Entscheidung
Schneewittchen blickte nach oben und folgte mit ihrem Blick dem Seil, dass sie langsam aber stetig nach oben zog. Sie konnte ein seltsames Gefährt erkennen, dass wie ein fliegendes Fahrradtaxi aussah. Oben angekommen wurde sie von einer starken Hand in das Innere des Fahrzeugs gezogen. „Willkommen an Bord" hörte Schneewittchen eine Stimme sagen. „James Bond." sagte sie und drehte sich zu der Stimme um. Ein sinnliches Lächeln empfing sie. „Coole Aktion." hörte sie sich sagen. „Ich weiß." entgegnete 007, zog Schneewittchen an sich und küsste sie in seiner unwiderstehlichen Art. „Lass mich los, du Frauenheld!" rief Schneewittchen, stieß den überraschten James von sich und sprang mit einem entschlossenen Satz aus der Rikscha. Sie fiel hinab in die Dunkelheit und nach einer Ewigkeit landete sie auf der doppelwandigen, luftgefederten Komfortmatratze des Sargs, der immer noch vor dem Schlosstor stand. Auch der Prinz hatte sich noch immer nicht erhoben und lag wie angewurzelt auf den Knien. Die Matratze federte ihren tiefen Fall samtweich ab und schleuderte Schneewittchen anschließend in hohem Bogen aus dem Sarg hinaus - direkt in die Arme des verdutzten Prinzen. „Willst du mich vielleicht jetzt heiraten?" fragte er leise. „Nun gut." antwortete sie lächelnd und küsste den schönen Prinzen, dass ihm Hören und Sehen verging. Es wurde Hochzeit gefeiert und der Sarg zu einer der bequemsten Kinderwiegen umfunktioniert, die man je gesehen hat. So lebten sie glücklich und zufrieden und wenn sie nicht gestorben sind, so freuen sie sich noch heute über jeden neuen James-Bond-Film.