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Schneesturm
Carlos Stimme klang, als würde er an einem alten Kanten Brot kauen.
„Du Tom, ich weiß nicht, ob das klappt mit St. Anton.“
Ich stellte mir Anitas dreckiges Grinsen vor, während er mir am Telefon vorjammerte, dass er nicht mit uns nach Tirol fahren könne.
„He Mann, ich hab die Zimmer schon gebucht, du kommst da jetzt nicht mehr raus“, log ich.
Carlos Widerstand schmolz dahin, wie die kärglichen Schneereste in der Märzsonne. Er war ein miserabler Skifahrer, darum könnten wir auch ohne ihn fahren. Aber er gehörte halt dazu. Unser letztes gemeinsames Männerskifahren lag zweiundzwanzig Jahre zurück. Ich erinnerte mich kaum daran, zu viele Biere und Joints. Nach Carlos Hochzeit war unsere Clique auseinandergebrochen, wie einst die Titanic. Zerschellt an einem Eisberg namens Anita. Vor drei Jahren trafen wir uns erstmals wieder, auf der Beerdigung eines Kumpels.
„Wir sollten uns wieder öfter sehen“, meinte einer beim anschließenden Leichenschmaus. Seitdem trafen wir uns regelmäßig. Quatschten über früher, irgendwann auch über unsere Skiwochenenden. Ende März fuhren wir Richtung Arlberg. Carlos verzweifelten und sinnlosen Versuch, dem Ganzen noch zu entkommen, indem er seine Skistiefel daheim vergaß, ignorierten wir. Außer Carlo und mir waren noch Heinz und Rudi dabei. Als sich die Wochenendskifahrer im Freitagnachmittagstau versammelten, saßen wir vier schon in der Wurznhütte bei Zipferbier und Mirabellenschnaps. Das grobe „Grias Enk“ der Tiroler Skilehrer, die rotwangigen Weiber, der süffige Schnaps, die stickige Hüttenatmosphäre – jetzt fühlte ich mich endlich angekommen. Bald standen wir auf den Bänken, klatschten im Rhythmus zu Wolfgang Ambros Schifoan und grölten Hölle, Hölle, Hölle. Wir befanden uns auf einer langen Zeitreise - zurück ins letzte Jahrhundert, das zumindest mir wie der bessere Teil unseres bisherigen Lebens vorkam.
***
Mein Schädel brummte wie ein alter Braunbär. Ich saß am Frühstückstisch und wartete auf die Jungs.
„Morgen“, hörte ich Rudis Stimme hinter mir.
„Geil – sag mal was frisst'n du da?“, er stopfte seinen Zeigefinger mitten in mein Rührei.
„Mmmh“, schmatzend leckte er seinen Finger ab, erhob sich gleich wieder und tappte in Richtung Buffet.
„Mrgn“, das war Heinz.
„Scheiß Mirabellenschnaps“, brummte er. Schweigend, den Kopf in die Hände gestützt warteten wir auf Rudi, der die gestrige Nacht gut weggesteckt hatte. Jedenfalls kehrte er nach einigen Minuten pfeifend und mit vollem Teller und dampfender Tasse zurück.
„Na, Männer? Wie gehts Euch? Wo ist eigentlich unser dicker Carlo?“
Zuviele Fragen auf einmal.
„Mhhm“
„Gnnmmb“
„Schlecht geschlafen? Also ich finde das Zimmer genial. Ich glaube, mein Bett hat sogar ne Massagefunktion. Oder war das die Japanerin von gestern Abend?“
Rudi lachte ordinär. Ich holte mir drei Gläser Orangensaft, die ich nacheinander hinunterstürzte. Die hübsche Serviererin widmete mir deshalb einen strengen Blick.
„Weißt du, was der Unterschied zwischen damals und heute ist?“, fragte Rudi. Ich war nicht neugierig auf seine Weisheiten, schüttelte müde den Kopf.
„Früher haben wir drei Tage gesoffen und brauchten einen halben Tag Erholung. Heute saufen wir einen halben Tag und … “, Rudi erschreckte die anderen Gäste durch sein donnerndes Lachen. Dann begann er fröhlich und ausführlich den gestrigen Abend nachzuerzählen. Mitten in seiner Rede tauchte Carlo auf, in Mantel und Schuhen, die Reisetasche in der linken Hand. Der Bursche sah wirklich sehr ungesund aus. Sein Gesicht war spitz und gelb, die öligen Haare hingen ungekämmt vor seinen Augen.
„Servus Carlo.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Rudi auf Carlos Gepäck.
„Was ist los?“
„Hab die Schnauze voll. Ich fahr heim!“
„Guter Witz“, meinte Rudi, „wie kommst du hier weg, ohne Auto? Oder glaubst du, Heinz fährt dich heim?“
„Mir wurscht. Ich fahr mit dem Zug.“
„Zug?“, ich lachte und mein Schädel dröhnte.
„Wir haben unseren Spaß gehabt. Vier alte Knacker fahren zum Saufen und Weiberanmachen in die Berge. Habt ihr sie eigentlich noch alle? Wir sind doch keine Zwanzig mehr!“
Rudi rumpelte hoch und riss ihm die Tasche aus der Hand.
„Nix wird heimgefahren!“
Wie früher, wenn er laut wurde, legte ihm Heinz beschwichtigend die Hand auf die Schulter.
Ich blinzelte Carlo aus kleinen Augen an.
„Jetzt trink erst mal nen Kaffee. Dann geht’s auf die Piste.“
„Tom hat recht, ich hab auch keine Lust nur auf Hüttenzauber“, stimmte mir Heinz zu, „komm schon Carlo. Und am Abend relaxen wir im Hotel.“
„Nein, nein. Ich kenn Euch doch. Und ich kenn mich selber.“
Wir stritten noch einige Zeit, bis wir Carlo soweit hatten, zu bleiben. Fünfzehn Jahre mit Anita hatten Carlos Widerstandskraft gebrochen. Wir packten unsere Ski und schlurften zum Lift. Die herrlich frische Frühlingsluft und die eisbedeckten Gipfel, die sich hart gegen den schwarz-blauen Himmel abhoben, luden uns ein auf die letzten Tiefschneeschwünge dieses Jahres.
Wir machten einige geile Abfahrten. Mit jedem Schwung fühlte ich, wie mein Kater sich trollte und meine Form zurückkehrte. Gegen Mittag bekam ich Hunger. Die anderen drei hatte ich auf der Piste verloren und so hielt ich an einer kleinen Hütte. Beim reingehen erkannte ich Carlos markante Ski, spitze Zwei-Meter-Bretter, wie man sie vor zwanzig Jahren gefahren hatte. Ich trat in die Stube, sah mich um und entdeckte ihn allein an einem Ecktisch, den Kopf in eine Illustrierte gesteckt, vor sich ein Glas Wasser.
„Servus“, meine flache Hand klatschte auf seine Schulter und er zuckte hoch.
„Tom!“
„Wo sind die anderen?“
„Keine Ahnung.“
Er wirkte immer noch beleidigt und senkte seinen Blick wieder in das Magazin.
„Naja, ich brauch auch ne kleine Pause. Sag mal, isst du was?“
Carlo tat, als wäre ich nicht da. Ich holte mir eine Apfelschorle und einen Brotzeitteller.
„Super Wetter heute, oder?“, quetschte ich zwischen zwei Bissen in die Kaminwurzen heraus, „und der Schnee ist genial, oder? Für Ende März.“
Carlo nickte teilnahmslos. Ich erkannte Sehnsucht nach Anita in seinen übernächtigten Augen.
Mann, Carlo. Anita. Die hat dich ganz schön an der Kandare, dieser Bauerntrampel. Geschieht dir recht, früher warst du ein Macho-Arsch. Hast sogar meine Susanne angebaggert. Die Anita hat dich ganz schön weichgeklopft. Dir gehörts auch nicht anders.
Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, weil Carlo irgendwas gesagt hatte.
„Was dir das bringt, hab ich gesagt, du Depp!“
„Ja, ähm, wir … “
„Ach scheiß drauf. War ja ganz nett gestern Abend. Aber im Ernst, brauchen wir alten Böcke das wirklich noch?“
Er hatte tatsächlich alte Böcke gesagt.
„He, wir wollten doch nur mal ein paar Tage abhängen und unseren Spaß haben“, erwiderte ich, „warum bist du eigentlich so zuwider? Es reicht doch schon die ganze Scheiße daheim, der Job, unsere Weiber, der ganze Stress, jeden Tag, jede Woche. Kannst du nicht einfach deinen Spaß haben, so wie früher?“
„Pah, wie früher. Thomas, komm mal zu dir. Früher, das ist ein halbes Leben her.“
„Mann, bist du spießig geworden.“
„Erwachsen - erwachsen und reifer bin ich geworden.“
„Haha, ausgerechnet du? Erwachsen und reifer. Wie alter Wein, oder was?“
„Ja, Blödmann!“
„Mann, Mann, Mann - bevor diese Scheiß Weiber kamen, hatten wir so eine gute Zeit, eine verdammt gute Zeit. Warum hast du das beendet?“
Ich stand auf, stolperte zum Ausschank. Dieses süße Obstlerzeug ging mir langsam auf die Eier, ich bestellte Wodka pur, um mich wieder in Stimmung zu bringen. Nacheinander kippte ich drei Gläser runter.
„Thomas, lass gut sein“, Carlo stand auf einmal hinter mir, „komm jetzt mit raus auf die Piste. Da kriegst du wieder 'ne klare Birne.“
Dieser Schweinewodka. Früher hatte ich das Zeug flaschenweise runtergekippt. Und jetzt, nach drei Stamperl hob es mich fast aus den Stiefeln. Carlo hatte Recht – ich war alt geworden. Wir waren alt geworden! Alle vier!
Ich musste mich verdammt anstrengen, um wieder den Rhythmus von heute morgen zu finden. Dann machte es irgendwann 'Klick' und elegant glitt ich über die Buckel und durch die Mulden. Der aufstaubende Schnee raubte mir den Atem. Der Berg, der Ski und ich bildeten eine Einheit. Ich war nur noch Körper, Bewegung, totale Hingabe.
Mann, mir tut das ganze Gestell weh. Wie wenn ne Pistenraupe über mich gerollt wär. Aber ich kann jetzt nicht aufhören – auf gar keinen Fall.
Mein Puls raste, meine Lungen pfiffen und gierig sog ich die kalte Luft ein. Am Fuß des Steilhangs wartete ich auf Carlo, der gemächlich seine Pflugbögen zog. Als er bedächtig neben mir abschwang, hatte ich wieder genug Luft und mein Kopf war klar.
„Na, du siehst so angefressen aus, war bestimmt der Zahn der Zeit?“, grinste ich.
„Was … was ist los?“, keuchte er.
Wir prusteten beide los und unser dröhnendes Lachen schwoll durchs Tal, wie ein letzter Gruß an den siechenden Winter. Aus der Wand kehrte das Echo, untermalt von Heinz und Rudis Jodeln, zurück. Wir entdeckten die beiden an einem Seitenhang. Ein paar hundert Meter über uns winkten und schrien sie, stürzten sich dann wie Bergadler auf Beutefang in den Hang, malten mit ihren Brettern elegante Zöpfe in den Tiefschnee und standen bald keuchend neben uns. Jetzt war wieder alles gut, ich war wieder vollkommen der Alte. Carlo blickte noch etwas skeptisch auf uns drei, als wir uns anlachten, wie Schuljungs nach einem gelungenen Streich. Dann stimmte er in unser Lachen mit ein.
„Auf geht’s Männer! Runter zur Wurznhütte! Der Letzte zahlt die erste Runde! Yeehaa!“
Ohne auf meine Freunde zu warten stürzte ich mich in die Tiefe, von ihrem johlenden Geheul angefeuert.
Dann überraschte uns ein Gewitter. Die pure Angst trieb uns weiter, raus aus diesem eisigen Inferno, das alles in erstickendes Weiß hüllte. Vollgepumpt mit Adrenalin, stürzten wir in die brechend volle Wurznhütte. Morgen war die Skisaison vorbei und es herrschte ausgelassene Stimmung. Wodka, Tequila und Adrenalin bildeten eine explosive Mischung. Das würde morgen wieder einen Heidenkater geben. Scheißegal. Jetzt war Party angesagt. Morgen geht’s wieder heim – vom glitzernden Weiß der Berge in die Banalität der grauen Großstadt. Darum ließen wir es nochmal so richtig krachen, als wäre es der letzte Tag im Leben. Carlo, die alte Spaßbremse, nuckelte alkoholfreies Bier, während wir drei ordentlich Gas gaben. Irgendwann war Carlo verschwunden, was uns aber egal war. Die Nacht dauerte ewig und ich hatte keine Ahnung, wie wir zurück ins Hotel kamen.
***
Irgendwann weckte mich anhaltendes, lautes Klopfen. Welcher Idiot hatte die Tür abgesperrt? Vom Flur hörte ich hektisches Getrappel und lautes Stimmengewirr. Jemand brüllte meinen Namen. Das Klopfen schien direkt in meinem Kopf stattzufinden, ich richtete mich ächzend auf und stolperte gegen die Tür. Irgendwie gelang es mir, den Schlüssel herumzudrehen. Heinz stand brüllend vor mir.
„ … eine Lawine ist runter gekommen. Und Carlo ist verschwunden!“, war das Einzige, was ich verstand. Augenblicklich war ich nüchtern und starrte Heinz blöde an. Lawine und Carlo - diese zwei Worte prangten in grellen Lettern vor meinem Auge.
Unser Hotel lag in einem Seitental und in den frühen Morgenstunden war durch den schweren, nassen Neuschnee eine Lawine ausgelöst worden und hatte die einzige Zugangsstraße verschüttet. Jemand hatte beobachtet, wie Carlo kurz vorher das Haus zu Fuß verlassen hatte. Heinz hatte seit Stunden versucht, ihn auf seinem Handy anzurufen, vergeblich. Meine Kopfschmerzen waren nur noch eine lästige Nebenerscheinung, in meiner Magengrube dagegen breitete sich bohrende Angst aus. Ich ging mit Heinz hinunter in den Frühstücksraum, wo sich die verbliebenen Gäste und das Personal versammelt hatten. Ein grauhaariger Mann von der Hotelleitung erklärte den Leuten gerade die Situation.
„ … kann das Tal im Moment nicht verlassen werden. Wegen des anhaltenden Schneefalls können auch keine Hubschrauber kommen. Die Situation ist aber unter Kontrolle … „
Wie wir weiter erfuhren, waren einige Häuser verschüttet worden, sodass sich die Rettungsmaßnahmen erst mal darauf konzentrierten. Kein Wort von Carlo.
Ich entdeckte Rudi, der schlaff und teilnahmslos in einem Sessel hing. Als er mich erblickte, verfinsterte sich sein Blick. Heinz fragte ihn:
„Und, gibt’s was Neues von Carlo?“
Rudi sah müde auf und deutete ein Kopfschütteln an.
„Verdammt, man muss doch nach ihm suchen!“
Heinz wurde nun lauter und einige Umstehende drehten sich nach uns um.
„Tun sie ja“, sagte Rudi tonlos, „es werden noch fünf andere vermisst.“
Heinz schien die Antwort nicht zufriedenzustellen. Unwirsch drehte er sich um und marschierte auf den Hotelmenschen zu, der gerade seine Rede beendet hatte. Heftig gestikulierend redete Heinz auf den armen Kerl ein. Rudi und ich saßen schweigend in diesen altmodischen Sesseln, wie Erste-Klasse-Gäste auf der Titanic, die darauf warten, von ihren Dienern zu den Rettungsbooten geleitet zu werden. Meine Zunge klebte träge am Gaumen, doch ich traute mich nicht ans Buffet, um mir etwas zu Trinken zu holen. Das blasse Serviermädchen wartete scheu lächelnd auf Gäste. Die Leute standen in Grüppchen herum, manche unterhielten sich flüsternd mit dunklen Mienen, als wäre man auf einem Leichenschmaus. Einzig Heinz wuselte geschäftig umher, sprach mit dem Geschäftsführer, hantierte mit seinem Handy, fluchte und kam schließlich zu uns zurück.
„Ihr zwei Ärsche hockt da, als ginge euch das Ganze nichts an!“
Ich zuckte zusammen, Rudi blieb reglos.
„Carlo liegt vielleicht da draußen unter dem Schnee begraben und was macht ihr?“
„Vielleicht ist er ja schon vor der Lawine unten im Tal gewesen“, meinte ich.
„Und warum geht er dann nicht ans Handy?“
„Weil das Netz ausgefallen ist, du Idiot!“
Rudi hatte seine Sprache wieder gefunden.
„Ach ja? Woher weißt du das, du Klugscheißer … “
„Hat der Typ vorhin doch gesagt. Die Lawine hat alle Telefonleitungen gekappt.“
Während die zwei weiter stritten, dachte ich an Carlo, an unsere letzte Auseinandersetzung, an die Abfahrt gestern Nachmittag, an den Abend in der Wurznhütte. Dann rissen meine Gedanken ab. Meine Zunge wurde immer dicker und so schlich ich mich schließlich doch in Richtung Buffet, um etwas zu trinken. Das Mädchen lächelte mich an und schenkte mir ein großes Glas Orangensaft ein.
„Ist das ihr Freund, der da heute morgen in die Lawine … ich … ich meine, der heute morgen ...“
Mit kindlicher Stimme stotterte sie in weichem Tirolerisch. Ich nickte und würgte Tränen hinunter. Dann ging ich hinaus, ich brauchte frische Luft. Draußen schneite es noch immer. Der Sturm hatte sich gelegt, stattdessen sanken die Schneeflocken jetzt sanft, wie an einem späten Dezemberabend zu Boden. Es war so ruhig wie in einer Eishöhle. Ungefähr ein halber Meter Neuschnee lag vor dem Haus. Die Temperatur war angestiegen und der Schnee war nass.
Carlo, du Depp gehst bei diesem gefährlichen Nassschnee alleine raus und …
Ich schnaufte tief ein. Der Weg vom Hotel runter zum Ort war etwa ein bis zwei Kilometer lang. Die Straße war normalerweise gut zu gehen, auch für einen unsportlichen Kerl wie unseren Dicken. Links und rechts der Straße fielen Felshänge steil ab. Wenn weiter oben der schwere, nasse Schnee ins Rutschen kommt und ins Tal donnert, Bäume und Steine mit sich reißt ... Ich wollte gar nicht daran denken, aber ich bekam die Bilder nicht aus dem Kopf. Der frustrierte Carlo, wie er durch die Dämmerung stapft und von der Lawine einfach weggerissen wird. Mir war kalt.
Die Wolken lösten sich langsam auf und irgendwo dahinter erschien die blassgelbe Sonne. Es musste kurz vor Mittag sein. Wo waren nur die Retter? Konnten wir irgendwas tun? Es würde schon schwierig sein, überhaupt ein paar Meter vom Hotel wegzukommen. Ein halber Meter Schnee kann eine Menge sein, wenn man da zu Fuß durch will.
Wir können gar nichts machen. Nur warten.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter mir, es war Heinz, in seinem roten Skianzug stapfte er an mir vorbei und pflügte sich durch die schweren, weißen Massen. Entgeistert blickte ich ihm nach.
„Wo willst du denn hin?“
Ich dachte, er würde vielleicht zu seinem Auto gehen, aber der Parkplatz war links vom Haus und er stapfte nach rechts.
„He, was soll das! Heinz! Wo gehst du hin?“
Mir war plötzlich klar, was er vorhatte. Das war typisch Heinz, Helfersyndrom. Immer für andere da, immer den Samariter spielen.
Was versprichst du dir davon? Das ist doch Wahnsinn da rauszugehen?
Ich stand wie festgefroren an meinem Platz, unfähig ihm zu folgen. Bald verschwand er aus meinem Blickfeld und es war wieder so ruhig wie in der Eishöhle. Ich stand noch einige Zeit unschlüssig herum, rief nochmal seinen Namen und ging dann betäubt zurück ins Gebäude. Niemand schien Heinz Verschwinden bemerkt zu haben. Ich ging zum Frühstücksraum, wo ich Rudi vermutete, aber er war nicht da. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. War der Idiot etwa auch rausgegangen? Unmöglich, er hätte an mir vorbeigehen müssen. Ich lief durchs Erdgeschoss und überlegte, welche Zimmernummer er habe. Ich rannte die Treppe hoch.
Wenn jetzt alle drei weg sind. Was soll ich bloß machen? Die können mich doch hier nicht allein …
Ich rief Rudis Namen, lief wie bescheuert an den Zimmern vorbei, ohne zu wissen an welchem ich klopfen sollte. Tränen schossen mir in die Augen. Von Wut und Verzweiflung getrieben, lief ich in die nächste Etage.
„Rudi! Rudi!“
Hätte Carlo doch auf uns gehört und mit gesoffen. Dann wäre er sicher nicht so früh raus gegangen.
Das Ganze war von Anfang an Schwachsinn, das wurde mir jetzt klar. Ich hetzte weiter durchs Haus, bis ich schließlich fast mit dem Idioten Rudi zusammenstieß. Unschuldig grinsend sah er mich an.
„Was ist denn mit dir los? Warum rennst du so gestört herum?“
Ich wollte ihn schlagen. Ja, ich wollte ihn unbedingt mitten in seine schöne Fresse schlagen, die mich so anwiderte. Rudi sah mich an wie einen Zombie, zitternd, bleich und schweißgebadet stand ich vor ihm.
„Hör zu, wenn dir das Saufen Probleme macht, dann hört halt einfach auf damit!“
„Was? Was redest du da? Heinz ist weg!“, krächzte ich.
„Ich weiß. Der sucht Carlo.“
Wie ich seine Gleichgültigkeit hasste.
„Warum hast du ihn nicht aufgehalten? Der kann doch da nicht rausgehen, der Wahnsinnige.“
„Klar kann der. Du kennst ihn doch. Der weiß schon was er tut. Ist ja schließlich Skilehrer.“
Heinz war tatsächlich mal Skilehrer gewesen – für Kinder - vor mehr als zwanzig Jahren.
„Du Arschloch! Zuerst Carlo weg und jetzt Heinz. Alles wegen dir.“
„Was, wegen mir?“
„Klar du Arsch, wer kommt sonst auf solche Scheißideen!“
Er stürzte auf mich zu, packte mich am Hals und schüttelte mich, dass ich fast kotzen musste.
„Du Mistkerl. Jetzt geht ihr wieder alle auf mich los, was? Hab ich dem Fetten vielleicht angeschafft da raus zu gehen?“
Rudi hob seine Faust, doch plötzlich erzitterte der Boden mit dumpfem Grollen. Noch eine Lawine. Niemals zuvor hatte ich etwas derartig Gewaltiges erlebt. Das Fauchen der herabstürzenden Schnee- und Geröllmassen war sogar im Haus zu spüren und jagte mir Angstschauer durch den Leib. Wir standen einige Zeit wie gelähmt da, dann ließ mich Rudi los und rannte nach draußen. Meine Knie zitterten, dann lief auch ich los.
„Heinz! Heinz! Verdammte Scheiße – Heinz!“ meine gellenden Schreie zerstörten die Stille nach dem Inferno. Ich wollte zur Straße laufen, aber schon nach wenigen Metern verlor sich die Spur von Heinz unter den frischen, klumpigen Schneemassen, die bis kurz vors Hotel gerollt waren. Die Landschaft hatte völlig ihr Gesicht verändert. Ein neuer Berg schien entstanden zu sein. Mit bloßen Händen versuchte ich, mich in die weiß-graue, betonharte Masse zu graben. Unmöglich auch nur einen Millimeter voranzukommen. Irgendwo da drunter musste Heinz sein. Der war doch erst vor ein paar Minuten hier raus? Einige der Umstehenden kamen heran und begannen ebenso vergeblich im Schnee zu stochern. Als ich zurückstapfte, sah ich Rudi an der Hauswand lehnen. Seine Gesichtsfarbe unterschied sich kaum von der gekalkten Wand. Ich sah ihn zornig an und ging kraftlos ins Haus zurück.
***
Es war Montag und eine hässliche Nacht lag hinter uns. Rudi und ich hatten fürchterlich gestritten, wer am Verschwinden unserer zwei Freunde schuld sei. Wir zwei waren schließlich die Initiatoren dieses Wochenendes gewesen. Ich fühlte mich jedenfalls mitverantwortlich. Rudi war ganz anderer Meinung. Selber schuld seien die beiden, keiner hätte sie gezwungen mitzufahren. Ich wusste, dass Carlo sich gegenüber Rudi beweisen wollte. Er war auch hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen für Anita und denen zu seinen alten Freunden. Das muss wirkliche Liebe sein, dachte ich, ein seltsames Gefühl – für mich. Meiner Susanne war es inzwischen herzlich egal, wo ich mein Wochenenden verbrachte. Vermutlich bemerkte sie meine Abwesenheit nicht einmal. Rudi hingegen war noch nie von tieferen Gefühlen geplagt gewesen. Ein absolut emotionsloser Pragmatiker.
Mich hatte er gestern Nacht als pathologischen Säufer und Junkie bezeichnet. Das schmerzte, denn die Wahrheit tat immer weh. Ich warf ihm Arroganz und Egoismus vor, immer müsse er allen zeigen, was für ein toller Hecht er doch sei. Ein Angeber und Blender, ungebildet, dekadent, nur an Geld, Autos und Statussymbolen interessiert. Sinnlos schüttete ich irgendwelches Gesöff in mich rein. Irgendwann eskalierte der Streit und entlud sich in einem gezielten Haken, den mein Freund ansatzlos in meiner Visage platzierte und damit unsere nette, freundschaftliche Unterhaltung schlagartig beendete. Danach folgte wieder Amnesie und erst in den Nachmittagsstunden fand ich in die Realität zurück.
Ich saß apathisch in der Lobby und blickte in ein altes Fernsehgerät. Meine Fresse schmerzte und ich betastete vorsichtig mein blau schimmerndes Kinn. In einer lokalen Nachrichtensendung berichtete der Sprecher von der zweiten Lawine. Es war die Rede von sechs Verschütteten. Drei wurden noch vermisst, aber keine Bilder, keine Namen. Sollten Rudi und ich die einzigen Überlebenden unseres einstmals so stolzen Haufens sein? Nur das nicht. Mein Herz klopfte und ich bekam diesen blöden Kloß nicht aus dem Hals. Ich starrte auf das flimmernde Rechteck, ohne Einzelheiten zu realisieren. Dann spürte ich eine warme Hand auf meiner Schulter. Ich drehte den Kopf und blickte in die traurigen Augen der kleinen Serviererin.
„Wie geht es ihnen heute?“
Sie sprach leise, wie mit einem Kranken. Ich blickte sie verständnislos an.
„Ihre Freunde sind bestimmt in Sicherheit“, sie lächelte jetzt, „die sind wahrscheinlich schon unten im Tal.“
Wieder dieser warme Dialekt. Es war angenehm, ihre Stimme zu hören.
„Aber die zweite Lawine?“
Sie erklärte mir, dass keine weiteren Menschen durch die zweite Lawine verschüttet worden waren.
Bald darauf tauchte Rudi auf. Er blickte erst nervös um sich und als er mich entdeckte, steuerte er grinsend auf mich zu.
„Na, Alter – wieder alles klar?“
Ich nickte, obwohl gar nichts klar war.
„Hör zu, gestern Abend. War bescheuert von mir. Tut mir leid.“
Er sprach vermutlich von dem Kinnhaken. Wenn Rudi sich schon mal bei jemandem entschuldigte, war das tatsächlich bemerkenswert. Dann begann er auf einmal belangloses Zeug zu erzählen. Ich starrte in den Fernseher, ließ mich von seinem Gelaber einlullen und schlief irgendwann im Sessel ein.
***
Als ich das nächste mal aufwachte, lag ich in meinem Bett. Keine Kopfschmerzen, aber die letzten Stunden fehlten mir. Auf dem Nachttisch stand ein halbvolles Glas Wasser und ein geöffnetes, fast leeres Tablettenröhrchen. Durch das offene Fenster schien die Sonne, ich hörte Stimmen und Geräusche vor dem Haus. Ich stand auf, diesmal ohne Schwindelgefühl, ohne Übelkeit, kein Schwanken. Ich blickte durch den Vorhang auf den Platz vor dem Hotel. Einige Leute räumten den Schnee vor dem Haus weg, andere platzierten ein riesiges Kreuz aus roten Tischtüchern und Bettlaken auf dem schon freigeräumten Bereich. Hubschrauberlandeplatz, schloss ich messerscharf. Ich zog mich an und ging nach unten. Alle waren draußen. Rudi stand bei der Gruppe, die das Kreuz auslegte. Wie üblich, führte er das Kommando. Es war unerwartet warm, der Schnee schmolz schnell dahin. Die Leute, die den schweren, nassen Schnee wegschoben, schwitzten. Aber alle waren guter Laune. Es schien, die Evakuierung stand unmittelbar bevor. Johanna verteilte Kaffee an die Arbeitenden, als sie mich sah, kam sie herüber gelaufen.
„Guten Morgen! Schaun sie mal, die Sonne scheint wieder. Jetzt könnt ihr alle bald raus.“
Rudi sah mich ebenfalls und kam herüber. Er knallte mir seine Riesenpranke auf den Rücken.
„Jetzt geht’s nach Hause!“, tönte er.
Meine Stimmung war zwiespältig. Einerseits war ich froh, dass wir endlich aus diesem elenden Schneeloch raus kamen, andererseits hatte ich Angst davor, endlich die Wahrheit über Carlo und Heinz zu erfahren. Ich traute mich nicht nachzufragen, ob es Neuigkeiten von den beiden gab.
Der Grauhaarige erklärte uns, dass wir in Gruppen von vier Leuten nacheinander ausgeflogen werden sollten. Es würde noch zwei bis drei Stunden dauern, bis der erste Helikopter landen konnte. Ich hatte keine Lust mit Rudi zu reden, suchte nach Johanna. Sie ging gerade zurück ins Gebäude und ich folgte ihr.
„Hab wohl was verpasst.“
Ihr mitleidiger Blick war mir peinlich.
„Ja, jetzt sollte der Hubschrauber bald kommen. Wir haben schon mindestens fünf Tonnen Schnee weggeschaufelt, damit das Ding hier landen kann. Hoffentlich fängts nicht wieder zu schneien an, nochmal mach ich das nicht mit.“
Sie wandte sich geschäftig ab und ich ging zurück in mein Zimmer, packte meine Sachen. Dann legte ich mich hin und wartete auf das Kommando zum Abfliegen. Auf einmal summte mein Mobiltelefon. Mehrere Nachrichten kamen herein. Als ich die Liste durchsah, schluckte ich verwirrt. Die meisten waren von - Susanne. Sie musste seit Sonntag ununterbrochen versucht haben, mich anzurufen. Alle waren markiert mit Der Anrufer hat keine Nachricht hinterlassen. Es waren auch einige SMS geschickt worden, von einer unbekannten Nummer, gehörte die vielleicht Carlo oder Heinz? Ich wollte gerade die erste Nachricht öffnen, als die Tür aufgerissen wurde und Rudi hereinbrüllte:
„Der Hubschrauber kommt! Los raus, wir können fliegen!“
Ich griff meine Tasche und folgte Rudi. Alle Gäste und das komplette Hotelpersonal hatten sich auf dem Vorplatz versammelt. Das Knattern der Rotoren kam näher und bald tauchte der Heli hinter dem künstlichen Lawinenberg auf und landete direkt auf dem roten Kreuz. Die ersten Vier stiegen ein und das gelbrote Fluggerät hob sofort ab und tauchte hinab ins Tal. Rudi und ich waren in der zweiten Gruppe, so mussten wir noch einige Minuten ausharren. Ich verabschiedete mich gerade von der kleinen Serviererin, als der Hubschrauber schon wieder zurückkam.
Wir zwängten uns in die schmalen Sitze hinter dem Piloten und einem Rettungssanitäter. Jemand stülpte mir Ohrenschützer über. Ich bekam wieder Kopfschmerzen und mein Magen rumorte. Der Helikopter hob ab, drehte sich in die klare Luft und zog in einer Schleife über das Hotel. Ich sah traurig und erleichtert zugleich nach unten. Nach wenigen Metern konnte man die Ausmaße der Katastrophe erkennen. Ein zu bizarren Skulpturen vermengtes Chaos aus umgeknickten Bäumen, Felsen und grau-braunen Schneeklumpen versperrte immer noch einen Großteil der Straße. Nach einigen Minuten sahen wir von der Talseite aus dutzende Männer in roten und gelben Uniformen, die mit Schaufeln und Stangen im Schnee gruben. Kranwagen und Rettungsfahrzeuge standen herum. Eine Pistenraupe fraß sich gierig in die unendlichen Schneemassen. Eine Faust aus Eis schien mein Herz plötzlich zu umklammern, als ich neben der Straße zwei längliche, metallisch glänzende Kisten sah, die wie Zinksärge aussahen.
Carlo! Heinz!
Ich drehte meinen Kopf zu Rudi, er starrte geradeaus und schien die Särge nicht bemerkt zu haben. Ich glaubte sogar, ein Grinsen um seinen Mund spielen zu sehen und mir wurde furchtbar übel. Die Szenerie am Boden sah so unwirklich aus. Wie Ameisen bei ihrem, für uns Menschen sinnlos erscheinenden Werk, krochen die Winzlinge da unten über die Schneehaufen – und doch war alles vergeblich. Die Maschine flog jetzt aus dem engen Seitental und plötzlich öffnete sich das Haupttal vor uns und wir schwebten auf einen riesen Parkplatz zu. Die Platzmitte war ebenfalls mit einem Kreuz markiert. Der Hubschrauber ging in den Sinkflug über und man konnte einzelne Menschen erkennen. Einer der Wartenden trug eine auffällige zitronengelbe Daunenjacke. Ich stutzte – hatte nicht Susanne eine gelbe Skijacke? Die Figur, die langen dunkelroten Haare, die jetzt im Wind der Rotorblätter herumwirbelten, die Art, wie sie sich bewegte. Das war Susanne, das musste Susanne sein. Neben ihr stand noch jemand, er hatte einen roten Skioverall an. Ich glaubte mich zu erinnern, dass Heinz etwas Rotes trug, als er sich auf die Suche nach Carlo gemacht hatte, war mir aber nicht mehr sicher. Ohne ersichtlichen Grund griff ich plötzlich nach meinem Handy und öffnete die letzte Nachricht, sie lautete:
„Komm bitte wieder zurück!!!“