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Schneestaub (überarbeitet)
Schneestaub
Ich stand morgens am Bus und beobachtete gespannt, wie bei jedem Atemzug eine neblige Wolke meinen Mund verließ, um sich dann in der klirrenden Kälte dieses Morgens zu verlieren. Die Kälte drang wie kleine Stachel gegen mein Gesicht. Ich zitterte leicht und beobachtete die anderen Leute, die mit mir auf den Bus warten, versuchte diesen Tag nicht schon an seinem Beginn zu verfluchen.
In dicke Jacken und Mäntel eingewickelte Gestalten, alle leicht vornüber gebeugt, allesamt mit gefrorenem Gesichtsausdruck. Leicht gerötete Wangen, tief in die Stirn gezogene Mützen. Es ging ihnen nicht anders als mir.
Genauso wie den Bäumen auf der anderen Seite der Straße, mit Sicherheit war auch ihnen kalt. Die Äste in kalt glänzende Umhüllungen aus Eis gefesselt, standen sie da und zitterten leicht im schneidenden Wind. Auch ich zitterte.
Es wird langsam Zeit, dass der Bus kommt, dachte ich und überlegte einen Moment lang ob ich mein Handy aus der Tasche holen sollte, um auf die Uhr zu sehen. Der Moment war jedoch schnell wieder vorbei, also beließ ich meine Hände in den Jackentaschen und tat gut daran. Es war zu kalt um sich zu bewegen.
Auf der Straße und den Wegen lag die Kälte wie Staub. Von Zeit zu Zeit wirbelte eine schwache Böe einzelne Flocken des weißen Schleiers auf, um sie an anderer Stelle wieder in die Decke einzufügen. Die Kälte begann langsam aber unaufhaltsam unter meine Kleidungsstücke zu kriechen. Ich fröstelte.
Der Bus kam noch immer nicht. Er ist nun schon eine ganze Weile zu spät, dachte ich und machte einen kleinen Schritt nach vorne. Vielleicht musste ich mich einfach etwas bewegen, dann würde mir ganz sicher wieder wärmer. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, die Hände tief in den Taschen vergraben, den Kopf zwischen den Schultern versteckt. Die anderen Leute sahen mich nicht an.
Nach einer Weile des Auf- und Ablaufens wurde mir tatsächlich wieder wärmer und auch meine Stimmung besserte sich etwas.
Komische Gestalt, dachte ich, während ich den Jungen auf der Bank beobachtete, der schon seit einigen Minuten ganz in sich zusammengesunken verharrte. Ihm musste doch auch kalt sein, dachte ich und schüttelte innerlich den Kopf. Merkwürdige Menschen hier, urteilte ich und war versucht, die Leute einer genaueren Analyse zu unterziehen. Ich ließ es bleiben, es war mir egal. Es war selbst zum Denken zu kalt.
Ich drehte mich wieder um und unterzog die Bäume auf der anderen Strassenseite erneut einer mitleidigen Betrachtung. Schon doof, wenn man ein Baum ist und nichts bewegen, sich nicht zu Wehr setzen kann. Ich fragte mich ernsthaft, ob der Baum genauso denken würde, wenn er es könnte.
Vielleicht ist man wie ein Baum, wenn man stirbt, überlegte ich und war über meine eigenen Gedanken verwundert. Er ist ja da, doch er kann nichts machen, er muss es einfach ertragen, schreckliche Vorstellung. Unbeweglich, starr, in seinem Schicksal gefangen. Ich schauderte. Zum Glück blieb mir ja noch etwas Zeit, bis ich diese Erfahrung machen würde. Ich war ja noch jung.
Ich atmete einmal tief durch. Die kalte Luft, die ich tief eingesogen hatte, verursachte ein unangenehmes Gefühl im Hals. Dann verließ sie als weiße Wolke wieder meinen Mund und löste sich in Nichts auf.
Ich sah wieder zu dem Kerl auf der Bank hinüber. Der bewegt sich ja noch immer nicht, dass dem nicht kalt ist, dachte ich. Sitzen ist doch genau das Falsche in dieser Kälte. Ich fror erbärmlich. Es gibt schon komische Gestalten, aber wen interessiert es? Lass ihn doch, wenn er möchte, sagte ich zu mir selber.
Die Minuten vergingen, ohne das ein Bus kam oder irgendetwas Besonderes geschah.
Vom Frost wie in den Boden einbetonierte Blätter war hier und da, mit einem Schleier aus Eis bedeckt, zu erkennen. Die letzten Überbleibsel des Herbstes. War der Sommer schon wieder so lange vorbei, fragte ich mich. Ich versuchte mir ihn auszumalen. Saftig grüne Blätter an den Ästen, freudige Vogelgesänge, warme Brisen die einem durch das Haar strichen, überall Bewegung.
Ich holte meine Hände aus den Taschen und rieb sie aneinander, sie waren warm und krebsrot. Die Kälte brannte auf der Haut, so ließ ich sie schnell wieder in die Taschen gleiten. Noch immer kein Bus, wo bleibt der bloß?
Ich fing an mich unbehaglich zu fühlen - nicht wegen der Kälte, wegen der fühlte ich mich schon länger unbehaglich. Es war irgendetwas anderes. Ich fühlte mich mies, konnte mir aber nicht erklären warum.
Ich sah mich wieder um. Immer noch die selben Gestalten, alle in warme Anziehsachen eingepackt, die meisten die Schultern nach vorne gezogen, den Kopf gebeugt.
Allmählich legte sich der gleiche weiße Schleier, der auch auf der Straße lag, auf die Jacken und Mützen der mit mir Wartenden. Heimlich fragte ich mich, ob ich von außen betrachtet genauso aussah. Was dachten wohl die anderen von mir, wenn sie mich ansahen? Dachten sie das gleiche wie ich?
Ich drehte meinen Kopf noch ein Stück weiter. Der Junge auf der Bank hatte sich noch immer nicht bewegt. Oder, überlegte ich, er hat sich bestimmt bewegt, ich habe es nur nicht gesehen. Das musste es sein, beschloss ich, war jedoch nicht wirklich zufrieden mit der Erklärung. Zweifelnd starrte ich ihn weiter an.
Er war schon fast gänzlich von Eiskristallen bedeckt, die sich wie Staub über ihn legten. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Unheimlich, vielleicht gerade deshalb. Unmenschlich irgendwie, durchzuckte es mich und ich musste mich im selben Moment fragen was denn überhaupt menschlich war?
Konnte der Kerl mir nicht egal sein?
Wo blieb denn nur der Bus?
Warum bewegte der Junge sich eigentlich nicht?
Ich schaute ihn nun schon eine ganze Weile an und ich war mir sicher, dass er sich kein bisschen bewegt hatte. Wie eine zweite Haut legte sich der Schneestaub über ihn. Ich fror. Warum friert der eigentlich nicht? Sitzen ist doch genau das Falsche bei dem Wetter.
Ich wandte mich wieder von ihm ab, so ein Freak, dachte ich und wurde noch im gleichen Augenblick wütend auf ihn. Der Kerl konnte mir aber nun wirklich egal sein, es gab andere Sachen, über die ich mir Sorgen machen musste. Wo blieb denn nur der Bus?
Ich überlegte einen kurzen Moment ob ich den Kerl hier schon mal gesehen hatte, zumal ich ja jeden Morgen mit dem Bus fuhr. Obwohl ich es nicht wollte machte ich mir nun ständig Gedanken über ihn. Ich entschloss mich ihn noch nie vorher gesehen zu haben. Irgendein Kerl halt. Was interessierte der mich? Ich fand mich selber nicht besonders glaubwürdig als mir diese Frage durch die Gedanken schlich.
Ich komme zu spät zur Schule, plötzlich wurde ich unruhig.
Wieder warf ich einen Blick über die Schulter. Keine Bewegung. Er schlief, ganz sicher schlief er.
Ich zwang mich dazu, wieder ein paar Schritte zu gehen, Bewegung tat mir gut. Mir war immer noch kalt, entsetzlich kalt. Musste ich mir um ihn Sorgen machen?
Es wird sich schon jemand um ihn kümmern, außerdem sieht der eigentlich noch lebendig aus, versuchte ich mir einzureden. Der kann mir doch egal sein, doch meine Überzeugungskünste versagten kläglich.
Einen Blick über die Schulter, keine Bewegung. Warum bewegt der sich denn nicht?
Beweg dich, dachte ich, beweg dich doch.
Er schlief, ganz sicher schlief er. Wach doch auf und beweg dich, ich blickte mich wieder um. Ich ging ein paar Schritte, drehte mich in die andere Richtung und ging noch ein paar Schritte. In Bewegung bleiben, damit dir nicht kalt wird, ermunterte ich mich. Ich könnte ja zu dem Jungen hingehen und ihn aufwecken. Warum ich, überlegte ich, ich kannte ihn ja nicht einmal? Wo blieb eigentlich der Bus?
Ich fror, die Kälte schlich sich unaufhörlich in meine Knochen und Muskeln. Ich zitterte nun stark. Von der Kälte?
Ich wecke ihn auf, beschloss ich. Wo blieb denn der verdammte Bus?
Zögerlich, fast ängstlich drehte ich mich um. Ich spürte wie mein Herz sich überschlug, ich zitterte noch mehr.
Er saß noch so da, vornüber gebeugt, zusammengekauert. Ein weißer Schleier über ihm. Beweg dich, wollte ich ihn anschreien.
Ich machte einen Schritt, blieb stehen. Noch einen Schritt. Die Mütze war ihm von dem einen Ohr gerutscht. Er bewegte sich nicht.
Ich komme wirklich zu spät zur Schule, warum ist der Bus nur so spät? Viel zu spät! Ich würde mich mit Sicherheit blamieren, wenn ich ihn jetzt ansprach, die anderen Leute störte es ja auch nicht.
Wie die Bäume auf der anderen Straßenseite, dachte ich als ich ihn genauer ansah. Braun, unbeweglich, starr, von der Kälte gefesselt. Warum bewegt der sich denn nicht?
Die Kälte stach auf meine Haut ein. Ich schwitzte. Kalter Schweiß.
Ich machte noch zwei weitere Schritte auf ihn zu, der Rollsplitt knirschte unter meinen Füßen. Ich stand vor ihm. Keine Regung. Ich wollte wegrennen, einfach nur weit wegrennen. Jetzt weck ihn schon auf, versuchte ich mich selbst zu überzeugen.
Zaghaft zog ich die rechte Hand aus der Jackentasche, wollte sie ausstrecken, zog sie zurück. Keiner der Anderen sah zu mir herüber, stellte ich fest, als ich einen Blick über die Schulter warf. Vermummte unbewegliche Gestalten. Keiner sah zu mir.
Siehste, die Anderen finden es auch nicht ungewöhnlich, dann ist es bestimmt auch nicht schlimm, der schläft halt, suchte ich eine Ausrede um mich abwenden zu können. Es half nicht.
Ich streckte die Hand wieder aus, zuckte zurück.
Der Bus kam, mit dem vertrauten, Wärme versprechenden Röhren des Motors. Die Scheiben waren von innen beschlagen. Es musste warm drinnen sein. Die Leute stöhnten erleichtert auf, als die Türen sich öffneten. Ich wollte sofort losrennen, ich tat es nicht.
Ich blickte wieder auf den Jungen. Beeil dich, der Bus ist da, mahnte ich mich selber zur Eile. Wach doch auf Junge, wollte ich ihn anschreien, ich tat es nicht.
Als sich die Türen des Busses schlossen sah ich ihn noch einmal. Er bewegte sich noch immer nicht und eine leichte Böe legte einen weiteren Schleier über ihn.