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Schneeschatten
Ich war alt geworden. Auch wenn der Krieg mich schwer gebeutelt hatte, war ich dennoch unter den Lebenden. Die Verletzungen, die ich damals davon getragen hatte, waren längst verheilt und doch litt ich noch immer an den grauenhaften Erinnerungen. Sie schlichen langsam auf mich zu und umklammerten urplötzlich meinen Geist, wie eine Schlange die ihr Opfer langsam zu Tode würgt. Ich sehe meine Kameraden, meine Freunde, vor mir in den schmutzverseuchten Boden fallen. Wie sie vom Schmerz geplagt aufschreien und sich in ihrem eigenem Blut winden. Es war als wenn der Tod und die Asche meiner gefallenen Brüder auf meinen Geist gelegt hatte. Immer wieder erschienen sie mir, ob ich wollte oder nicht. Keine Träne, die ich dabei immer wieder verlor, brachte mich näher an sie heran. Sie wollten mir wohl keinen Frieden schenken, bis wir alle wieder im Himmel vereint sind. Jede Nacht erwache ich schweißgebadet und reiße an den Ketten, welche mich an mein hartes Bett fesseln. Der Feind hatte mich damals in die Hände bekommen und seitdem lebe ich in Gefangenschaft. Zumindest war das meine Vermutung, denn ich weiß bis Heute nicht was mir damals zugestoßen ist.
Die Ärzte des Feindes befanden meine plötzlichen emotionalen Ausbrüche als zu gefährlich und deswegen hatten sie mich in dieser Gefängniszelle an das Bett gekettet. Oft kamen sie zu mir und spritzten mir etwas, was mich sedierte. Diese Retter in Weiß hatten ihren strahlenden Glanz, den ich ihnen in meinen Kindertagen angedichtet hatte, verloren. Im Krieg habe ich sie schmutz- und blutverschmiert in der Ecke verzweifeln sehen und jetzt kommen sie mir vor wie unerreichbare Marionetten des Bösen.
Seit dem Tod von Linda. Eine vom Feind ausgesendete Schwester, welche mich täglich in meiner Zelle besucht hatte, ließen sie mich nicht mehr aus den Augen. Eine Kamera spionierte mich Tag und Nacht aus. Linda war so jung gewesen. Irgendwann hatte ich aufgegeben mich gegen die Sedierung zu wehren und bald war ich froh, wenn ich schlief und in meiner Traumwelt die ganze Energie meiner Jugend wieder erleben konnte. Ich war in die Zeit vor dem Krieg zurückversetzt, noch frei von Verpflichtungen oder Ketten und spielte Fangen mit meinen Geschwistern. Krankenschwester Linda war immer wieder wie eine Sukkubus vor mir aufgetaucht, mit all ihrer Liebe und Fürsorge, weckte mich und nahm mir die Illusion von Lebensenergie. Sie holte mich immer wieder zurück in dieses verteufelte Bett und ließ mich bitterlich die Ketten spüren, welche mich in diesen kleinen Raum einsperrten. Linda hatte einfach so schöne verführerische blaue Augen gehabt und ich hätte um ihre Hand angehalten, wenn sie nicht dem Feind angehört hätte und zwischen uns so viele Jahrzehnte gewesen wären. Man konnte ihr nicht böse sein.
Doch ihre Augen wird kein Mann mehr erleben. Keinem mehr so verführerisch in die Seele blicken und mit sanften Wimperschlägen jedes Ärgernis behutsam hinfort wehen. Sie war für immer fort. Und doch stand sie dort in meinem Zimmer. In einem weißen Hochzeitskleid. Ihre blauen Augen auf mich gerichtet, wie ein Scharfschütze des Feindes kurz vor dem Abdrücken. Draußen stürmte ein Schneesturm, der immer wieder gegen das Fenster hämmerte. Ab und zu flackerte das Licht hektisch durch den Raum. Mit jedem Aussetzen des Lichts dauerte es länger bis der Raum wieder erhellt wurde.
Und plötzlich war ich wieder auf dem Schlachtfeld. Ich und meine Kameraden kämpften im Schnee, während ein schrecklicher Schneesturm wütete. Immer wieder stolperte ich über die blauen erfrorenen Leichen. Sie waren stark verunstaltet. Dass hier und da Gliedmaßen fehlten, war aber das am wenigsten Schlimme an ihnen. Einige waren zu grotesken Menschenhäufchen geworden, fast wie als wenn jemand versucht hätte die Teile eines Puzzles irgendwie mit Gewalt zusammenzufügen. Überall waren Augen und Gedärme wie Konfetti auf dem Boden verteilt. Ich riss meinen entsetzten Blick vom Boden los und dann sah ich etwas hinter einem Schneehügel auftauchen. Ein riesiges Ungetüm von Mensch tauchte langsam auf. Zumindest hoffte ich es, denn man konnte lediglich einen riesigen schwarzen Schatten erkennen, der mit schweren Schritten durch den Schnee stapfte. Ich meinte, dass die Erde unter seinem Gewicht erbeben würde. An der ganzen Gestalt war keine andere Farbe zu entdecken. Nur die Augen schienen in einem dunklen Rot aufzuleuchten. Der Riese kam immer näher auf mich zu und bald würde er mich unter seinen Schuhen zerdrücken, wie eine glimmende Zigarette. Doch zu erst musste ich erleben, wie er meine Kameraden, einen nach dem anderen, auseinander Riss. Man hörte zunächst ihr unnützes Flehen und danach wie ihre Körperteile auf den Boden fielen. Bald war noch ein lebender Mann auf dem Feld - ich. Langsam erhob sich der Riese und visierte mich mit seinen todessüchtigen roten Augen an. Er zeigte auf mich und fing laut an zu lachen, was wie ein Donnergrollen über das Gebiet herfiel. Ich spürte meinen Körper innerlich zusammenbrechen und dann auf dem eiskalten Boden fallen. Dann schien meine Erinnerung zu flackern, wie das Licht im Gefängnisraum.
Das Geräusch des wütenden Sturms peitschte gegen mein spärliches Fenster und holte mich wieder zurück in meine gefesselte Position. Ich sah rüber zum Glas und erschrak, denn dort war er wieder. Der Schatten. Seine roten Augen auf mich gerichtet. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib und beschallte damit das ganze Gebäude. Dort war er. Der Alptraum aus meiner Erinnerung. Er hat mich gefunden. Jetzt wird er mich holen, wie die anderen. Mein Körper versuchte sich zu winden, sich von den Ketten zu lösen aber ich konnte mich nicht befreien. Mit aller Gewalt, bis der Schmerz sich durch meinen Körper zu ziehen begann. Die Tür meines Zimmers wurde aufgeschlagen und der kalte Schneesturm nahm den Raum ein und ließ mich vor Kälte zittern. Der riesige Schatten kam langsam herein. Sein Schritt war immer noch so schwer wie damals. Bei jedem Kontakt mit dem Boden wirbelte tausend kleine Eissplitter in die Luft und ließ dabei die Erde erzittern. Er hatte eine Spritze in der Hand. Er wollte mich anscheinend erst sedieren, damit er mich in Ruhe auseinander nehmen kann. Nun stand der Schneeschatten vor mir. Die Spritze auf mich gerichtet. Irgendwas musste getan werden. Ich stellte mich tot und lag ganz ruhig auf dem Bett. Der Schatten wurde jetzt sehr unachtsam und streichelte mir über den Kopf, wie es damals Linda so oft getan hatte. Schnell packte ich die Spritze und rammte sie dem Schneeschatten ins Bein. Er wehrte sich nicht lang und knallte dann auf den harten Boden. Danach wurde ich schwach. Ich hörte ein Gewirr aus Stimmen. So viele Menschen waren plötzlich zu hören. Auf Einmal war einer von ihnen ganz nah bei mir und schien mit dem was er sagte meinen verstaubten Geist zu berühren: „Schwester Emma. Das war Schwester Emma du Monster.“