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Schneephotographien
Vorsichtig und sanft drücke ich die Nadel herunter.
Lange habe ich meine Lieblingsplatte nicht mehr gehört. Es ist diese Mischung aus Niedergeschlagenheit, Tod und Freude, die mich an ihr fasziniert, die mich gleiten lässt, wenn die schwarze, zerkratzte Scheibe zu drehen beginnt und ihren Klang, meine Flugbahn, durch den Raum schickt.
Doch blättere ich gerade durch das Photoalbum, das mich festbindet, am Fliegen hindert, gefangen hält in der Vergangenheit, hier auf diesem Sofa, das schon immer da steht. Die schwarzen Punkte auf dem beigefarbenen Bezug, so durchgesessen, dass ich es nicht mehr hergebe.
Ich schaue Bilder von damals, als ich Kind war und als noch Schnee lag im Winter. Jetzt liegt kein Schnee, es gefriert bloß und es ist kalt draußen. Kalt und schwarz. Aber der Heizkörper macht mir warm und die Rollläden halten die Dunkelheit fern, machen, dass meine schummrige Lampe nur für mich hellt und sperren den schwachen Lichtschein nach draußen ab.
Das Photo zeigt den Nachbarsjungen, wie er einen Schneeball nach mir wirft. Er hat mich mitten im Gesicht getroffen und ich heule. In meinem Mund schmilzt der Schnee zu kaltem Wasser und ich spucke es aus. Irgendwer hat auch davon ein Bild gemacht. Irgendwer hat von allem ein Bild gemacht. Wie ich mit meinen kleinen Fingerchen den Schnee aus meinem Jackenkragen kratze und wie der Zorn in mir die Kälte verdrängt. Doch ich habe mich nicht gerächt. Ich habe mich nie für etwas gerächt. Ich habe den Jungen nur verachtet und ich verachte ihn noch heute, so wie ich alle verachte, die je einen Schneeball nach mir geschmissen haben.
Kein Wunder, dass ich auf den Bildern feige aussehe, weil ich mich in den Garten verkrieche, wo ich beginne, einen Schneemann zu bauen und den ganzen Tag, bis in den späten Abend, mit meinen nackten Händen weiße Kugeln aus der Wiese rolle, die ich dann forme, zu einem runden Bauch und zu einem Kopf, dem ich mit den Fingerspitzen die Augenhöhlen aussteche. Ich laufe ins Haus und hole zwei Kastanien, die ich hineinsetze. Was für ein herrlicher Schneemann! Das Photopapier lässt seine tiefbraunen Augen von Neuem glänzen, verlockender und eindringlicher beinah als die des echten.
Aus kleinen Steinchen formte ich den Mund, nur eine Nase wollte ich ihm nicht geben, damit er die verbrannten Plätzchen nicht riechen muss.
Deren Geruch klebte nämlich in der ganzen Straße, rückte denn der vierundzwanzigste Dezember immer näher, mit jedem aufgerissenen Türchen, mit jeder verschlungenen Schokolade aus dem Adventskalender. Als ich Kind war, habe ich Weihnachten geliebt. Ich konnte noch lieben, ohne einen Sinn zu erkennen. Ich konnte lachen, ausgelassen und glücklich sein, ohne nach dem Grund zu fragen, und ich verschwendete auch keinen Gedanken daran. Viel mehr genoss ich die Stunden mit der Familie an der schiefen Blaufichte, die wir mit „O Tannenbaum“ besangen, und sogar die Geschenke genoss ich, vielleicht weil ich damals glaubte, dass sie wirklich von Herzen kämen, vielleicht weil mir die Schenker wirklich etwas bedeuteten. Ich schaute den Flocken zu, wie sie an unserem Fenster vorbei, auf die weiß bedeckte Erde fliegen, und meinem Schneemann, hinten im Garten, wie er mich herzlichst anlachte, wie seine Kastanienaugen zu mir herüber schimmerten. Ich lachte zurück und wahrscheinlich liebte ich Weihnachten doch nur seinetwegen.
Oder ich verabscheute es, da mir die Sonnenstrahlen des ersten Weihnachtsmorgens zerstörten, was mir wichtig war. Sie zerstörten ihn nicht in einem Mal, sie quälten ihn langsam zu Tode, bohrten sich Stück für Stück in seine reine, bleiche Haut und fraßen ihn von innen heraus auf. Seit diesem Weihnachtsmorgen kann ich keine Sonne ertragen, schaudert es mir mit jedem Lichtschein. Ich musste ansehen, wie sie, die scheinbar warme Sonne, ihn zerlaufen hatte lassen und allen Schnee für immer aus meiner Welt verbannte.
Ich lösche die schimmrige Lampe, nicht einmal sie kann ich aushalten. Zu hell ist sie jetzt, wo ich die Aufnahmen gesehen habe. Die trostlose Pfütze, die sich für immer in mein Gehirn gebrannt hat. Seine Kastanien, die auf dem Wasser schwammen und mich um Hilfe anflehten, und ich, der ohnmächtig hinterm Fenster stand und zusah, nichts tun konnte, bloß zusehen.
Es ist der Kater, der sich langsam anschleicht, zu mir hintastet und sein flauschiges Fell an meinem Körper reibt. Ich sehe, wie seine Augen leuchten, und erkenne Umrisse seines kleinen Köpfchens. Die Krallen halten ihn auf dem Sofa, bis ich ihn fest in den Arm nehme und kraule. Er gähnt zufrieden und ich rieche, dass er gerade eine junge Ratte getötet hat. Wie ihr kleines Schnäuzchen wohl quietschte. Ähnlich wie mein Schneemann, dem ich nicht einmal frohe Weihnachten gewünscht habe?