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Schneeflocke
„Montag, dreiundzwanzigster August. Sitzung: Nummer 4. Patient: Rho.
Hallo, Rho. Wie war deine Woche?“
„Gut, schätze ich. Nichts Ungewöhnliches.“
„Und das Thema von letzter Woche? Deine “verschwundenen“ Arbeitskollegen?“
„Sind wieder da. Ein Kurzurlaub, Besuch bei der Familie oder so.“
„Siehst du. Es war alles nur in deiner Fantasie. Deinen Freunden geht es gut. Kein Grund zur Sorge, nicht wahr?“
„Aber, sie waren wie vom Erdboden verschluckt, niemand wusste wo sie waren, nicht einmal der Abteilungsleiter. Erst als sie wieder da waren, setzte er mir diese Geschichte von dem Familienbesuch vor! Die vertuschen etwas, genau wie bei Vega. Als sie anfing komisches Zeug zu reden, haben die sie verschwinden lassen und ihr eine Gehirnwäsche verpasst. Jetzt sagt sie so gut wie gar nichts mehr.
Und die Sache mit meiner Nachbarin? Ich sah wie sie vom Balkon stürzte, ich hab es genau gesehen! Aber sie war weg, einfach verschwunden ... und dann war sie wieder da ... als wäre sie in ein schwarzes Loch gefallen. Ich glaube, die Anderen hatten auch einen Unfall - einen Autounfall. Warum sollten wir sonst einen neuen Firmenwagen bekommen?“
„Beruhige dich. Dein Verstand spielt dir nur einen Streich. Du musst auf mich hören.“
„Ja ... Sie haben recht. Sie sind wieder da und ihnen geht es gut, das ist das Wichtigste.“
„So ist es. Es freut mich zu sehen, dass du auf dem Weg der Besserung bist. Schon in ein paar Wochen könnte unsere letzte Sitzung sein, und dann, bist du mich für immer los, nicht wahr?“
Der Doktor lachte.
„Als Teil deines neuen Fortschrittes, könnten wir die Dossierung deiner Medikamente anpassen. Du nimmst doch deine Medikamente, oder? Sie sind sehr wichtig für deine Genesung.“
Der Doktor sah ihn über seine Brille hinweg an.
„Die Pillen schmecken nach Metall.“
„Das ist nur das Zink. Und außerdem heißt es: gute Medizin ist bitter. Nicht wahr?“
Der Doktor zückte, ein in braunes Leder gebundenes Notizbuch und verlor sich in Pharmazeutischen Fachbegriffen. Rho starrte an die Wand. Sein Blick fiel auf das Bild einer schwarzen Katze. Das Tier saß auf dem Fensterbrett eines geöffneten Fensters und blickte hinaus auf eine Großstadt.
„Rho? Rho, hier ist dein neues Rezept. Damit endet unsere heutige Sitzung, ich werde die Aufzeichnung so bald wie möglich an deine Firma schicken.“
Rho stand auf und verließ die Praxis des Doktors. Unbewusst fügte er sich in den Strom aus Menschen und trieb die Straße hinunter. Vorbei an den bunten Häusern und kleinen Cafés der Vorstadt, und immer tiefer in die Schatten der Wolkenkratzer. Um ihn herum, fröhliche Menschen die einander grüßten ohne sich zu kennen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Traumwandlerisch blickte er sich um und flüsterte: „Sigma.“
„Worauf wartest du“, fragte sein Freund, „lass uns reingehen. Die Arbeit ruft.“
„Sigma“, wiederholte er, „wo warst du?“
„Was meinst du?“
„Wo warst du?! Seit Tagen versuche ich dich zu erreichen. Niemand wusste wo du bist!“
„Beruhige dich. Ich war nur Zuhause, ein kleiner Besuch bei der Familie. Meine Mutter lässt dich grüßen.“
„Nein. Nein, du warst nicht zu hause und du warst auch nicht bei deiner Mutter, ich habe vor zwei Tagen mit ihr telefoniert und sie hatte keine Ahnung wo du bist! Sigma, sag mir wo du warst!“
„Ich ... war Zuhause ... bei meiner Familie. Sonst nichts.“
„Du lügst. Du lügst! Arbeitest du mit denen zusammen? Wo bringen sie die Leute hin? Bin ich der Nächste?!
„Du bist verrückt!“
„Ich bin nicht verrückt! Diese Welt ist es. Kannst du es nicht sehen? Die Menschen und wie sie sich benehmen, das alltägliche Leben, die leeren Spielplätze.“
Rho wurde ruhiger.
„Kannst du dich an deine Kindheit erinnern?“
„Ja ... natürlich kann ich mich an meine Kindheit erinnern. Ich hatte eine wunderschöne Kindheit.“
„Ja ... die hatte ich auch - die hatten wir alle. Sag mir, wie geht es deinen Großeltern?“
„Sie sind beide wohlauf, wieso fragst du mich so was?“
„Wann hast du das letzte mal ein Kind gesehen? Oder eine schwangere Frau? Wann hattest du deinen letzten Unfall? Wann warst du das letzte mal im Krankenhaus, als Patient oder zu besuch? Wann warst du das letzte mal auf einer Beerdigung?“
„Ich war noch nie auf einer Beerdigung.“ - „Niemand war jemals auf einer Beerdigung!“
Rho ließ von seinem verwirrten Freund ab und beobachtete die vorbeifahrenden Autos.
„Du redest wirres Zeug. Du solltest zu jemandem gehen der dir helfen kann, einem Psychiater vielleicht. Wir finden da schon jemanden.“
„Was glaubst du kommt nach dem Tod? Wo gehen wir hin?“ Er machte eine Schritt auf die Straße.
„Nein!“, schrie Sigma.
Rho öffnete die Augen. Es war schwarz um ihn herum, ein paar schwache Lichtpunkte hingen über ihm. Sein Kiefer fühlte sich merkwürdig verschoben an, der Rest seines Körpers war taub.
„Hallo ... ist hier jemand? Ich kann mich nicht bewegen!“ Die Lichter wurde heller. Der Schein blendete ihn. „Wo bin ich? Was ist das für ein Ort?“ Mechanische Arme über ihm begannen zu zucken. „Was ist das für ein Geräusch?“ Die Arme senkten sich auf seinen Körper. Scharfe Skalpelle zerschnitten seine künstliche Haut - doch er fühlte keinen Schmerz. „Nein! Stopp! Aufhören!“ Eine schwarze, zähe Flüssigkeit trat hervor als die Hautstreifen von den Maschinenteilen gezogen, Schrauben gelöst und Gliedmaßen demontiert wurden. „Hilfe! Bitte, helft mir doch! Ich will nicht sterben! Ich will leben!“
„Montag, dreißigster August. Sitzung: Nummer 5. Patient: Rho. Hallo, Rho. Wie war deine Woche?“
„Sie war sehr schön, ich denke der Besuch bei meiner Familie hat mir gut getan.“
Copyright: Marcus Brasse, August 2016