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- 16.08.2003
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Schnee
Es war ein kalter Winter. Doch das ist es nicht, was ihn mir im Gedächtnis festkettete. Es war der schönste und zugleich der schlimmste Winter meines Lebens.
Anna und ich waren glücklich, wir waren verliebt. Sie war das unscheinbare Mädchen, dass auf dem Schulhof stets alleine stand. Und ich, ich war eben Lynn, die beliebteste Schülerin der Klasse und zudem Schulsprecherin. Schon zwei Jahre gingen wir auf die selbe Schule Man sollte meinen, dass Anna mir schon früher auffiel, doch erst in diesem kalten Winter spürte ich wie warm mir wurde, wenn ich sie sah, wie traurig ich wurde, wenn ich sah, dass sie lautlos weinte.
Es war der erste Tag in diesem Jahr, an dem der Schnee so tief war, dass man darin hätte verschwinden können, ohne das jemand bemerken würde, dass man je auf dieser Erde gelebt hatte. Dieser Tag veränderte mein Leben. Auf dem Schulhof stand ich umringt von Jungen, die nicht wussten, dass sie niemals eine Chance bei mir hätten. Ich stand da, und sie redeten mit mir, doch ich hörte nur ein leises Flüstern, denn ich war in meinen Träumen versunken als ich Anna entdeckte. Sie saß da und spielte mit ihrem Haar, wie sie es oft tat. Dieser Tag war so schön, aber er war nicht vollkommen, denn ich war nicht bei Anna.
Doch so sollte dieser Tag nicht zuende gehen, und so ging ich zu ihr und sprach sie an. Sie erschrak, und als sie zu mir blickte tat ich es ihr gleich. Sie hatte eine dicke Lippe und ein blaues Auge, ich wusste, die Jungs, die mich so anhimmelten, hatten sie wiedereinmal geschlagen. Niemand mochte sie, doch, ich mochte sie, ich liebte sie. Wir sprachen nicht viel, doch es war schön, in ihrer Nähe zu sein. Sie war so ängstlich, jedes Wort, das sie sprach kam einem Wimmern gleich. Doch ich war glücklich.
Tage vergingen. Jeder Tag machte meine Liebe zu Anna größer. Und jeder Tag verletzte sie mehr. Sie vertraute mir, aber je öfter ich sie sah, desto mehr schien sie zu verblassen. „Bis sie irgendwann verschwindet“, dachte ich, „bis ihre Küsse eines Tages, wie die eines Geistes sein werden.“
Ich liebte Anna, und Anna liebte mich, aber zwischen uns lagen Welten. Wir taten alles füreinander, doch verstanden habe ich sie nie, ich habe sie nur geliebt. Ich kämpfte, dass ihre Tränen eines Tages im Schnee vergehen und sie nie mehr weinen muss. Doch der Kampf war so sinnlos, wie ich erst spät erkannte.
Es war ein kalter Wintermorgen. Wiedereinmal lag der Schnee hoch. Es war ein Sonntagmorgen, ich wusste wo Anna war. Wir hatten nicht vor uns heute zu treffen, aber es zog mich zu ihr. Immer schneller lief ich in Richtung Friedhof, wo Annas Mutter begraben lag. Jeden Sonntag kam sie hierher um sich bei ihrer toten Mutter trösten zu lassen.
Ich trat durch das Tor, hinein in das Reich der Toten, hinein in Anna´s Reich. Meine Schritte wurden vorsichtiger, langsamer, ohne dass ich es gewollt hätte.
Ich kam zum Grab von Anna´s Mutter, doch Anna fand ich nicht. Ich spürte nur, dass etwas geschehen war, etwas was mich zum weinen brachte. Ich kniete nieder und schlief ein. Erst Stunden später erwachte ich, liegend auf dem kalten Grab. Ich hielt etwas fest in meinen Armen. Es war Anna. Sie war tot. Unter dem Schnee lag sie halb begraben. Sie war verschwunden, niemand würde sich je daran erinnern, dass sie auf dieser Erde gelebt hatte. Niemand außer ich.