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Schnaki auf Futtersuche
„Mensch, schon so dunkel!“, rief das kleine Schnakenmädchen Schnaki erschrocken und rieb sich verschlafen die Augen. „Ob es noch etwas zum Essen gibt da draußen? Mal sehen.“
Schnell bewegte es seine kleinen Flügel, die während des Schlafes etwas steif geworden waren.
„So, das muss genügen“, summte sie vor sich hin und flog vorsichtig zwischen den Ästen des stacheligen Wacholderstrauches hindurch. Auf einem der äußeren Stachel machte die Schnake eine kurze Rast und sah sich in der Umgebung um.
„Gott sei Dank, es sitzen noch einige Leute auf dem Balkon nebenan. Sie haben sogar eine Lampe an. Extra für mich, damit ich mich nicht verfliegen kann.“
Glücklich darüber, ihre erste Mahlzeit gefunden zu haben, hob Schnaki ab und steuerte geradewegs auf die beiden Menschen zu, die gemütlich Arm in Arm den milden Sommerabend genossen. Vor ihnen standen zwei Gläser mit einer roten Flüssigkeit.
„Ob das Blut ist? Hoffentlich, denn dann muss ich niemanden stechen“, freute sich Schnaki und landete auf dem Rand des einen Glases. Doch wie sollte die kleine Schnake an das rote Etwas gelangen, ohne darin zu ertrinken?
Plötzlich entdeckte sie eine kleine Pfütze auf dem Tisch neben dem zweiten Glas. „Hach, besser kann es gar nicht kommen.“ Mit einer schnellen Kehrtwendung drehte sie ab und landete neben der roten Pfütze, rollte sofort ihren langen Rüssel aus und tunkte ihn in die Flüssigkeit hinein.
Doch bevor sie daran ziehen konnte, hatte die junge Frau sie bereits entdeckt.
„Schau mal!“, rief sie. „Schon wieder diese Schnaken. Können die uns nicht in Ruhe lassen?“
Ihre Stimme klang ziemlich böse und schon sah das Schnakenmädchen einen großen Schatten auf sich zu kommen. Eine schnelle Drehung, und es war der zuschlagenden Hand knapp entkommen.
Außer Atem hockte sich Schnaki einige Meter entfernt von dem Pärchen auf die Holzlatten des Balkongeländers.
„Puh, noch mal Glück gehabt“, atmete sie auf.
„Na, das ging ja noch mal gut“, ertönte eine piepsende Stimme neben ihr.
Schnaki sah zur Seite und erblickte ihre Freundin Schnicki, die eben auf der anderen Latte gelandet war.
„Das kannst du laut sagen“, entgegnete Schnaki. „Und dabei war ich so nahe an meinem Abendbrot. Es lag direkt vor mir auf dem Tisch. Ich hätte die beiden Menschen noch nicht einmal stechen müssen. Aber nein, sie haben mir nichts gegönnt.“
„Wolltest du etwa die rote Flüssigkeit auf dem Tisch auflecken?“, fragte sie Schnicki. Als ihre Freundin nickte, lachte sie nur: „Gut, dass du das nicht probiert hast. Das war nämlich Rotwein.“
„Rotwein, was ist denn das? Es sah aus wie Blut.“ Fragend sah Schnaki sie an.
„Rotwein ist eine Flüssigkeit mit viel Alkohol", erzählte Schnicki.
„Alkohol? Alkohol...Das Wort kenne ich irgendwo her“, grübelte Schnaki.
„Na klar. Erinnerst du dich nicht mehr, was vor zwei Tagen geschah, als da unten im Garten eine große Menschenparty stattfand?“, half ihr Schnicki auf die Sprünge und grinste dabei frech.
„Stimmt“, bestätigte ihre Freundin. „Da haben die Menschen auch so ein rotes Zeug getrunken und sind nach einiger Zeit ziellos herum gefallen, haben schrill gelacht und sich wirklich seltsam benommen.“
„Ja, das stimmt, Schnaki. Wenn du den Rotwein auf dem Tisch aufgesaugt hättest, wärst du wahrscheinlich geflogen wie ein dicker Brummer. Denn von zuviel Alkohol können so kleine Schnaken wie wir es sind nicht mehr gerade ausfliegen und kommen nicht mehr nach Hause. Davor hat mich meine Oma gewarnt und die weiß so was, denn sie ist alt und schlau."
„Dann kann ich ja froh sein, dass der Mann nach mir geschlagen hat und ich verschwinden musste. Aber wo bekomme ich jetzt mein Abendessen her?
Denn Hunger habe ich immer noch."
„Los, flieg mir nach“, lud Schnicki sie ein. „Wir brauchen nur zwei Häuser weiter fliegen. Dort sitzt jeden Abend ein kleiner gemütlicher Mann im Garten auf seinem Liegestuhl. Der hat besonders süßes Blut. Ich habe ihn mal einige Zeit beobachtet. Er steckt öfters ein Stück Schokolade in den Mund. Ob es daran liegt, dass sein Blut so vorzüglich schmeckt?" Sie rieb sich mit den Vorderbeinen genüsslich über den Bauch. "Hhmmm."
Die beiden jungen Schnaken hoben ab, flogen einen kleinen Bogen um einen hohen Baum und verschwanden im Garten des Nachbarhauses.
„Siehst du, dort unten sitzt er, wie jeden Tag.“ Schnicki zeigte nach unten auf die Wiese, wo auf einer Liege ein Mann mit kurzen Hosen und T-Shirt saß und gerade nach einem neuen Stück Schokolade griff.
„Wow“, staunte Schnaki. „Er hat ja gar keine Haare auf dem Kopf.“
„Ist doch ein idealer Landeplatz für uns, findest du nicht?“ Grinsend setzten beide Schnaken zum Landeanflug an.
"Du musst nur aufpassen, wenn du deine Beine aufsetzt. Ist ganz schön glatt da oben. Ich glaube, er poliert ständig seine Glatze.“ Schnicki lachte laut auf, drehte noch eine Kurve und platzierte sich vorsichtig auf dem Kopf des Mannes.
Schnaki versuchte ebenfalls ihr Glück. Doch als sie die spiegelglatte Oberfläche berührte, rutschte sie ab und segelte nach unten.
„Oh, oh“, rief sie ängstlich und zappelte kräftig mit ihren Beinen in der Luft, konnte sich aber am abstehenden Ohr festhalten. Dort ruhte sie sich einen Moment von der Rutschpartie aus.
„Ich habe es dir ja gesagt. Auf der Glatze landen ist nicht leicht“, rief Schnicki nach unten.
„Ja, ich habe es gemerkt. Doch dass es so glatt ist, hätte ich nicht gedacht“. Schnaki kletterte am Kopf hinauf und erschien schnaufend neben ihrer Freundin.
Gerade als sie sich erschöpft eine kleine Pause gönnen wollte, bewegte der Mann seine Hand in die Richtung der beiden Freundinnen und wischte sich über die Glatze.
So schnell sie konnten erhoben sich die Beiden in die Luft und drehten ab.
„Hat leider nicht geklappt“, murmelte Schnaki traurig. „Wieder kein Abendessen. Da haben es unsere Brüder doch leichter. Sie fliegen zu einer Pflanze und saugen sich mit ihrem Saft voll, bis sie platzen. Die brauchen sich nicht mit so Schlägern herum ärgern, wie wir Mädchen.“ Langsam flog sie weiter.
„Jetzt wart doch mal!“, rief ihre Freundin und folgte ihr. „Wir probieren es noch einmal. Jetzt landen wir auf seinem Hemdkragen und krabbeln dann auf seinen Hals. Siehst du dort die zwei kleinen Speckfalten? Da ist er nicht so empfindlich. Und wir können in Ruhe futtern. Was hältst du davon?“
„Gute Idee. Versuchen wir es.“
Dieses Mal klappte es prima. Schnaki ließ sich auf einer und Schnicki auf einer anderen Hautfalte nieder. Dann rollten die beiden Schnaken ihre Rüssel aus und stachen in die Haut.
„Meinst du, der merkt es nicht?“, fragte Schnaki ängstlich.
„Hörst du nicht, wie der schnarcht?“, antwortete Schnicki. „Der stört uns so schnell nicht mehr. Lass dir Zeit und genieße dein Abendessen. Na, wie gefällt dir mein Geheimtipp?“
„Nicht schlecht, vor allem süß und ganz ohne Alkohol“, lachte Schnaki und steckte ihren Rüssel erneut unter die Haut des Mannes.
Nach einer Weile atmete sie tief aus, rollte ihren Rüssel ein und setzte sich gemütlich auf. „Puh, war das gut. Sieh mal, wie dick mein Bauch geworden ist. Und geschmeckt hat das, wirklich lecker.“
„Siehst du, war doch ein guter Vorschlag von mir, die Landung noch mal zu versuchen“, lachte Schnicki. „Aber nun müssen wir uns langsam auf den Heimweg machen. Ich glaube, unser Futterlieferant wacht gleich auf und was er dann mit uns macht, das will ich mir gar nicht vorstellen.“
Schnell schlugen die beiden Schnaken mit ihren Flügel und erhoben sich in die Lüfte. Schnaki rief: „Vielen Dank für das Abendessen, Schnicki, und mach's gut bis morgen. Ich suche mir erstmal ein ruhiges Plätzchen für die Nacht, denn zum Futtern brauche ich jetzt für einige Stunden nichts mehr.“
Mit diesen Worten winkte sie ihrer Freundin mit einem Flügel zu und drehte ab, um gleich darauf wieder in ihren Wacholderstrauch zu verschwinden. Dort kuschelte sie sich in eine Astgabelung und schlief satt und zufrieden ein.