Schmied
Schmied drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus und starrt in die Leere der aschfahlen, spätherbstlichen Stadt. Es ist kurz nach zwei; nun trudeln auch die letzten Angestellten wieder an ihrem Arbeitsplatz ein. Ihre Gesichter so aschfahl, grau und verblichen wie die Stadt. Die längst aus der Mode gekommenen Krawatten liegen bedrohlich eng um ihre Hälse. Jeglicher Hauch von Leben verfliegt, sobald die Tastaturen anfangen die immerselbe Melodie zu spielen, aufs Neue die Akten gewälzt werden und zum hundertsten Mal ein Erkältungshusten den Raum flutet. Von jener Flutung wie aus dem Schneewittchenschlaf gerissen richtet Schmied seinen Blick auf den Bildschirm. Lediglich verschwommene Zahlen und Buchstaben sind zu sehen. Schmied setzt sich seine Brille auf - weißer Rahmen, runde Gläser – und sieht erneut auf den Bildschirm. Diesmal sind sowohl Zahlen als auch Buchstaben deutlich zu entziffern. Schmied tippt einige Wörter ein, nur um diese daraufhin mit der ‚Backspace‘-Taste wieder zu löschen. Am unteren Bildschirmrand offeriert eine mit Glubschaugen versehene Büroklammer ihre Dienste, von der Schmied jedoch keinen Gebrauch machen möchte. Eine pixelige, arrogante Büroklammer, die ihrem Meister und Herrn die Handhabung mit einem Office-Programm erklärt, wäre wohl das letzte, wonach Schmied gerade der Sinn stünde. Er blickt auf die Uhr. Sie sagt: 14.06 Uhr. Der große Zeiger hat sich gegen ihn verschworen, ganz zu schweigen vom kleinen Zeiger, welcher ein hinterhältiger Komplize des großen Zeigers sein muss, um nun gemeinsam ihr teuflisches Treiben zu zelebrieren. Nachdem der Sekundenzeiger das Ziffernblatt einmal umrundet hat, springt Schmied auf, schnappt sich seinen Mantel und stakst zügig in Richtung Ausgang.
In der kleinen, großen Eingangshalle hängen Bilder von Mitarbeitern des Monats, darüber ein französisch-absolutistisch anmutendes, überdimensioniertes Porträt des CEO, umrahmt von Fotografien allmöglicher Executives, Administratives und Seniors. Diese waren es auch, die darüber debattierten, welche Strafe für Schmieds ungebührliches Betragen aufzuerlegen sei. Manchmal ließ er nämlich den obersten Knopf seines Hemdes unverschlossen, sodass er, so der Aufsichtsrat, eine Schande für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der Firma darstellte. Nachdem Schmied jedoch einwilligte, den Knopf fortan züchtig zuzuknöpfen, belief sich seine Strafe nur auf eine Gehaltskürzung von 40 Prozent, was als durchaus milde aufgefasst werden darf, wurde einer seiner Kollegen doch schon glatt rausgeschmissen, weil er sein Hemd nicht ordentlich in die Hose geschoben hatte.
Schmied knöpft den Mantel zu und stellt rebellisch den Kragen auf. Der Verkehrslärm hallt durch die novemberliche Kälte. Auf den Parkplätzen stehen dieselben Fahrzeuge wie gestern und vorgestern. Er kann sich gar nicht daran erinnern, je andere Autos als den schwarzen Passat und den cyanitfarbenen Benz auf den zwei Firmenparkplätzen vor dem Eingang gesehen zu haben. Wie zwei Spyhnxe wachen sie vor dem Eingang, auf dass niemand Ungebetenes hinein- und auch keiner unerlaubt herauskommt. Schmied geht einige Schritte die Straße entlang und versucht dabei mit seinen Augen alle noch verblieben Farben in seiner Umgebung aufzusaugen. Auf dem Boden das satte, kräftige Braun eines verschütteten Kaffees, das von blassen Gelbtönen gezierte Kopftuch einer türkischen Frau, die grell rotgefärbten Haare eines bleichen Mädchens, das bunte Plakat eines Zirkus, auf dem ein sibirischer Tiger und ein Dompteur mit Peitsche abgebildet sind. Rilkes ‚Panther‘ kommt ihm in den Sinn. Schmied kramt die Zigarettenschachtel aus seiner Manteltasche hervor und fischt die letzte Zigarette heraus. Zögernd mustert er den Glimmstängel von der weißen Spitze bis zum orangefarbenen Ende und entschließt sich kurzerhand, ihn für später aufzubewahren.
Inzwischen hat Schmied die Hauptstraße erreicht - zu seiner Linken wirbt ein Reisebüro mit dem makabren Spruch „Wenn schon ausgebrannt, dann von der Sonne“. Zu seiner Rechten befindet sich die Buchhandlung Krüger, zu der er früher immer in den Mittagspausen gegangen war. Las Schmied damals gern Epikur, so vertiefte er sich zunehmend in die Büchern von Nietzsche, bis er eines Tages gar nicht mehr las und auch die Besuche bei Krüger einstellte. Heute steht das Schaufenster leer, Krüger musste schließen. An der Eingangstür klebt ein Zettel mit der Aufschrift „Zu vermieten“. Gleich daneben prangt eine riesige Reklametafel eines Job-Centers: „Ich arbeite gern für meinen Konzern“. Schmied kann sich ein Schmunzeln, das für einen kleinen Moment über sein Gesicht huscht, nicht verkneifen. Dabei ist es kein fröhliches Schmunzeln; eher ein trauriges, das angesichts der Tristesse des Alltags stellvertretend für den ganzen Leib kapituliert hat. In einer Apotheke verspricht ein Pappaufsteller mit einer Cartoon-Prostata darauf, dank sündhaft teurer Medikamente, nie mehr nachts rauszumüssen, der afro-amerikanische Straßenmusiker spielt die ganze Zeit „Don’t worry, be happy“ und auf den Straßen stehen Autos im Stau und geben ihr tägliches Hupkonzert. Schmied verlässt die Hauptstraße und als er in die Seitenstraße einbiegt, wird er fast von zwei Anzugmännern überrant, die vergnügt torkelnd rufen „Nur so lässt sich ein Bürojob ertragen“. Die beiden seltsamen Gestalten ziehen an ihren Tütchen und biegen um die Ecke.
Indes hat Schmied die Brücke erreicht, die über den breiten aber doch flachen Fluss führt. So manchem Müden und Matten bot der Fluss schon eine Heimat. Ein kleines Holzkreuz lehnt am Brückengeländer. Langsam schreitet Schmied in dessen Richtung, beugt sich über das Geländer und schaut hinunter zum Fluss. Das Wasser bahnt sich seinen Weg durch die zahlreichen, felsigen Engpässe, wodurch sich auf der Wasseroberfläche ein Schaum gebildet hat, wie bei einem Latte Macchiato. Das Rauschen klingt - wenn auch nicht sonderlich laut - trotzdem bedrohlich. Die Farbe des Wassers schwankt von dunkelgrün bis zu einem tiefen Schwarz, was jeglichen Anreiz, sich in die Fluten zu stürzen, zunichtemacht. Andererseits wissen die kleinen Stromschnellen durchaus zu gefallen, sie betören gar jeden, der auf sie herabschaut, als würden sie jeden einladen, mit ihnen mitzuschwimmen, sich als Tropfen von den Wogen des Wasser verschlingen zu lassen und eins zu werden mit der Natur. Wie schon öfters hört Schmied auch an diesem Tag die Sirenen des Flusses seinen Namen rufen. Wie das ächzende Kind des Erlenkönigs Töchter zu sehen vermeinte, so erkennt auch Schmied in den von Strömungen umbrandeten Felsen und den quirligen Stromschnellen die Töchter von Gevatter Fluss, die ihn in sein Reich locken wollen, auf dass sie all seine Sorgen und all das Leid hinfortnehmen mögen.
Schmied atmet schwer, sein Blick auf den Fluss fixiert, die Hände in den Manteltaschen vergraben, um noch das letzte bisschen Wärme aufzusaugen, ehe es in die ewige Kälte geht. Dabei ertastet er eine rechteckige Schachtel und beim Herausziehen jener stellt sich heraus, dass es sich um eine Zigarettenschachtel handelt. Weiße Schachtel, ein roter Kreis vorne drauf mit einer weißen Aufschrift versehen. Etwa fünf Sekunden lang starrt Schmied regungslos auf die Schachtel, bis sich eine seiner Mundwinkeln hebt; daraufhin die zweite, sodass sich sein zuvor schlaffes, müdes Antlitz zu einem fröhlichen Gesicht verformt. Zitternd führt Schmied sich die letzte darin enhaltene Zigarette an den Mund, und das abgenutzte Feuerzeug an die Zigarette. Nach einigen Entzündungsversuchen leuchten die Tabakkrümel auf und glimmen anschließend vor sich hin. Schmied nimmt einen kräftigen Zug und stößt den Rauch danach genüsslich wieder aus. Dabei tritt er schleunigst vom Geländer weg und eilt in die selbe Richtung, aus der er gekommen ist - mit zügigen Schritten zurück auf die Hauptstraße; fröhlich schmeißt er dem selben Straßenkünstler ein Geldstück in seinen Hut, ohne dass jener es bemerkt hätte, schlendert an Apotheke und Reisebüro vorbei, doch je länger er die Hauptstraße entlangläuft, desto eher wird Schmied bewusst, dass er nicht das Leben, sondern den Tod gewählt hat. Zumindest füllt sich sein Inneres wieder mit Verwesung, Fäulnis und Lähmung. Wehleidig blickt Schmied der Buchhandlung Krüger hinterher, bis er wieder die Straße erreicht, auf die er zuvor hinausgetreten war. Der verschüttete Kaffee hat währenddessen sein tiefenbraun eingebüßt und ist nahezu vollständig im Boden versickert, sodass nur noch ein dunkler Fleck an die Katastrophe erinnert, die sich noch einige Momente zuvor an dieser Stelle ereignet hatte. Auch der aromengesättigte Geruch ist verflogen. Stattdessen liegt wieder der bewährte Gestank von Autoabgasen und verdorrtem Laub in der Luft. Die Pappeln, das letzte Bollwerk der Natur in dieser Straße, haben ihr Blätterkleid abgeworfen. Schmied stellt sich vor, dass der Laub die Tränen der Bäume seien, die dem Sommer nachtrauern. Die dürren, blattlosen Äste der Pappel gleichen Schmieds dürren Fingern, die zitternd die Zigarette umfassen, nicht dass diese es auch noch den Blättern gleichtut und zu Boden fällt. So, als würde sie die Zeiten betrauern wollen, an denen Schmied sie noch mit kräftigen, gesunden Fingern festhielt, als sie noch als Belohnung für einen überstandenen Arbeitstag gedacht war und nicht als Voraussetzung dafür, dass dieser überhaupt in Angriff genommen wird. Doch die Toten kehren nicht wieder, es nützt nichts sie zu beweinen.
Schmied blickt auf die Straße zurück, die bis auf einen vergilbten Opel Corsa verlassen scheint. Ob er umkehren soll, fragt er sich. Die Brücke ist ja nicht weit, zumal es ja noch nicht einmal die Brücke sein muss, es geht ja auch unkomplizierter, man muss sich nur die Pulsadern…plötzlich vibriert es in Schmieds Hosentasche. Erst einige Augenblicke später befreit er das Gerät aus der Tasche, doch anstatt ranzugehen, starrt er regungslos auf den Bildschirm. Das Bild eines grimmig dreinblickenden Schlipsträgers erstreckt sich über das gesamte Display. Die Mailbox setzt ein. Es tönen die aufgebrachten Worte einer verärgerten Stimme durch den Lautsprecher. In seiner Benommenheit versteht Schmied bloß die Worte „Arbeitsplatz“ und „schneller gekündigt, als Sie bis drei zählen können“. Schmied muss sich also entscheiden: Weitergehen und weitermachen wie bisher, oder zurückgehen und nie mehr wiederkommen. Doch seine Beine scheinen schon ohne Absprache mit dem übrigen Körper eine Entscheidung getroffen zu haben. Wie ferngesteuert bewegen sie sich weiterhin auf das große, graue, grässliche Gebäude zu. Auch wenn seinem Verstand die Laufrichtung zuwider ist und sich mit aller Macht dagegen zu sträuben versucht, so gelingt es Schmied doch nicht, sich dem Sog zu entziehen.
Die Türen öffnen automatisch, als Schmied wieder das Gebäude betritt, die Zigarette, von der noch ein kleiner Stummel übrig geblieben ist, klemmt zwischen Zeige- und Mittelfinger. Wie ein Kriegsgefangener den Feind an ihm entlang paradieren sehen muss, so muss er resigniert den Sieg dieser seelenlosen Krawattengesichter einsehen. Da hilft auch kein „Don’t worry, be happy“ mehr. Sinkenden Mutes nähert er sich seinem Schreibtisch; wie sich unterschiedliche Pole zweier Magnete abstoßen, so widerstrebt es seinem ganzen Inneren sich auf den Bürostuhl zu setzen. Der Körper plumpst auf den Drehstuhl - Schmied nimmt einen letzten Zug und holt den Aschenbecher hervor.