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Schmetterlingssturm
"Predictability: Does the Flap of a Butterfly's Wings in Brazil set off a Tornado in Texas?"
(Edward N. Lawrenz, 1972)
Köln, 21. August 2154, 10:21
“Sie haben WAS?”
Morinelli war fassungslos. Etwas derart Gefährliches hätte er niemals von seinem besten Mitarbeiter erwartet.
“Ich habe es mitgenommen, Professor”, sagte Conrad Zebecki stolz.
“Wie konnten Sie nur”, empörte sich Morinelli. “Sie kennen doch die temporalen Gesetze.”
Morinelli wanderte im Büro auf und ab. Er musste nachdenken, schnell eine Lösung finden. Müde massierte er die Augen hinter der eckigen Brille.
Zebecki stand in der Mitte des Raumes und blickte den weiten Schritten des Professors hinterher. Er hatte in den Jahren, die er nun schon an der Technischen Universität Köln arbeitete, lange auf einen günstigen Augenblick gewartet. Heute hatte er sich ein Herz gefasst. Er hatte alle Argumente seines heimlichen Projekts noch einmal geprüft und sich seine Antworten zurechtgelegt. Jetzt oder nie.
“ Ich kenne die Hypothesen und ich...”, sagte Zebecki.
Morinelli schnappte nach Luft. “sind nicht einfach nur Hypothesen, mein Freund! Das sind seit über vierzig Jahren die etablierten Grundlagen unserer Arbeit”, ereiferte sich Morinelli.
“Durch die erfolgreichen sogenannten 'Zeitreisen'...“ Morinelli rümpfte die Nase.
„...hat sich dieses Institut in den letzten Jahren einen sehr guten Ruf erarbeitet. Keine Regierung wagt es mehr, unsere Forschungsetats zu kürzen. Aber noch leben wir vom Geld anderer Leute, erinnern Sie sich manchmal daran?”
“Aber ich habe bewiesen, dass die Grundlagen falsch sind und ich ...”
“Ach Unsinn!”, unterbrach ihn der Professor. “Sie kommen mit einer phantastischen Idee ohne irgendeinen Beweis daher. Und riskieren mit einer nicht-dokumentierten Entnahme ungeahnte temporale Paradoxa.”
Zebecki klopfte das Herz bis zum Hals. Er brauchte die Zustimmung seines renommierten Mentors als letzten Schritt zu Ruhm und Anerkennung. Er atmete ein, aber die Aufregung schnürte ihm den Hals zu. Er ließ den Blick aus den großzügigen Fenstern schweifen, um Zeit zu gewinnen. Direkt gegenüber, auf der anderen Rheinseite, dominierte die Baustelle der neuen Kathedraltürme die Skyline der Kölner Innenstadt. Nur acht Monate nach dem Abriss des alten Doms kündeten bereits 287 Stockwerke von der Meisterleistung der Bauprogrammierer. Der Anblick machte Zebecki Mut, für seine eigenen Träume zu kämpfen.
“Ich habe Beweise, Professor”, sagte er.
Morinelli blickte Zebecki stumm an. Seine Augenbrauen zogen sich so hoch, dass sie über seinem Brillengestell zum Vorschein kamen.
“Sie haben einen Beweis?”
“Nicht nur einen, Professor. Mit dieser Entnahme habe einunddreißig.”
“Einunddreißig?”, keuchte Morinelli.
“Ich habe alles dokumentiert, Professor.” setzte Zebecki eilig nach. “Nicht eine einzige signifikante Veränderung. Alle Artefakte sind temporal stabil. Die Oszillationen zeigen eindeutig ein primäres Feld, dass den natürlichen Flux der Jetzt-Objekte isoliert.”
Zebecki unterstrich begeistert jedes seiner Worte mit hektischen Gesten.
”Verstehen Sie, was das bedeutet? Jedes mal heilt die Zeit sich selbst, Professor. Es gibt keine Interaktion. Und genau das ist der Grund, warum wir nicht von einem Paradoxon zum nächsten stolpern!”
Morinelli sagte nichts. Er verschränkte die Arme und blickte seinen Assistenten nachdenklich an. “Schöne Idee, aber sie funktioniert nicht”, sagte er schließlich.
“Mit Ihrer Cowboy-Methode haben Sie jedes mal eine alternierende Realität geschaffen, die sie dann als ihre eigene Vergangenheit während ihrer Rückkehr erleben.” Morinelli zeichnete mit dem Finger den Taumelflug einer imaginären Hummel in die Luft.
“Anders ausgedrückt: Sie haben auf ihrem Weg eine Abzweigung genommen und können sich jetzt nicht mehr erinnern. Genau genommen existiert die Abzweigung für uns alle nicht mehr. Das ganze Universum um uns herum könnte sich bereits an Ihren Eingriff angepasst haben, und wir würden es nicht mehr bemerken, weil unsere eigene Vergangenheit nur aus einer einzigen Zeitlinie bestehen kann.”
Zebecki war blockiert. Morinelli’s Kritik war völlig willkürlich ins Blaue geschossen. Aber ihm fiel das passende Gegenargument nicht ein. Mit jedem Augenblick ohne schlagfertige Antwort entglitt ihm die Initiative in dieser Debatte. Er musste etwas sagen, irgend etwas. Er ging näher auf Morinelli zu, aber der Professor hob abwehrend die Hand.
“Es reicht, Zebecki.“
Morinelli setzte sich auf den hohen Stuhl hinter dem Schreibtisch, stützte die Ellenbogen auf die Kunstholzplatte und vergrub das Gesicht in den Händen.
“Ihr Verhalten ist absolut verantwortungslos. Geben Sie mir einfach Ihre ganzen Forschungsergebnisse und ihre Büroschlüssel. Der Hopper ist natürlich tabu. Sie nehmen sich erst mal ein paar Tage Urlaub und ich werde in Ruhe nachdenken, wie ich das der Ethik-Kommission erklären soll. Ich kann nur für Sie hoffen, dass ich in Ihren Unterlagen genug Entlastungsmaterial finde.”
Zebecki konnte vor Wut kaum atmen, aber mühsam drückte er den Zorn hinunter, um nicht die letzte Chance für seine Arbeit endgültig zu vernichten. So ruhig er konnte nahm Zebecki seine Schlüssel aus der Tasche und legte sie auf Morinelli’s Schreibtisch.
********
Der Sonnenuntergang warf purpurnes Licht in Zebecki's Büro. Professor Morinelli stand lange vor der 'Schmetterlingssammlung' seines Assistenten und ließ den Blick über die Artefakte schweifen.
Eigenartig.
Er und Zebecki kannten sich schon so lange, aber das Büro seines Kollegen hatte er immer gemieden. Im Vergleich zum Chaos, dass Morinelli für gewöhnlich um sich herum aufbaute, wirkte dieser Arbeitsbereich klinisch ordentlich. Keine Unterlagen auf dem Schreibtisch. Keine Papierstapel auf dem Boden. Alle Bücher im Regal sauber sortiert wie die Glasröhren einer Rybkoff-Kaskade.
Morinelli strich mit den Fingern über die Artefakte. Jedes Objekt war sorgfältig mit den genauen Koordinaten seiner Herkunft beschriftet. Scheinbar belanglose Dinge, aber jeder kleine Stein konnte genau der Stein sein, über den jemand im falschen Moment gestolpert war. Oder der einen 50-Tonnen-Carrier in voller Fahrt aus der Spur geschlagen und damit eine junge Frau und ihre Tochter in den Tod gerissen hatte.
Seine Tochter.
Verspätet auf dem Weg zum Flughafen, weil er vergessen hatte, pünktlich aus dem Büro heraus zu kommen.
Morinelli verharrte mit ausgestrecktem Arm. Schuld stach in seiner Brust. Wie so oft in den letzten Jahren drückte er die Faust vor seine Augen und atmete tief ein und aus, bis er die Schmerzen wieder unter Kontrolle hatte. Er ließ die Faust wieder sinken. Das honigdunkle Licht der Abendsonne glänzte auf seinen nassen Fingern.
Morinelli fühlte sich betrogen. Seit Jahren rettet er sich von einem Tag zum anderen, suchte nach einen Weg, um trotz seines Verlustes weiterzuleben. Und jetzt musste er feststellen, dass sein ganzes Leben vielleicht das Produkt eines Assistenten mit einer Zeitmaschine und zu viel Ehrgeiz war. Das sein Schicksal eigentlich ganz anderes vorgesehen hatte.
Morinelli nahm das nächstbeste der Artefakte heraus, eine Glasröhre mit altertümlichen elektrischen Bauteilen, vielleicht aus einem alten Kommunikationsgerät. Er las die penible Handschrift auf dem Etikett. “Deutsche Transistorröhre, Kalatsch bei Stalingrad, Oktober 1942, (426 386 42 135).”
Er bräuchte diese Zahlen nur noch in die Steuerkonsole des Hoppers programmieren und das Artefakt wieder an seinen Platz setzen. Ihm schwirrte der Kopf vor all den Fehlern, die er dabei machen könnte. Genau deswegen waren solche Eingriffe verboten.
Er trug die Röhre über den Flur hinunter in den Generatorraum und bis zum Steuercomputer des Hoppers. Er könnte ja einen Test machen.
Nur aus Interesse.
Er tippte die Zahlen ein und beobachtete, wie sich die metergroßen Ringe des Hoppers drehten. Ein gewaltiger Kranz aus rotierenden Metallteilen formte sich inmitten des Raums. Der Geruch von Elektrizität hing in der Luft.
Morinelli dröhnte der Puls dumpf in den Ohren. Er drehte die Röhre weiter von einer Hand in die andere und lauschte dem Rauschen, mit dem die Ringe des Hoppers durch die abgestandene Luft wischten. Wenn er jetzt einfach ginge, wäre noch nichts Verbotenes passiert.
Aber dann kamen die Erinnerungen wieder.
Lichter, die in regennasser Nacht blinkten. Silbern glänzende Tücher auf einer Schnellstraße. Regentropfen ploppten. Auf dem Stoff hatten sich Pfützen gesammelt und unter dem Gewicht des Wassers zeichneten sich die Umrisse von dem ab, was ein Super-Transporter von seiner Familie übrig gelassen hatte.
Morinelli fasste einen Entschluss. Er würde nicht die Zeit verändern, er würde sie heilen. Er nahm die Röhre fest in die Hand und schritt durch die Ringe des Hoppers.
******
Köln, 14. Mai 2154, 11:06
“Sie haben WAS?”
Professor Leon Morinelli konnte nicht fassen, was er soeben gehört hatte.
“Ich habe sie mitgenommen“, sagte Conrad Zebecki und ging einige Schritte auf den Professor zu.
Der Professor hob ablehnend eine Hand und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Er richtete drohend den Zeigefinger auf Zebecki.
“Die temporalen Gesetze sind nicht erlassen worden, um Nachwuchswissenschaftler in ihrem gesunden Wettbewerbsgeist anzuspornen. Seit der amerikanischen Befreiung Asiens und Europas kann sich jeder Mensch wieder in Freiheit entfalten. Wer was kann, der wird auch was. Trotzdem sind manche Dinge einfach zu riskant.”
“Aber ich habe begründete Zweifel an den Gesetzen”, erwiderte Zebecki.
“Und deswegen haben sie zum Test mal was mitgenommen, nur um zu schauen, ob Ihnen das Universum nicht um die Ohren fliegt?”
Zebecki zögerte. Gerne hätte er noch einige weitere Versuche gemacht, aber die Zeit lief ihm davon. Erfolg war auch eine Frage des Timings. Er atmete noch einmal tief ein und antwortete:
“Genau genommen habe ich bereits einundzwanzigmal etwas mitgenommen und in keinem der Fälle konnte ich eine signifikante Veränderung beobachten.”
“Einundzwanzig?”
Morinelli keuchte und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er drehte schweigend den Wildledersessel zum Fenster, so dass er einen Blick über die Skyline von Köln schweifen lassen konnte. Dutzende von weiß-roten Sternenbannern wehten über der Stadt. Heute war Befreiungstag. Der Jahrestag des glorreichen Sieges über das so genannte Vierte Reich, dessen Armeen nach verlustreichen Schlachten überraschenderweise ganz Asien überrannt hatten. Und über allen Sternenbannern erstrahlte das Farbenspiel der Meteo-Schutzkuppel, an deren Elektrostatik sich die säurehaltigen Regenfällen der Außenzone entluden.
Doch Morinelli konnte den beruhigenden Anblick nicht lange auskosten. Zebecki trat aufgebracht an den Sessel heran.
“Professor, ich kann beweisen, dass die Zeitlinien nach jeder Störung in ein eigenes Gleichgewicht zurückkehren. Die Zeit heilt sich selbst.”
“Das beweist gar nichts. Sie sind Teil ihrer eigenen Zeitlinie. Wenn sie selbst die Linie ändern, dann ändert sich doch ihre gesamte Vergangenheit ebenfalls.”
Zebecki zögerte verwirrt.
“Aber das kann nicht sein“, entgegnete er. „Alle Artefakte weisen ein stabiles temporales Feld auf, der umgebende Flux wird perfekt gebeugt. Natürlich muss ich noch einige Tests durchführen.“
Morinelli sprang wieder auf. Der Sessel rutschte kratzend einige Zentimeter über den Boden.
“Unterstehen Sie sich!”
Jetzt wurde er wirklich wütend. Er hatte schon einige Konkurrenten in die Schranken verwiesen und von einem übereifrigen Assistenten würde er sich erst recht nicht übervorteilen lassen. Er riss sich die Brille vom Kopf und gestikulierte damit in Zebecki's Richtung.
“Junger Freund! Sie stellen da Theorien in Frage, die schon seit Jahrzehnten erfolgreich angewendet werden. Und zwar von sehr viel erfahreneren Wissenschaftlern als Sie es sind. Es ist einfach nicht möglich. Und nun Schluss damit.”
“Aber ich habe bewiesen, dass ...”
“Sie haben bewiesen, dass sie für diese Projektstelle ungeeignet sind. Die Zeit heilt sich keineswegs selbst, Zebecki. Jedes Ereignis hat direkte Konsequenzen für die Zukunft. Und die Konsequenzen für Ihre Zukunft stehen in den Stellenanzeigen der Transnet-Säulen. Die nächste ist übrigens gleich draußen vor dem Institut.”
*****
Morinelli sah ungerührt zu, wie sein Assistent aufgebracht das Büro verließ. Und als die Schritte schließlich im Aufzug verhallt waren und nur noch die Ventilatoren der Luftaufbereiter ihr rhythmisches Schleifen über die Gänge hauchten, ging Morinelli direkt in Zebecki's Büro hinüber. Tatsächlich fanden sich in einem Regal zu seiner Rechten, gleich hinter der Tür, eine fein säuberlich geordnete Reihe alltäglicher Gegenstände. Morinelli kochte vor Wut, dass er nicht schon viel früher auf seinen Mitwisser geachtet hatte. Aber dieser Fehler würde sich leicht wieder beheben lassen. Sobald das ganze Zeug weg wäre.
Er nahm den erstbesten Gegenstand zur Hand und las die kleinlichen Notizen auf dem Etikett. Wenigstens waren die Koordinaten für den Hopper korrekt. Morinelli ging hinüber zur Steuerkonsole und tippte die Daten in den Rechner. Elektrisches Summen füllte den Raum. Morinelli lächelte. Nach ein paar Zeitsprüngen würde alles wieder in Ordnung sein.
******
Köln, 03. Januar 2153, 08:22
“Sie haben WAS?”
Sie hatten die Ringe des Heiligen Zeitportals gerade verlassen. Zebecki setzte zu einer Antwort an, aber sie ging im Tosen einer erneuten Explosion unter. Die Wucht war nun schon so nah, dass die Glaskrüge in den Regalen klingelten. Professor Leon Morinelli duckte sich unwillkürlich unter dem Lärm und schritt hinüber zu den gepanzerten Fensternischen. Der Spalt dahinter erlaubte einen geschützten Blick auf die Kölner Innenstadt. Die Luftschiffe des Malteser-Ordens nahmen bereits Formation über den Hochhäusern ein und die königlichen Truppentransporter schwebten in Scharen nach Westen hinüber zur Front. Noch waren die Mayas weit entfernt, aber in den letzten Tagen glaubte Morinelli bereits einen ihrer gewaltigen Kriegsmaschinen am Horizont entlangstampfen gesehen zu haben. Doch noch hatten nur die Plasmagranaten ihrer Werfer die Stadt erreicht. Als sich der Lärm wieder gelegt hatte, setzte Zebecki erneut an.
“Ich habe ihn mitgenommen.”
Morinelli ging langsam zurück zu seinem Assistenten, der einen Holzbecher in den Händen drehte. Dem Professor wurde schwindelig, Übelkeit kroch in seinen Eingeweiden empor. Er hatte schon lange ein ungutes Gefühl mit Zebecki, aber diese Sünde gegen Jesus Chistus selbst erschütterte ihn zutiefst.
“Wie soll König Barbarossa den Kelch Christi finden und das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu seiner heutigen Größe führen, wenn Sie den Becher weggenommen haben?”, fragte Morinelli.
”Gott liebt die Starken, Professor. Die Mayas haben das begriffen, seit sie alle schwächeren Völker aus Amerika gejagt haben. Und in ein paar Minuten habe ich das Symbol des Heiligen Reiches im nächsten Riemann-Brenner vernichtet. Kein Reich mehr. Kein jahrhundertelanger Krieg. Die Mayas werden herrschen und die Geschichte der letzten zweitausend Jahre wird neu geschrieben. Und zwar von den Siegern.”
Der Professor rang mit der Fassung. Er hob flehend die Hände.
“Zebecki. Kommen Sie zur Besinnung. Der Hopper hat noch Reserven für ein paar Minuten. Zwei Kommandos, um das Heilige Portal wieder auf die alten Koordinaten auszurichten, und wir bringen den Gral einfach zurück.”
Zebecki hielt den Becher hoch über seinen Kopf und winkte damit dem Professor zu. “Aber Professor, so emotional?”
Morinelli bekam es mit der Angst zu tun. Das Böse, dass er all die Jahre bekämpft hatte, musste sich leibhaftig in seinem anmaßend grinsenden Assistenten manifestiert haben. Und er selbst hatte ihm erst die Tür geöffnet. Wenn seine Seele auch nur eine senfkornkleine Chance auf Erlösung haben sollte, so durfte er nicht zulassen, dass Zebecki mit seinem Verrat Erfolg haben würde.
Er stürmte vor, warf sich gegen den verblüfften Zebecki und noch bevor beide unsanft auf dem Boden aufprallten, riss er den Gral an sich. Sofort rappelte sich Morinelli wieder auf und lief zum Steuerpult. Er musste nur etwas Zeit gewinnen und den Hopper neu ausrichten, dann würde alles wieder gut werden. Das weiße Leuchten, dass vor ihm ein tiefes Loch in die Wand fraß, erschreckte ihn. Verblüfft blieb er stehen und sah an sich herab, aber er schien unverletzt zu sein.
Irritiert drehte er sich zu Zebecki um. Als er dann sah, wie sein Assistent einen der berüchtigten Emitter der Mayas in der Hand hielt, verließ Morinelli der letzte Mut. Der zweite Schuss würde ihn nicht verfehlen.
Morinelli sah seine letzte Chance. Er nahm den Gral schützend zwischen die Arme und warf sich, ohne zu zögern, in den Hopper hinein. Ohne Koordinaten konnte er nur beten, wo in Raum und Zeit er wieder auftauchen würde. Aber noch während die wütenden Schreie seines Assistenten hinter ihm verklangen schwor sich Morinelli, seinen Fehler irgendwie wieder gutzumachen.
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Köln, 21. August 2151, 10:21
Professor Leon Morinelli stand in seinem Büro und blickte über die glänzenden Hochhäuser, die sich um den Kölner Dom scharten. Er hatte noch ein wenig die alten Papierstapel in seinem Büro aufgeräumt, bevor er nach Hause aufbrechen und seine Tochter zum Flughafen bringen würde.
Nachdenklich hielt er die alte Abschlussarbeit in den Händen, die ein beeindruckender Student vor einiger Zeit abgeliefert hatte. Conrad Zebecki. Interessante Ideen über Zeitreisen und die Selbstheilung der Zeitlinie. Genau das Projekt, an dem Morinelli damals auch gearbeitet hatte. Trotzdem hatte er etwas später die Bewerbung des Studenten abgelehnt. Zebecki hatte sogar noch ein paar mal angerufen, aber inzwischen lebte er zufrieden in Südfrankreich. Hatte Familie, einen guten Job und definitiv kein Interesse an Laborarbeit mehr.
Morinelli fischte das brüchige Pergament hervor, dass zwischen den Seiten der Arbeit versteckt lag. Ein adrett gekleideter Mitarbeiter einer venizianischen Bank war vor Jahren bei ihm aufgetaucht. Den Umschlag mit dem Pergament hatte er in der Hand gehalten und verkündet, dass der Brief damals von einem Gelehrten auf der Durchreise nach Mailand in der Bank eingelagert worden war. Im Jahre 2149 sollte das Papier an einen Herrn Morinelli im heutigen Köln übergeben werden.
Ein schwieriger Auftrag.
Aber das Bankhaus war schon damals für seine exklusiven Dienste bekannt.
Damals vor über 650 Jahren.
Beim Anblick der altertümlichen, aber dennoch vertrauten Handschrift liefen Morinelli noch immer kalte Schauer über den Nacken. Die Schilderungen in diesem Brief hatten Morinelli bis ins Mark erschreckt, so dass er seine Forschungen zur Zeitreise augenblicklich eingefroren hatte. Alle Notizen hatte er vernichtet, bis auf diesen Brief. Trotz aller Zweifel musste er sich inzwischen eingestehen, dass er scheinbar sein Zeitreiseprojekt fertiggestellt hätte, um sich dann selbst aus der Vergangenheit diesen Brief zu schreiben.
Niemand würde das jemals glauben. Aber das musste es auch nicht mehr, denn die Schrift auf dem Pergament begann seit Kurzem, zu verblassen. Wahrscheinlich würde das ganze Schriftstück sehr bald schon einfach nicht mehr existieren.
Er schob das Pergament zurück zwischen die Seiten von Zebecki’s Abschlussarbeit und warf das Papier in ein Regalfach, in dem sich bereits Dutzende anderer Manuskripte stapelten. Staub wirbelte von den angegilbten Papieren auf und schwebte im Sonnenlicht. Dann nahm Morinelli seinen Mantel, schloss die Tür von draußen ab und fuhr pünktlich nach Hause.