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Schmetterling
„Ich habe Oma gestern getroffen.“ - „Hmmm…“, brummte ich vor mich hin, was für mich so viel heißen sollte wie „Achja“. Ich hasse es, morgens angesprochen zu werden, ich bin ein typischer Morgenmuffel. Dementsprechend bin ich ziemlich knapp in meinen Aussagen am frühen Morgen. Meine Mutter fuhr fort: „Du wirst es nicht glauben: Onkel Gerd hat eine neue Partnerin!“
In diesem Moment hätte ich gerne meinen Tee ausgespuckt. Ich war wie geblendet. Wann genau war denn das jetzt passiert? „Wie…?“, fragte ich entgeistert. „Ja, er hat sie am Mittwoch angerufen und gesagt, er würde wegfahren und nachdem sie mehrmals nachgehakt hatte, verriet er ihr, dass er jemanden kennengelernt hätte.“
Das ist vielleicht nichts Ungewöhnliches. Aber mein Onkel war 26 Jahre verheiratet gewesen, bis letztes Jahr. Er hatte sich nicht von meiner Tante scheiden lassen, sie war jung gestorben. Es kam ganz plötzlich, sie war zwar lange krank gewesen, aber niemand hatte vermutet, dass sie wenige Tage nach ihrem 26. Hochzeitstag ins Koma fallen und sterben würde. Damals war er in ein tiefes Loch gefallen, es schien fast, als würde er jetzt immer alleine bleiben, denn seine Trauer schien unendlich. Ich weiß noch, dass wir kurz nach ihrem Tod zu bekannten gefahren sind und um sich abzulenken, ist er mit uns mitgefahren. Sein Zimmer lag dort direkt neben meinem und egal um welche Nachtzeit ich daran vorbeilief, das Licht brannte. Mein Mutter erzählte mir im Vertrauen, dass er nicht schlafen könne, weil ihn das Ganze nicht losließ. Bis heute redet er nicht viel über sie und wenn er es tut, dann nur sehr leise, fast bedächtigt.
Ich persönlich rede immer noch gerne von meiner Tante, weil ich dann immer an die schönen Zeiten mit ihr denke. Wie sie mir das Schwimmen beibrachte und wie ich jedes Jahr ein Geburtstagsgeschenk von ihr bekam, was zwar meistens nur eine Schachtel Süßigkeiten war, aber trotzdem sehr liebevoll verpackt. Sie war auch die Einzige meiner Tanten, die mich ständig umarmte. In meiner Familie geht es immer recht reserviert zu, nur im engsten Familienkreis umarmt man sich mal. Von den meisten meiner Verwandten gab es nur einen Händedruck, das fand ich schon immer komisch. Außerdem vergaß sie meinen Geburtstag nie, was die anderen Verwandten, natürlich bis auf meine Eltern und Großeltern dann doch mal gerne taten. Wenn ich an solche Dinge denke, wird mir immer bewusst, wie sehr sie mir doch fehlt.
Und jetzt hatte der Mann genau dieser liebenswerten Frau also eine „Neue“. Zunächst nahm ich mir vor, sie aus Prinzip zu hassen. Es kam mir unglaublich kindisch vor, aber meine „Stieftanten“, wenn man sie so nennen kann, waren generell sehr kühle Menschen mit denen man oft nicht klarkam. Irgendwie haben die Männer in meiner Familie nach ihrer ersten Ehe immer einen Hang zu solchen Schnepfen. Warum sollte also die Neue von meinem Onkel anders sein? Auf der einen Seite hatte ich sie innerlich schon auf den „Abgelehnt!“-Stapel gelegt, andererseits war ich unglaublich neugierig: Inwiefern ähnelt sie meiner Tante? Wie sah sie aus? Hatte sie Kinder? War sie jemals verheiratet und wenn ja, was war mit ihrem Mann passiert?
„Er kommt morgen wieder, vielleicht können wir ihn fragen, ob er sie uns mal vorstellt. Beim Grillen oder so.“ Meine Mutter hatte mich mit ihrer Bemerkung total aus meinen Gedanken gerissen. „Was? Ähm-…ja, warum nicht? Wird sicher nett.“ Eigentlich dachte ich das genaue Gegenteil, aber ich war zu faul, um jetzt mit meiner Mutter darüber zu reden, warum ich das für keine gute Idee hielt.
Als meine Mutter Onkel Gerd anrief, schien er anfangs nicht sehr begeistert, aber meine Mutter überzeugte ihn, indem sie ihn in Grund und Boden laberte. Er kapitulierte, seiner Zwillingsschwester konnte er anscheinend nichts abschlagen, und lud uns am Wochenende zu sich in den Garten ein.
Das Erste, was ich an seiner neuen Partnerin Carola bemerkte, war, dass sie meiner Tante äußerlich nicht ähnlich sah. Sie hatte aber den gleichen mütterlichen Charakter, immer um alle besorgt. Ich glaube, sie hat den ganzen Abend sicher hundert Mal gefragt, ob ich auch genügend zu trinken hätte und ob Eistee auch wirklich in Ordnung war. Was mir noch einfiel,war ihre silberne Kette mit einem übergroßen Schmetterlingsanhänger. Ich fand sie grässlich.
Irgendwann bat mich mein Onkel, Carola doch dabei zu helfen, das Gemüse für die vegetarischen Spieße zu schneiden. Sie war Vegetarierin, zumindest versuchte sie es meistens, verriet sie mir in der Küche. „Ich esse viel zu gerne Fleisch“, sagte ich halb abwesend und steuerte auf die Schublade mit den Schneidemessern zu. „Genau das ist mein Problem: ich will zwar Vegetarierin sein, aber ich kann an keinem Metzger vorbeilaufen ohne sofort Sehnsucht nach einem schönen Mettbrötchen zu bekommen.“ Sie schmunzelte über ihre eigene Aussage, aber an mir ging sie einfach so vorüber, stattdessen sagte ich: „Wie klein soll ich die Paprika schneiden?“ – „So ist das schon in Ordnung.“ Sie schien immer noch nicht realisiert zu haben, das mich ihr Gerede nicht interessierte und versuchte erneut einen Gesprächsanfang zu finden: „Und, welche Klasse bist du? Dein Onkel hat gesagt, du wärst auf dem Gymnasium, aber er war sich nicht sicher, welche Klasse.“ ‚Grandioser Versuch mir ein Gespräch aufzuzwingen‘, dachte ich bei mir. „Zwölfte“, antwortete ich so knapp wie möglich. „Schon Pläne, was du nach dem Abitur machen willst?“ ‚Mein Gott, diese Unterhaltung ist ja sowas von sinnvoll. Frag doch gleich noch, ob ich gute Noten habe, ob meine Lehrer nett sind und ob ich schon einen Freund habe. ‘ Der Sarkasmus in meinen Gedanken brachte mich fast zum schmunzeln, aber ich wollte so kühl wie möglich bleiben. Als ich keine Antwort gab, fragte sie „Studieren?“ – „Mal sehen.“ Ich schnitt weiter Gemüse, konzentrierte mich voll und ganz darauf, perfekte Stückchen hinzukriegen, denn langsam aber sicher ging mir diese Frau tierisch auf die Nerven. Auch sie schien das langsam bemerkt zu haben, also blieb sie vorerst ruhig. Doch dann schaffte sie es, mich tierisch auf die Palme zu bringen. „Weißt du, ich mag Gerd wirklich“, begann sie, „Ich hätte nie gedacht, dass ich nach dem Tod meines Mannes noch einmal so jemanden finde. Er hat so viel zu geben und er ist so ein herzensguter Mensch, weißt du?“- „Ja, ich weiß“, grummelte ich. „Ich bin sehr glücklich mit ihm, das dauert noch nicht so lange mit uns und dennoch fühle ich mich so tief mit ihm verbunden, dass ich glaube, das hält noch sehr lange…“ Ich schnitt immer grober und ich glaube, das Schneidebrett hat bis heute drei Zentimeter dicke Furchen. „…vielleicht sogar ewig, das wäre schön.“ Ich ließ das Messer abrupt fallen und schnauzte sie an: „Verdammte Scheiße, dräng mir doch bitte nicht deine Lebensgeschichte auf, es interessiert mich nicht! Es ist mir total egal, wie sehr du meinen Onkel magst, ob du ihn liebst oder was ihr sonst noch treibt. Bitte lass mich damit einfach in Ruhe!“ Dieser Ausbruch tat unglaublich gut, aber als ich ihren Gesichtsausdruck sah, kochte die soeben herausgelassene Wut wieder auf. Es war nicht Wut, Verwunderung oder Entsetzen – es war Mitleid. „Ich weiß schon. Du denkst, ich will deine Tante ersetzen, aber das ist wirklich nicht so. Ich denke er hat es verdient …“ „Sicher hat er es verdient!“, fiel ich ihr ins Wort. „Aber sie ist erst vor einem Jahr gestorben, es ist zu früh, er sollte sich momentan nicht einfach auf jemanden einlassen, der ihm in ein paar Monaten sowieso nichts mehr bedeutet. Du bist nur Ablenkung!“ Ihr mitleidiger Blick war verschwunden, sie sah mich an, als hätte ich sie wirklich verletzt. Irgendwie tat es mir in dem Moment Leid, aber die Wut siegte über die Reue. „Weißt du, er ist erst 49. Er hat noch ein langes Leben vor sich. Er sollte es keineswegs alleine verbringen. Und wenn du deine kindische Art einfach mal für fünf Minuten ablegst, wird dir sicher klarwerden, dass du grade unglaublichen Unsinn geredet hast. Deine Tante war sehr lange krank. Vor ihrem Tod lag sie drei Tage im Koma. Er hatte Zeit, sich mit ihrem Tod auseinanderzusetzen. Ich hatte keine Zeit. Mein Mann starb einfach so bei einem Unfall, deshalb hab ich fünf Jahre gebraucht, um das zu verkraften. Dein Onkel und ich, wir geben uns gegenseitig Kraft, die Zeiten durchzustehen. Nimm uns das nicht. Wenn du ihn gerne hast, dass freu dich für ihn. Er und auch ich haben es verdient, nochmal von vorne anzufangen. Wir haben die Chance, nochmal wie ein Schmetterling ganz neu aus der Puppe zu schlüpfen.“
In diesem Moment kam ich mir unglaublich dumm vor. Jetzt hatte ich auch verstanden, warum sie diesen Schmetterling an ihrer Kette hatte - er bedeutete für sie wohl eine Art Neuanfang. Ich wollte mich entschuldigen, aber sie war schon aus der Küche gegangen. Ich spießte noch schnell die restlichen Paprika- und Tomatenstückchen auf und legte sie auf einen Teller. Auf dem Weg nach Draußen beschloss ich, mich zu freuen. Vielleicht war es ja gar nicht so schlecht für ihn. Meine Mutter brachte grade einen Toast auf die beiden aus und winkte mich heran. Nachdem ich alles auf dem Tisch abgestellt hatte, erhob auch ich mein Glas und lächelte meinem Onkel ins Gesicht. Und aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass auch Carola sich freute, als ich sagte „Alles Gute euch beiden.“