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Schmerzgrenze
Jede Geste, jeder Blick verriet es ihr. Du warst wieder bei ihr, wollte sie ihm entgegenschleudern. Stattdessen drehte sie sich um. Ihre Schultern bebten. Bitte keine Tränen, nicht jetzt, nicht vor ihm. Sei stark. Im Küchenfenster sah sie sein Spiegelbild.
Er blieb in der Tür stehen, umklammerte den Rahmen, trat von einem Fuß auf den anderen. Er murmelte ein paar Worte, die sie nicht verstand. Das Übliche vermutlich: Verharmlosungen, Ausreden, Lügen. Sie wollte es nicht hören.
Irgendwann löste er sich und schlich ins Wohnzimmer. Die Tür fiel ins Schloss. Endlich konnte sie weinen.
Ihre Freundinnen hatten sie vor ihm gewarnt. »Er wird dir niemals treu sein.« Sie hatte ihnen nicht glauben wollen. Jetzt glaubte sie ihm nicht mehr. Ändern wollte er sich, die Andere nicht mehr treffen. »Gib mir Zeit, die Sache zu klären.« Die Sache. Die Sache, die ihr Leben zerstörte, ihr Glück, ihre Liebe. Wie lange kann ein Mensch warten? Wie lange konnte sie warten? Hoffnung währt nicht ewig.
Nebenan lief der Fernseher. Sie stellte sich vor, wie ihr Mann auf der Couch saß und sich von bunten Bildern berieseln ließ, um nicht denken oder reden zu müssen. Zwei Dinge, die er gerne vermied.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort saß, das Gesicht in den Armen vergraben. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, trockneten und flossen erneut, bis nichts mehr kommen wollte. Tausend Gedanken schossen durch ihren Kopf, kein einziger ließ sich zuende verfolgen. Waren es Minuten oder Stunden, die vergingen, bis sie die Augen wieder öffnete? Vor ihr lag ein Messer. Sauber, glänzend, scharf. Sie starrte es an. Aus dem Wohnzimmer drang das Gelächter einer Comedysendung.
Ein Stich und alles wäre vorbei. Ein kurzer Schmerz, doch was war das schon gegen ewigen Kummer. Mit zitternder Hand griff sie danach. Langsam, unendlich langsam, strich ihr Finger die Klinge entlang, bis sich ein winziger Blutstropfen auf der Kuppe bildete.
Nicht mehr als ein Gedanke, doch unendlich viel Trost steckte darin. Ein Stich und alles wäre vorbei. Für sie oder für ihn. Das würde sich zeigen. Eines Tages, vielleicht. Sie lächelte.