Schmerz
Jeder sagt, bevor ich das kalte Messer auf meine pulsierende Ader ansetze, soll ich mich ihnen anvertrauen. Dabei versteht mich niemand. Und wie soll mir jemand helfen, der mich nicht versteht?
ES. KANN. MIR. KEINER. HELFEN. Denn die Rasierklinge ist die beste Lösung. Der seelische Schmerz wird durch den körperlichen betäubt. Ein Schnitt. Ein pochender Schmerz. Blut. Das ist alles was mir hilft. All der ganze Scheiß in meinem Leben ruiniert mich.
Meine Freunde sagen sie sind für mich da. Doch wieso ist niemand da, wenn ich jemanden brauche? Wieso? Wieso ist da einfach niemand. Wieso verlässt mich jeder? Warum verarscht mich jeder?
Ab jetzt werde ich niemanden mehr an mich ran lassen, keine Gefühle zeigen. Leben wie ein mechanischer Roboter, ohne Emotionen. Dann kann mich keiner mehr verletzen. Ich halte den ganzen Mist nicht aus, ständig sehe ich die Bilder vor mir. Und dann kommt das Gefühl von damals hoch. Die Weihnachtszeit ist die schlimmste von allen. Überall die verdammt verlogenen Schnulzen im Radio, jeder lächelt sich an, dabei weiß jeder, dass es eine Lüge ist und man sich nicht leiden kann.
Und immer an Weihnachten erinnere ich mich an damals. Und das Gefühl der Wehrlosigkeit steigt mir die Galle hoch. Ich bekomme ein Brechreiz bei den Gedanken, die mich von innen heraus zerfressen und dann kommt die Rasierklinge. Das Blut färbt die Duschwanne rot. Ich fühle mich wie betäubt und sacke in mich zusammen. Ich will nie wieder aufwachen. Was hält mich denn noch am Leben? Nichts. Alles was ich wollte, hatte ich und ich habe es verloren. Es liegt nicht an ihm, es liegt an der Tatsache, dass ich immer verlassen oder benutzt werde. Von allen. Da gibt es und wird es keine Ausnahme geben. Die gibt es nur in den schnulzigsten Hollywood Filmen. Ein Grund für meine Abneigung gegenüber ihnen.
Jeder sagt, ich sei stark. Aber verdammt, das bin ich nicht. Ich bin schwach. Ich komme mit nichts klar. Und lasse jeden Scheiß an mich ran, nur damit er mich noch tiefer zieht. Immer wieder höre ich die Stimmen hinter mir. Wie sie über mich lästern, wie sie mir das Leben zur Hölle machen. Wie sich meine eigene Cousine über mich lustig macht. Ich will einfach nicht mehr. Ich mag nicht mehr atmen. Ich will nicht mehr leben. Ich will nicht mehr essen. Ich will nicht mehr trinken. Ich will einfach nur für immer in Frieden ruhen. Meine Ruhe vor allem haben.
„Was dich nicht kaputt macht, macht dich nur stärker“ – der dümmste Spruch überhaupt. Wer denkt sich so einen Mist aus? Hat der eine Ahnung gehabt wie es sich anfühlt, vergewaltigt zu werden? Wie jemand sich das von einem nimmt, was er möchte? Einfach so. Weil er es kann?
Jeden Tag sehe ich die Bilder vor mir als sei es gestern gewesen. Jeden verfickten Tag. Während ich das hier schreibe, denke ich noch daran. Tränen laufen mir über die Wangen. Und zugleich kämpfe ich gegen die aufsteigende Wut.
Ich schaue zu dem Fenster vor mir. Wie leicht wäre es, einfach aufzustehen und aus dem Fenster zu springen? All dem Ganzen ein Ende zu bereiten? Die Erinnerungen für immer zu löschen?
Aber ich bin zu schwach dafür. Beim Tippen rutscht mir mein Pullover hoch und ich sehe die frischen Schnitte. Beim Anblick fühle mich erleichtert und beruhigt. Es scheint als hätte ich meinen Frieden gefunden. Zumindestens für einen Augenblick.