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Schlussakt
Als er aus dem Wagen steigt, hält sie eine Axt in der einen Hand und in der anderen zappelt ein Huhn. Sie mustert ihn misstrauisch. Die in Reiseführern gern erwähnte Gastfreundlichkeit dieser Region ist eine Lüge, der Tourismus nur ein notwendiges Übel, weil sich mit Landwirtschaft nicht mehr viel verdienen lässt. Anna lässt das aufgeregte Huhn frei, behält aber die Axt in der gesenkten Hand, während der Fremde sich mit vorsichtigen Schritten auf sie zubewegt. Er sieht elegant aus – wirkt in dieser Gegend deplatziert und scheint sich seiner Sache trotzdem sicher zu sein. Grinsend schaut er dem davon flatternden Huhn hinterher, das sich erstaunlich schnell wieder beruhigt, als hätte es Übung darin, dem Tod zu entkommen.
„Das war knapp“, sagt er mit unverkennbar britischem Akzent.
Der Engländer taxiert sie wie eine sichere Beute. Für den Besuch bei ihr hat er extra mehr Zeit eingeplant. Diese Frau hat von Anfang an sein Interesse geweckt. Ohne es zu wissen, ist sie kürzlich Witwe geworden. Eigentlich kann sie froh darüber sein. Ihr Mann war der geborene Verlierer, ein kleiner Fisch, der ein paar Haie gegen sich aufbrachte. Deshalb musste der Engländer sich um ihn kümmern. Doch blieb die Frage offen, was Anna Kramer vom Doppelleben ihres Mannes wüsste, und ob Johannes Kramer als eine Art Lebensversicherung eventuell irgendwo in seinem Haus belastendes Material deponierte. Er hat dem Engländer allerdings geschworen, dass Anna nichts wüsste und in der Pension nichts versteckt wäre. Zu diesem Zeitpunkt fehlten ihm bereits die Finger, die man für einen ordentlichen Schwur benötigt, und seine Worte würgte er zusammen mit blutigem Schleim aus dem zahnlosen Mund heraus. Auch, nachdem der Engländer ihm eine Steigerung der Schmerzen ankündigte, blieb er bei seiner Version. Bis zuletzt.
Anna lässt die Axt fallen. Sie wischt ihre Hände an der Schürze ab, stemmt sie in die Hüften und drückt das schmerzende Kreuz leicht durch. Als ihr klar wird, worauf sie mit dieser Haltung das Interesse des Engländers lenkt, lässt sie die Arme wieder sinken. Diesen Blick kennt sie zur Genüge von Johannes. Dann hat es in der Regel nicht mehr lange gedauert, bis er über sie herfiel. Nichts beherrscht Johannes besser, als die hemmungslose und vor allen Dingen unmittelbare Befriedigung seines ausgeprägten Triebes. Letztendlich ist das eine der wenigen Eigenschaften, die Anna an ihm wirklich schätzt, weil es ihren Neigungen durchaus entgegenkommt. Aber darauf hat sie nun schon eine ganze Weile verzichten müssen. Möglicherweise ist auch das ein Grund für die Anspannung, die sich beim Auftauchen des fremden Besuchers in ihr breit macht.
„Benötigen Sie ein Zimmer?“, fragt sie.
„Ist noch eins frei?“
Sie ignoriert den kleinen Scherz. „Wie lange wollen Sie bleiben?“
„Mal sehen ...“ Er blinzelt ihr zu.
Sie lächelt noch immer nicht. „Hier ist es sehr einsam.“
Aber das weiß er bereits. Die Vorstellung, sich diese Einsamkeit mit einer jungen Frau zu teilen, die durch ihn zur Witwe wurde, erregt ihn. Er ist ihr Schicksal, nur weiß sie das noch nicht. Vorerst will er nur ihr Interesse für sich wecken, als Mann, der scheinbar zufällig bei ihr auftaucht, der ihr gefallen könnte, vielleicht sogar gut genug für eine Affäre. Und wenn die sanfte Tour nicht funktioniert, bliebe immer noch eine härtere Gangart. Der Engländer beherrscht beide Optionen, und ihm ist die eine so lieb wie die andere.
„Sie betreiben die Pension ganz allein?“, fragt er, obwohl er längst über alle Hintergründe Bescheid weiß.
Sie zuckt mit den Achseln. „Mein Mann hat mich … nun, er ist fort. Die Saison beginnt erst ab Mai, dann kriege ich Hilfe aus dem Dorf. Im März verirrt sich nur selten jemand in diese Gegend. Kommen Sie mit ins Haus. Dann zeige ich Ihnen ihr Zimmer. Sie sind Engländer?“
„Man hört es aber kaum noch, ist es nicht so?“
„Sie sprechen sehr gut deutsch. Wie heißen Sie?“
„Smith. John Smith.“
„John Smith.“ Sie wiederholt den Namen, als hätte er eine unanständige Bedeutung.
„Ihr Mann hat Sie verlassen?“, will er wissen.
„Ich möchte nicht darüber sprechen.“
Mittlerweile stehen sie am kleinen Empfangstresen und Anna überlegt, welches Zimmer sie ihrem Gast geben soll. Alle sind frei. Sie entscheidet sich für das schönste Zimmer, das während der Saison nur besondere Stammgästen bekommen. Bei der Schlüsselübergabe berühren sich ihre Hände, irgendwo im Grenzbereich zwischen Zufall und Absicht.
Der Engländer hat den kleinen Reisekoffer aus seinem Wagen geholt, den er für alle Fälle immer dabei hat. Zweifellos geht er ein hohes Risiko ein, wenn er hier länger als nötig bleibt. Trotz der Einsamkeit könnten jederzeit potenzielle Zeugen hier auftauchen. Ein Postbote, ein Lieferant, irgendwelche Nachbarn, erste Wanderer, die sich hierher verirren. Sie könnten ihn sehen, seinen Wagen, und es könnte seinen Auftrag gefährden. Aber das ist es ihm dieses Mal wert. Bisher haben stets eiserne Disziplin und akribische Planung sein Leben bestimmt. Warum soll nicht auch ein Profi mal für einen kurzen Moment abschalten? Und für den Fall einer Überraschung kann er sich immer noch etwas einfallen lassen. In seinem Zimmer denkt er an Anna. Sollte sie zum Abendessen deutlich mehr nach Frau aussehen, in einem Kleid vielleicht, statt in Pullover, Jeans, Schürze und Gummistiefel, die Haare zurecht gemacht und geschminkt, dann – so ist er sicher – könnte es hier eine angenehme Nacht für ihn werden.
Anna hat die Haare hochgesteckt, einen dezenten Lippenstiftton aufgetragen und sich in der Kleiderfrage für schlichte Zurückhaltung entschieden. Die Bluse bis oben zugeknöpft, der Rock klassisch und elegant. Sie vertraut auf den strengen Stil, obwohl sie zunächst etwas Gewagteres im Sinn hatte. Doch dann hatte ihre innere Stimme zur Vorsicht gemahnt. Ihr Gast mag einen charmanten und kultivierten Eindruck machen, aber nach einem Winter voller Einsamkeit mangelt es ihr an der Übung im ungezwungenen Umgang mit Menschen, ganz besonders dann, wenn sie sehr männlich und ausgesprochen attraktiv sind. Während sich John Smith im Zimmer 5 einrichtete, hat sie eine ganze Weile unter der Dusche verbracht. Danach ist es ihr besser gegangen. Entspannt bedient sie nun ihren Besucher in der leeren Gaststube und genießt die Aufmerksamkeit seiner tiefblauen Augen. Bei der Bestellung des Rotweins beweist er exzellente Kenntnisse und bittet Anna, das Abendessen mit ihm gemeinsam einzunehmen. Sie hat nichts dagegen, freut sich auf den guten Tropfen, eine niveauvolle Unterhaltung und ein paar geschliffene Komplimente.
„Du hast echt geile Titten“, war noch das Netteste was Johannes je zu ihr gesagt hat, und meistens dann, wenn er seinen Schwanz oder sein Gesicht dazwischen drängte. Es hat sie nie sonderlich gestört, denn es entspricht ja der Wahrheit. Allerdings können unverblümte Komplimente auf Dauer recht einseitig sein - so wie das Leben mit Johannes überhaupt.
„Ist ihr Mann schon lange fort?“, will der Engländer wissen, während er mit fragendem Blick die Weinflasche anhebt und erst einschenkt, nachdem Anna ihm durch die Andeutung eines Nickens die Erlaubnis erteilt. Wie es wohl wäre, Sex mit einem derart höflichen Mann zu haben? Vielleicht wird er erst „Darf ich?“ fragen, bevor er in sie eindringt. „Es wäre mir ein ausgesprochenes Vergnügen“, könnte sie dann antworten. Diese Vorstellung erregt sie. Etwas Stil, bevor es richtig zur Sache geht, das wäre mal was anderes.
„Mein Mann?“, Anna ist irritiert, als müsste sie erst einmal überlegen, wer damit gemeint wäre. „Seit ein paar Monaten ist der weg.“
„Einfach so?“ Der Engländer schnippt mit den Fingern.
„Ich hatte schon gesagt, dass ich darüber nicht reden will!“
Er nickt mit schuldbewusster Miene. „Ja, hatten Sie. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, was ein Mann dazu veranlassen könnte, das Paradies zu verlassen.“
„So schön ist die Gegend hier gar nicht. Das Meer ist viel zu weit weg.“
„Ich meinte das Leben mit Ihnen.“
Anna greift etwas überhastet nach ihrem Weinglas. Sie lässt auch diese gute Gelegenheit zu lächeln ungenutzt vorüber ziehen. Aber das Kribbeln in ihr verstärkt sich.
Johannes Kramer, der um Gnade bettelte; der winselte, jammerte und sich vor Angst einnässte. „Ich habe Frau und Kinder“, schluchzte er, als er noch Zähne und Finger hatte. „Bitte verschonen Sie mich. Wer soll für meine Familie sorgen?“
„Kinder?“ Der Engländer runzelte erstaunt die Stirn. „Gütiger Himmel, wie viele?“
„Drei. Eins davon ist noch ein Baby.“
Der Engländer mustert ihn vorwurfsvoll. „Weisst du, warum wir heute hier sind? Weil du einfach viel zu viel Unsinn redest, ist es nicht so? Deine Lügen sind höchst unerfreulich. Aber du hast dich mit den falschen Leuten angelegt. Hast du wirklich geglaubt, du kommst damit durch?“
„Okay“, wimmerte Kramer. „Ich habe gelogen. Ich habe keine Kinder.“
„Und ist das jetzt die Wahrheit?“
„Ja. Aber ich bin mit einer unglaublich tollen Frau verheiratet. Mit echt geilen Titten! Wenn Sie mich gehen lassen, können Sie meine Frau vögeln, wann immer sie wollen. Die ist im Bett der totale Wahnsinn.“
„Und was sagt deine Frau dazu?“
„Das ist wirklich kein Problem.“
„Versteht ihr euch gut, du und deine Frau?“
„Ja, sehr gut.“
„Und ihr erzählt euch alles?“
„Ja!“
„Wirklich alles?“
Erst jetzt wurde Kramer klar, worauf die Befragung hinauslaufen sollte. Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein, das weiß sie natürlich nicht. Sie weiß nichts von meinen kleinen Nebenverdiensten. Sie weiß nichts über meine Jobs. Sie hält mich für einen Zocker. Hier und da ein Gewinn. So habe ich ihr das mit der Kohle erklärt, verstehen Sie?“
Der Engländer verstand, griff aber trotzdem nach dem Messer, um Kramers Glaubwürdigkeit nachhaltig zu prüfen. Nach jedem abgetrennten Finger erkundigte er sich erneut nach dem tatsächlichen Wissenstand von Kramers Frau und bekam immer wieder dieselbe Antwort: Sie hätte keine Ahnung! Das klang unter den gegeben Umständen glaubwürdig. Selbst nach dem Verlust seiner Nase bliebt Kramer standhaft. Ohne Ohren warf er dann nur noch brüllend den blutverschmierten Schädel hin und her. Schließlich jagte der Engländer ihm die erlösende Kugel durch den Kopf und rief Lohmann an, der darauf spezialisiert war, solche Schweinereien zu beseitigen.
„Wissen Sie denn, wo Ihr Mann abgeblieben ist?“, fragt der Engländer.
„Nein“, entgegnet Anna missmutig. „Ich hoffe nur, dass er nicht wiederkommt. Warum reden Sie dauernd von ihm?“
„Ich wollte nur sichergehen ...“
„Was?“
„... dass er nicht ausgerechnet heute Abend plötzlich zur Tür hereinspaziert.“
„Das wäre ...“ Sie wirkt etwas verunsichert.
„Schade?“, schlägt ihr Gast vor.
„Ja, schade.“ Endlich lächelt sie, und der Engländer fühlt sich wie der einzige Beobachter eines Sonnenaufgangs. Er hofft, Anna heute öfter lächeln sehen zu dürfen, so lange ihr noch danach ist. Er betrachtet ihre Hände. Sie hat schöne Finger. Der Gedanke, dieser Frau etwas antun zu müssen, gefällt ihm nicht. Bisher hatte er noch nie eine emotionale Beziehung zu einem Opfer aufgebaut. Aus gutem Grund. Skrupel kann er sich nicht leisten. Aber mit Anna Kramer ist es anders. Er mag sie. Sie hat ihn von Anfang an interessiert, kaum, dass er ihr Foto in Kramers Brieftasche fand. Und als ihn Andersen mit ihrer Eliminierung beauftragte, war er einfach nur froh über den Grund, ihr einen Besuch abstatten zu können. All das empfand er als unvermeidliche Fügung des Schicksals, zumal ihm Anna nicht mehr aus dem Kopf ging. Besonders aber hatte es ihn beeindruckt, wie hartnäckig der Versager Johannes Kramer bis zuletzt seine Frau zu beschützen versuchte. Sie musste etwas Besonderes sein.
Und sie ist etwas Besonderes, wie er seit heute weiß.
„Möchten Sie noch ein Dessert?“, fragt Anna.
Der Engländer lehnt sich seufzend zurück und reibt sich theatralisch über seine sorgsam aufgebaute Bauchmuskelatur. „Da passt beim besten Willen nichts mehr rein“, stöhnt er. „Sie kochen göttlich.“
Beim Abräumen lässt die göttliche Köchin noch andere Qualitäten erkennen. Während des Essens hat sie beiläufig die obersten Knöpfe ihrer Bluse geöffnet, etwas über die Wärme murmelnd und sich mit der Hand Luft zufächelnd. Durch diesen einfachen Kunstgriff hat ihre biedere Kleidung eine unübersehbar erotische Note gewonnen. Der Engländer genießt die reizvolle Ansicht und sehnt sich zur Steigerung seines Wohlbefindens nach einer Zigarette.
„Espresso?“, schlägt Anna vor. „Und wenn Sie rauchen wollen, können Sie das natürlich gern hier in der Gaststube tun. Es gibt ja keine anderen Gäste, die das stören könnte.“
Da spielt der Engländer zum ersten Mal mit dem Gedanken, sie zu verschonen. Eine Frau wie sie kann er sich sogar langfristiger in seiner Nähe vorstellen. Bevor er seine Zigaretten hervorkramen kann, reicht sie ihm ihre Packung und Feuer. „Zünden Sie mir bitte eine mit an? Ich bin gleich wieder da.“
Der Engländer raucht zwei Zigaretten an und schenkt in beiden Gläsern Rotwein nach. Anna kehrt mit einem Aschenbecher zurück und beugt sich erneut weit über den Tisch, um ihn direkt vor ihrem tiefenentspannten Besucher zu platzieren. Sie hat in der Tat prächtige Titten!
„Sie verstehen es, Ihre Gäste glücklich zu machen“, sagt der Engländer.
Anna nimmt ihm eine der beiden Zigaretten aus der Hand, verbunden mit einer kurzen Berührung ihrer Finger, gönnt sich einen tiefen Zug und stößt mit zurück gelegtem Kopf den Rauch aus. „Ich mach uns jetzt den Espresso“, sagt sie dann - die perfekte Gastgeberin, die alles dafür tut, dass es ihrem Gast an nichts mangelt. Der Engländer blickt ihr wohlwollend hinterher. Auch ihr Hintern ist erstklassig.
„Der Auftrag wurde wie vereinbart erledigt.“ Der Engländer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, während Andersen in seinem Büro wütend auf und ab lief. Es war ein großes Büro mit protzigen Möbeln und protzigen Gemälden an den Wänden, und Andersen war ein kleiner, mächtiger und sehr zorniger Mann. „Die Frau ist und bleibt ein Unsicherheitsfaktor“, grollte dieser kleine, mächtige und sehr zornige Mann. „Und selbst wenn sie noch keine Ahnung hat, dann gibt es vielleicht irgendwelche Hinweise oder Unterlagen in dieser verdammten Pension. Das lässt sich nicht ausschließen. Und eines Tages stößt sie zufällig beim Putzen drauf. Nein, nein, wir gehen da lieber auf Nummer sicher.“
„Während meiner Befragung hat Kramer mehrfach beteuert, dass seine Frau nichts weiß und er keine belastenden Unterlagen besitzt. Für mich klang es überzeugend. Ich denke, er sagte die Wahrheit.“
„Wahrheit!“ Andersen spuckte das Wort voller Ekel aus. „Johannes Kramer und Wahrheit – das passt irgendwie nicht wirklich zusammen, oder? Entsorgen Sie das Weibstück und brennen Sie die verdammte Pension nieder. Und dann will ich von der verdammten Familie Kramer nie wieder etwas hören. Ich schlafe zur Zeit nicht besonders gut. Und es ist Ihre Aufgabe, das zu ändern!“
„Bald werden Sie wieder schlafen wie ein Baby“, versicherte ihm der Engländer. „Aber es kostet das Doppelte. Frauen kosten bei mir immer das Doppelte.“
Andersen verharrte hinter seinem Schreibtisch und ließ sich schließlich seufzend in den wuchtigen Lederstuhl fallen. Im Sitzen wirkte er gleich viel größer und mächtiger. „Ist das so?“, fragte er kühl und schien zu überlegen, wie viele Frauen der Engländer bereits für ihn erledigt hatte. „Ist Ihre Preispolitik da nicht ein wenig … diskriminierend? Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie auf Ehepaare Rabatt geben.“
Der Engländer schwieg. Er hatte gelernt, seinen Auftraggebern die zynischen Passagen in den Gesprächen zu überlassen und an den richtigen Stellen zu schweigen.
„Also gut“, brummte Andersen fast ein wenig beleidigt. „Dann eben das Doppelte!“
Nachdem er das Büro verlassen hatte, holte der Engländer auf dem Weg zum Fahrstuhl das Foto von Anna aus der Innentasche seines Jacketts, das Foto, dass er in Kramers Brieftasche gefunden hatte. Kaum eine Frau würde sich so fotografieren lassen. Er freute sich auf sie!
Der Engländer ist beim Sex eine leistungsstarke Maschine, aber Anna treibt ihn unerbittlich voran, bis er an seine Grenzen stößt. Immer, wenn er meint, sie dicht am Orgasmus zu haben, fordert sie mehr, verlangt es noch härter, noch tiefer, noch schneller, hätte am liebsten alles gleichzeitig, dass er sie fickt, ihre verschwitzten Brüste knetet, sie überall leckt, beißt, streichelt, sie bedrängt, würgt und in jeder ihrer Körperöffnungen gleichzeitig steckt. Irgendwann entzieht er sich dieser Diktatur und entlädt sich wie noch nie in seinem Leben. Und erst in diesem Moment findet auch Anna in ihren Orgasmus, mit einem Schrei, der vermutlich noch im acht Kilometer entfernten Dorf zu hören ist. Der Engländer fühlt sich trotzdem wie ein Versager; so, als hätte es drei von seiner Sorte bedurft, um Anna wirklich angemessen zu befriedigen, als hätte sie ihren Orgasmus am Ende nur aus Mitleid bekommen. Sie ist zu viel für einen einzelnen Mann. Und das ist für ihn eine völlig neue und ernüchternde Erfahrung. Außerdem befürchtet er, sie könnte gleich noch ein weiteres Mal Sex haben wollen, während er vermutlich eine Woche benötigt, um die Ressourcen für seine sexuelle Energie wieder aufzuladen. Aber im Augenblick bettet sie ihren Kopf friedlich auf seinem durchtrainierten Bauch und atmet heiß gegen seinen verschrumpelten Schwanz. Vorerst gibt es nichts zu sagen, weil jedes Wort so kurz danach nur belanglos wäre. Aber dann hebt Anna den Kopf und fragt: „Und wer bist du wirklich?“
„Ich brauche eine Zigarette“, murmelt er träge, Er fühlt sich leer und müde. Und plötzlich stellt Anna unbequeme Fragen. Das ist eigentlich sein Job, und der kann noch warten.
Sie richtet sich auf, fährt sich mechanisch durch das zerzauste Haar. „Die Zigaretten sind unten. Ich hole sie.“ Wohlig und zufrieden beobachtet der Engländer, wie sich diese Sexgöttin aus ihrem zerwühlten Nachtlager erhebt und mit graziösen Bewegungen den Raum verlässt. Er freut sich auf ihre Rückkehr, auf ihre Nähe, auf diesen unvergleichlichen Frauenkörper, ihren Duft, ihre Stimme, auf die Zigarette … er wird schläfrig, zufrieden und sanft. Dann taucht Anna wieder im Türrahmen auf. Der Engländer blinzelt. Irgendwie schließt sich der Kreis, weil Anna – wie bei ihrer ersten Begegnung – wieder eine Axt in der Hand hält. Auch damit sieht sie bezaubernd aus.
„Und wer bist du wirklich?“, wiederholte sie ihre Frage von vorhin. Der Engländer lächelt. Und mehr als seine Lippen kann er jetzt auch nicht mehr bewegen.