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Schlosspark

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05.03.2003
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Schlosspark

Er schaute sich das Bild lange an. Der leblose Park mit seinen turmhohen glatten Bäumen, der klar bewölkte Himmel über den Wipfeln und die menschenleeren Schotter- und Waldwege. Er lehnte hier an dieser steinern grauen Statue eines verwitterten Löwen, während er an nichts mehr anderes denken konnte als an das eine Mädchen.
Die Schritte durch den Park waren schwer und eher eine Quälerei; wie alles andere auch. Der ganze Tagesablauf, das Nachdenken und die schrecklich langen Pausen zwischen den Ereignissen, in denen nichts passierte waren nichts weiter als eine Quälerei. Paul hatte das tiefe Verlangen danach sich hinfallen zu lassen und nicht mehr aufzustehen, ganz egal was passiert. Die absolute Lösung all seiner Probleme.
Als er auf der kühlen Holzbank im Pavillion saß, der eigentlich nichts weiter als ein Dach war, von ein paar Holzstämmen gehalten und nach allen seiten hin offen, hörte er die Stimmen das erste Mal. Paul schaute sich nicht um, wollte sich auch gar nicht vergewissern, ob er sich vielleicht vertan hätte. Doch dann schaute er nach oben, weg von dem kargen Blickwinkel zwischen seinen Adidas und sah das Gesicht eines Jungen mit roter Wollmütze ganz nah vor seinem. Er hatte einen dicken Annorak über seinem Oberkörper, der ihn vor der unberechenbaren Kälte dieses Tages schützte.
„Und du hängst jetzt also hier ab!?“ sagte er und hielt eisernen Blickkontakt mit Paul.
„Sieht so aus.“ entgegnete Paul motivationslos.
Das Rascheln von Laub und Knacken der dünnen abgefaulten Äste auf dem Boden. Zwei weitere Gestalten schoben sich in sein Blickfeld. Ein zweiter Junge mit dunklen vollen Haaren, ebenfalls in weiten Klamotten und ein wirklich gut anzusehendes Mädchen mit einem blonden Pferdeschwanz, das einen blauen Kapuzenpulli trug.
„Hey, hey“ sagte der zweite Junge „Wer ist das denn!?“
„Ich weiß nicht.“ rief der mit der roten Wollmütze seinem Kollegen zu, hielt aber den Blickkontakt.
„Ich glaub ich hab dich hier noch nie gesehen Alta.“ sagte ein dritter Junge, der links hinter Paul stand und als einziger noch nicht in den Pavillion getreten war. Paul drehte sich zu der Stimme um und sah einen nicht unscheinbaren, aber auch nicht sehr auffälligen Typen mit tiefschwarzen Rastalocken, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. An der Physionomie des Gesichtes konnte er sehen, dass er ein Halb-Schwarzer sein musste, also absolut im Trend.
„Verdammt“ sagte Paul begleitet von einem Lachen „Ihr könnt eure Hütte wieder haben.“ Er stand auf und wollte gehen „Sie ist wieder euer Eigentum.“ Paul war immer noch halb am Lachen, verließ die morsche Holzkonstruktion und trat in das alte Laub.
„Hätte nicht gedacht, dass man hier im Park noch einmal jemanden trifft.“ sagte der Halb-Schwarze.
„Ich auch nicht.“ Paul redete wieder leise und nachdenklich, hatte schon mit der Szene abgeschlossen und war in Gedanken auf dem Heimweg.
„Was treibt jemanden hier her?“ fragte der Halb-Schwarze „An diesen gottverlassenen Ort!?“
Paul blieb stehen und drehte sich zu der Gruppe um.
„Was treibt euch denn hier her? Postpubertäre Melancholie oder sowas ähnliches!?“
Wie die Gruppe da stand, wie ein Bild in einer Broschüre für die alte Generation, damit sie sich ein Bild von unserer Jugend machen kann. In ihren weiten Klamotten, der Art wie sie stehen und in die Welt schauen. Verdammt, dieser Ort hier war wirklich gottverlassen.
„Da gibt es nicht viel was man so tun kann.“ sagte der Halb-Schwarze „Da denkt man nicht mehr viel drüber nach.“
Paul lachte wieder und schaute sich jeden einzelnen kurz an. Den Typ mit der roten Wollmütze, wie er ganz eisern der Meinung war jeden vernichten zu können, der sich ihm in den Weg stellte. Das Mädel mit dem Kapuzenpulli, die nicht so recht hier hin passen wollte, wie an der falschen Stelle hineingecastet. Der Junge mit den dunklen Haaren, der größer war als die anderen drei und sich wie es schien aus allem ein wenig hinaushielt. Schließlich auch der Wortführer mit den tiefschwarzen Rastas, über den nicht viel zu sagen war. Manchmal konnte man irgendwelche scheinbaren Prototypen und Abziehbildchen einer Bewegung oder eines Lifestyles nicht durchschauen wie vierzehnjährige Mädchen. Kein kleiner Geheimtipp, der sich deutlich unter der Oberfläche abzeichnete.
„Man kann schon verdammt viel tun.“ Paul lachte nicht mehr.
„Ach ja“ Der Wortführer machte kein ernstes, aber auch kein fröhliches Gesicht „Was denn?“
Paul verzog keine Miene, dachte aber wirklich nach, tauchte wirklich tief in sein Innerstes, um große oder kleine Wege zu finden, um sich aus seiner Quälerei zu ziehen, oder unglaublich produktive Dinge, die er getan hatte bevor er fest mit dem Mädchen von letzter Nacht zusammen war.

Das absolute so nebenher. In den Himmel schauen und keine Ränder und Ecken, irgendeine Scheiße wo einem jemand sagte jetzt ist endgültig schluß damit. Wenn der Wind von unten durch das tote Laub weht macht es diese seltsame Atmosphäre und vielleicht auch das stilistische Flimmern zwischen den Baumstämmen, wie bei einem Musikvideo. Man muß sich der Sache einfach ergeben und dann kam man absolut drauf, ohne jemals wieder runter zu kommen. Aber das war nicht leicht. Nein.
Sich absolut zu ergeben.
Paul nahm einen tiefen Zug von dem Dope, es breitete sich in seinen Lungenbläschen aus und war dann schon am laufen. Sie saßen alle vor dem Pavillion und lehnten sich an das morsche erodierte Holz. Die dunklen Jahresringe, verblasste Erinnerungen und sowas. Keiner von ihnen hatte den Mut ein bisschen länger darüber nachzudenken.
„’s alles ganz genau geplant, ausgecheckt und so.“ sagte Malique, der Halb-Schwarze „Nimmt man einen Teil raus, dann bricht alles zusammen, oder wird krank.“ Er blies schwachen Rauch aus seinen Lungen, der in der Kälte verschwand „Wie wir.“ Er nahm einen Zug und blies wieder aus „Wenn wir nicht mehr da wären, würde alles nicht mehr so funktionieren wie es sollte.“
Man fühlte sich nicht schlecht, es war nicht so als hätte man einen kleinen Hänger oder so, bräuchte ne kleine Auszeit. Nein, sie waren nur einmal kurz an den Rand des Spielfelds getreten und ließen sich vor dem Ende des Spiels von den Fans feieren.
Paul seufzte und nahm einen weiteren tiefen Zug aus dem Joint, aber alles eher beiläufig.
„Immer wenn gerade alles so läuft, dass man sagen will: Hey Mann, ich will nicht viel, kein großes Geld oder ein Superstar werden. Ich will einfach nur, dass es so bleibt wie es jetzt ist, dann hab ich alles was ich brauche. Genau dann geht alles in den Arsch, früher oder später.“
Malique der Halb-Schwarze setzte ein bitteres Lächeln auf. „Weißt du Alter“ begann er „Es hat noch gar nicht erst angefangen.“

Als er jetzt in dem schwarzen Fleck der Finsternis allein mit Malique war, die anderen und der Park verschwunden, dachte er, dass vielleicht in diesem Abgrund die Lösung liege- das Ende der Quälerei.
„Sei am besten ganz ruhig.“ flüsterte Malique, als Paul ihm dicht folgte und die anderen ebenfalls äußerst bedacht waren nicht allzuviel störende Laute von sich zu geben, während sie durch das immer dichter werdende Unterholz des Waldes schlichen „Wir sind schon fast da.“
Das hier hatte wenig von dem Park, den Paul von den Stunden kannte, die er hier mit seiner Freundin verbracht hatte. Es war als seien sie durch eine Art unsichtbares Tor gegangen, vielleicht eingeramt von zwei dünnen umgeknickten Bäumen die nicht zu Boden stürzten, weil sie sich gegenseitig festhielten. Aber Paul wusste das so etwas niemals stattgefunden hatte. Sie hatten kein Tor durchschritten, waren auch nicht plötzlich in einen anderen Teil dieser Welt gesunken ohne es zu merken. Paul und die vier anderen liefen immer noch durch den Wald des Parks, dennoch durchschritten sie Gebiete, von deren Existenz Paul nichts gewußt hatte, oder sie nur erahnen konnte. Malique meisterte den Weg durch die Büsche und das tiefhängende Geäst ohne weitere Probleme. Er behielt seinen Rhythmus beim Laufen, die leichten unregelmäßigen Variationen seiner Haltung, wie das Tanzen zu nur von ihm wahrgenommener Musik. Das hatte er nicht im Blut, er hatte es sich über lange Zeit angeeignet, wie auch Daniel, der große Typ mit den dunklen Haaren, der zu Malique’s Rechten lief. Ein seltsamer Hip-Hop Track, der immer gleichbleibend doch auf subtile Weise variierte und die beiden vor Paul laufenden Jungen in sich gefangen hatte. Eine zum Teil schreckliche Vorstellung, aber zum anderen taten sich ihm erst ganz langsam die Möglichkeiten auf, die sich ihnen dabei boten; das ganz und gar andere Klarkommen mit der Welt um sie herum. Timo der eiserne Junge mit der roten Wollmütze und dem verfluchten FuBu-Annorak, den er wie einen Panzer trug, hatte seine Miene boshaft verzerrt, wie er durch das Geäst ging und er einfach nicht die Kontrolle behalten konnte. Doch brodelte diese Wut nur unter der Oberfläche. Vielleicht hatte er sie im Griff, oder sie war einfach noch nicht stark genug um auszubrechen. Auf jeden Fall tat es ihm nicht gut. Nina zeigte keinerlei Besonderheiten, so wie sie hier durch das Dickicht ging, sie hielt sich die spitzen Äste so gut sie konnte vom Gesicht und folgte ihnen ohne größeren Abstand als Letzte nach. Sie hätte auch in vorderster Reihe gehen können, doch gab es da noch die Möglichkeit, dass sie nicht den Überblick verlieren wollte. Kein überaus langer Weg durch den dichten verwucherten Wald, aber schon nach einiger Zeit war das Dickicht überall um sie herum. Paul kam sich nicht verloren vor, gestern um diese Zeit, als noch alles seinen gewohnten Gang ging und nicht plötzlich scheiße war hätte er vielleicht Angst gehabt den Überblick verloren zu haben, jetzt ließ er sich nur noch treiben.

Dann auf einmal, als Paul dachte irgendwas da vorne in dem Gewirr der Baumstämme würde lichter werden hielt Malique seine rechte Hand einhalt gebietend nach oben und alle blieben stehen. Paul drehte sich um und sah wie Timo schwer atmend ein paar Schritte hinter ihm stand und das Mädel Nina kleine Zweige aus ihrem blonden Pferdeschwanz zog, die sich darin verfangen hatten.
„Keinen Ton mehr.“ flüsterte Malique und tat die ersten zögerlichen Schritte. Paul folgte ihm ohne aufgefordert zu werden, aber es war okay und schon bald schaute er auf eine weite Lichtung hinaus, oder wie es aussah, das jähe Ende des Waldes und des Parks.
„Da ist sie.“ Malique hielt sich etwas geduckt.
Auf den ersten Blick sah es märchenhaft aus, wie die alten Gebäude scheinbar einfach so mitten im Wald standen. Aber als Paul den Ersteindruck vergaß sah er die asphaltierte Straße und durch die Bäume die ersten entfernten Häuserreihen dieses Stadtteils. Doch sie waren weit weg. Die Gebäude vor ihnen sahen verfallen aus, an der Schwelle zum Abrissreif-Sein. Alte graue Siebziger-Jahre Bauten. Düstere Betonklötze und verfallene Nebengebäude mit Holzverkleidung. Eine alte verlassene Schule hier draussen, an unbestimmten Ort gezogen.

„Und was soll das alles hier?“ fragte Paul „Was machen wir jetzt?“
Malique musterte die nähere Umgebung und gab keine Antwort. Auf dem verlassenen Schulfhof stand eine einsame Halfpipe und ein in mitleidenschaft gezogener Pool; die Unterseite einer hohlen Kugel- alles Skateraccesoires. Tags und Bombings an jeder freien grauen Betonwand. Eine drückende Stille, die von den beiden Skater-Geräten auf dem Schulfhof bis nach hier drüben zum Ende des Waldes wehte. Zwischen der Halfpipe und dem Pool stand ein weißer Kasten Bier unbestimmter Marke; alleingelassen. Paul fühlte eine unangenehme Kälte in seinem Brustkorb. Es war so, als wäre es hier nie menschenleer gewesen, immer ein leichtes Brennen zurückgeblieben und jeden Augenblick konnte sich der graue Hof mit Leuten füllen. Dann sah er- Paul war der festen Ansicht er sah es als erster- eine schemenhafte Gestalt mit weiten Hosen und einem dunkelgrünen Kapuzenpulli am Rande eines der Nebengebäude stehen. Die Kapuze hatte sie bis weit ins Gesicht gezogen, sodass man nicht erkennen konnte wer oder was da einem gegenüberstand. Die Gestalt konnte sie noch nicht gesehen haben; die Luft war dunstig und das Licht des Tages irgendwie undurchsichtig und milchig. Sie hielten sich am Waldrand versteckt und zwanzig Meter vor ihnen lag das Hauptgebäude der alten Schule. Links daneben der Pool und die Halfpipe und hinter diesen beiden Einrichtungen zwei kleine sowie ein größerer Neubau mit einer Sporthalle am Ende des Areals, das durch die Straße abgegrenzt wurde. Plötzlich fühlte sich Paul- als er die fernen Häuserreihen und Wohngebiete sah- als wäre er plötzlich wieder zurück in der Stadt. Vorher immer nur eine kleine Episode im Park, über die Schotterwege mit seiner Freundin und dann wieder zurück ins Auto und alles wieder wie vorher. Aber jetzt, der lange Weg durch das Dickicht und den Wald. Hatte er früher immer gewußt wann genau er wieder aus dem Park draussen war, hatte es ihn jetzt überrascht und er fühlte sich einsam.
Doch war er sich sicher, dass sie niemals alleine gewesen sind. Die Gestalt rollte auf einem Skateboard zu dem weißen Kasten und kam dort langsam zum stehen. Hinter ihr traten aus dem Schatten des ersten Nebengebäudes zwei weitere, die aber nicht auf einem Skateboard fuhren, sondern das Brett jeder für sich in einer Hand trug. Es waren ohne Zweifel drei Jungen, die auf dem verlassenen Schulhof Stellung um den weißen Bierkasten bezogen. Paul wollte näher ran um zu sehen welches Etikett, welche Marke dort zu lesen war. Malique gab immer noch keine nennenswerte Reaktion von sich; er war nur am beobachten. Wie lächerlich alles auch auf Paul wirken mochte, Malique schien ganz genau zu wissen was er tat.
„Okay Paul“ begann Malique und schaute ihn an „Wir gehen jetzt rüber zum Hauptgebäude.“ Er begutachtete die anderen drei „Ihr kommt uns nach, wenn ihr uns nicht mehr sehen könnt.“
Timo nickte, während Nina und Daniel zu den drei Skatern schauten, von denen einer schon auf der Halfpipe stand. Paul wollte noch denken wir leben in einem einzigen Klischee doch Malique hatte den Wald verlassen und war auf freiem Feld, was ihm zart andeuten sollte, ihm so schnell wie möglich zu folgen. Er hatte noch den schwarzen Rastaschopf im Blickfeld, da drehte sich Malique auch schon zu ihm und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand des verfallenen Hauptgebäudes. Verfallen, aber immer noch mächtig, dachte Paul.
„Wegen dem einen Kasten Bier“ flüsterte Paul „Ich meine, der ist ja nicht einmal mehr...“
„Scheiße Alter“ zischte Malique „Scheiß auf den einen Kasten Bier, die haben noch Reserven verdammt!“ Dann stieß er sich von der Wand ab und schlüpfte durch ein zerbrochenes Fenster in die verborgene Welt der stillgelegten Schule. Ausgeblutet, dachte Paul.

Es war überall von diesem Licht erfüllt. Ein schwaches moderiges Licht; es war überall. Paul stand vor dem Lehrerpult, genau seiner gewohnten Marke, und die Stühle alle auf den Tischen. Es war so als würde morgen alles wieder beim alten sein. Er war sogar äußerst zuversichtlich darin, morgen alles in dem gewohnten Ausgangszustand wiederzufinden. Mein Gott... niemals hatte man irgendwie nachdenken müssen, über Zukunft oder so. Wieso nicht einfach hinsetzen und warten bis alles wieder von selbst ins Reine geht? Einen Stuhl vom Tisch nehmen, sich darauf niederlassen, ein bisschen abschalten und alles würde wieder funktionieren... ganz von selbst.

 

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