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Schloss-Uhltsheimer-Horror
Schloss-Uhltsheimer-Horror
Ein Knacken zuckt die durch nächtliche Stille des Turmzimmers. Ich schaue von meinem Buch auf, zum Schatten des Nischenfensters, das das Licht der Kerze auf meinem Sekretär nicht erreicht. Es kann ein Stein gewesen sein, der gegen die Scheibe geknallt ist. Oder ein Vogel. Meine Hand streicht über einen Dreitagebart, der sich nach zwei Wochen anfühlt. Bei mir scheint sich der Haarwuchs, zumindest im Gesicht, mit zunehmendem Alter zu beschleunigen.
Klack. Wieder! Es ist zweifellos ein Stein gewesen. Ich ziehe an der Schnur der Stehlampe, zweimal, dreimal, doch mein Arbeitszimmer bleibt dunkel.
Die Glühbirne muss kaputt sein, denke ich, als klägliche Laute von unten, aus dem Hof, heraufschallen. Ein menschliches Wesen, offenbar ein weibliches, versucht mit Rufen auf sich aufmerksam zu machen. Aus vollem Hals, aber mit eher dünner Stimme. Das Rufen wird lauter. Das Stimmchen droht sich zu überschlagen.
Ruft die Frau oder das Mädchen etwa um Hilfe?
Mit einem Ruck bin ich auf den Beinen. Die Holzdielen knarren im Rhythmus meiner humpelnden Schritte. Diagonal über das Glas des kleinen Bogenfensters zieht sich ein gezackter Schatten.
„Kruzifix!“, entfährt es mir, „ein Sprung in der Scheibe!“
Mein Zeigefinger tastet nach dem versteinerten Blitz, während es draußen erneut wimmert.
Ich reiße das Fenster auf und stutze.
„Gabi?“
Die Silhouette eines Mantels weht über das Kopfsteinpflaster, wie eine mitten im Hof aufgepflanzte, schwarze Flagge. Darüber, im Mondlicht blass, schimmert mir Gabis schmales Gesicht entgegen. Ein Stoßseufzer hallt herauf.
Ich habe die Kleine schon ewig nicht mehr gesehen, doch mir fällt sofort auf, dass mit ihr etwas nicht stimmt. In ihren Augen leuchtet etwas Verwirrtes, ja ... Irres. Zusammen mit der für einen unangekündigten Besuch recht ungewöhnlichen Tages- oder besser Nachtzeit sind das zwei Umstände, die meine Freude über das unerwartete Wiedersehen drastisch mindern.
Nach einer Erklärung für das ungute Gefühl im Bauch in der Vergangenheit kramend, entgeht mir völlig, was sie mir zuruft. Offenbar ist es mehr als ihre Begrüßung, denn das Erste, was mein Bewusstsein erreicht, ist ihre ungeduldig klingende Frage, ob ich sie verstanden habe.
Ich entschuldige mich und bitte sie, zu wiederholen.
Ihre Reaktion verstärkt allerdings den Druck in der Magengegend: Als wäre ihr ein Hammer auf den Zeh gefallen, dreht sie sich, ein Heulen ausstoßend, einmal um sich selbst, bevor sie schweigend zu mir hoch starrt.
„Okay, Brummel“, ruft sie dann“, kannst du bitte ganz schnell etwas tun, das dir vielleicht verrückt vorkommt?“
Aha, also tatsächlich verrückt, denke ich. Dass sie mich nach so langer Zeit immer noch ganz selbstverständlich Brummel nennt, tut allerdings gut, vielleicht deshalb antworte ich: „Ja, natürlich, was denn?“
„Also“, beginnt sie und streckt ihren linken Arm aus. „Brummel, lauf bitte ganz schnell aus dem Turm raus, immer geradeaus, über den Wehrgang in den Hauptflügel, den ganzen Flur mit der Ahnengallerie entlang, die Treppe runter in die untere Halle ... okay? Bitte frag nicht, warum.“
Instinktiv wende ich mich um. Finsternis im Zimmer, rings um den schwachen Lichthof des Sekretärs.
„Was ist los, Gabi, brennt es?“, frage ich trotzig. „Siehst du von unten irgendwo Rauch?“
„Nein, Brummel, aber bitte tu es trotzdem!“, schreit sie und stampft mit dem Fuß auf. „Lauf los, geradeaus, so schnell du kannst! Hörst du? Dann wirst du es schon sehen. Für Erklärungen ist keine Zeit. Lauf los, jetzt! Und SO SCHNELL DU KANNST! Immer geradeaus!“
„Schon gut, Gabi, ist ja schon gut.“ Kopfschüttelnd wende ich mich ab. „Aber ...“ Noch einmal stecke ich meinen Kopf durch das kleine Fenster.
„Brummel, BITTEEE!“, gellt es herauf.
Da sie nichts von meinem lädierten Fuß wissen kann, wollte ihr lediglich noch kurz mitteilen, dass das mit dem „schnell“ so eine Sache sei. Doch ich sehe ein, dass es keinen Zweck hat.
Sie ist schon immer etwas eigen gewesen, denke ich, während ich zurück zum Sekretär humple. Kauzig, eigensinnig, vielleicht sogar ein bisschen verhaltensgestört. Gleichzeitig bin ich mir aber bewusst, dass damals – als wir uns noch täglich sahen – oft ich derjenige war, der alles vermasselte.
Das sollte mir inzwischen nicht mehr passieren, sage ich mir, nehme den Kerzenständer am Messinggriff und leuchte in die Turmkammer. Schatten huschen, vor meinen Handbewegungen flüchtend, hinter Mauersimse, hinter das Bücherregal oder hinter die Eichentruhe. Warum zum Kuckuck soll ich aus dem Turm verschwinden? „Immer geradeaus“, hat Gabi gesagt, „dann wirst du es schon sehen.“ Warum aber ist es ihr dermaßen wichtig, dass ich mich so beeile?
Die Kerze in der Hand, bewege ich mich, begleitet vom hämischen Knarren der Dielen auf die Kammertür zu. Jetzt erst fällt mir etwas auf, das die Situation blitzartig von kurios nach unheimlich kippen lässt: Die Tür steht offen und ich bin mir sicher, sie beim Betreten der Kammer geschlossen zu haben!
Ist außer mir jemand im Schloss? Hat Gabi beobachtet, wie zwielichtige Gestalten in den Wirtschaftsflügel eingestiegen sind? Will sie mich deshalb aus dem Turm heraus in den Hauptflügel dirigieren? Liege ich mit meiner Vermutung richtig, könnte es in der Tat gefährlich sein, einfach auf dem kürzesten Weg aus dem Gebäude zu flüchten. Denn auf dem Abstieg zum Hintereingang, vor dem Gabi steht und zu dem ich gewöhnlich Bekannte hereinlasse, müsste ich quietschende Türen öffnen und knarrende Stiegen hinuntersteigen. Beides würde die Einbrecher sicherlich auf mich aufmerksam machen, falls ich ihnen dort nicht ohnedies in die Arme liefe. Sie könnten mich in einem der verwinkelten Räume, die ich durchqueren müsste, etwa hinter einer der vielen Ecken in der Speisemeisterei, auflauern und mich hinterrücks niederschlagen.
Na ja, dumm war meine Gabi noch nie.
Nachdem ich den Lichtschalter neben der Tür mehrmals erfolglos betätigt habe, tritt mein Unbehagen in eine neue Phase ein. Denn ein Eindringling, der die Sicherung herausschraubt, führt selten Gutes im Schilde. Zunehmend verstehe ich Gabis seltsame Panik und ihr Drängen. Sie will, dass ich mich in Sicherheit bringe, und hat vermutlich bereits die Polizei gerufen.
Eilig überquere ich den Wehrgang. Das Flämmchen flattert hinter meiner Hand, die es nur dürftig schützt, und droht, mich in völliger Finsternis zurückzulassen. Im oberen Flur schließe ich leise hinter mir die Tür und halte einen Moment die Luft an.
Stille im Schloss.
Ich hebe den Arm in Richtung der Ahnengalerie. Mein Fußknöchel schmerzt, doch ich gebe mir einen Ruck und humple weiter, auf Walther zu Uhltsheimer zu.
Kaum habe ich das imposante Abbild meines Großvaters erreicht, verflüchtigen sich meine Ängste. In Gesellschaft meiner Vorfahren fühle ich mich immer geborgen, ihre spirituelle Anwesenheit beruhigt mich. Von Opa Walther, den ich noch lebendig und leibhaftig erleben durfte, habe ich das Schloss geerbt.
Unter den, im Kerzenlicht sonderbar lebendigen Blicken von zehn Generationen schleppe ich mich dem Hauptgebäude entgegen. Das letzte Ölbild vor der Treppe in die untere Halle zeigt einen Mann, der noch den Siebenjährigen Krieg miterlebte, Caspar zu Uhltsheimer. Sein legendäres, spitzes Kinn fasziniert mich immer wieder. Ich strecke meinen Finger danach aus – und zucke zurück.
Einen Moment verharre ich mit aufgestellten Nackenhaaren.
Dann begreife ich, dass nicht Caspar mich knurrend für mein distanzloses Verhalten verwarnt, sondern dass eine Tür in meinem Rücken geknarrt hat. Ich beschließe, den Eindringling zu überraschen, indem ich mich ruckartig umdrehe – was ich augenblicklich bereue.
Die abrupte Rechtsdrehung löst einen Höllenblitz aus, der mir vom Fußknöchel aus durch Muskeln und Eingeweide bis in den Kopf schießt, mich Sterne sehen und das Gleichgewicht verlieren lässt. Rückwärts taumelnd und mit den Armen rudernd, sehe ich die Kerze Caspar entgegenfliegen und fauchend erlöschen. Mein Handrücken streift das Messinggeländer der Treppe, während ich scheinbar ins Bodenlose falle und mir zugleich einschießt, dass ja Caspars Bildnis mit der ersten Treppenstufe abschließt. Als mein Schädel auf einer Granitstufe aufschlägt, höre ich einen Knorpel knacken. Dann rolle ich wie ein Sack Kartoffeln die Treppe hinab ins Nirwana.
Meine Ahnen stehen um mich herum und versuchen mich mit Lanzenstichen aufzuwecken. Ich stemme krampfhaft meine Augenbrauen nach oben, um die Lider auseinander zu bekommen und damit den Albtraum abzuschütteln.
Direkt über mir hängt der Kronleuchter am Fuße der Treppe in der großen Halle. Mondlicht bricht sich im Bergkristall-Behang des Lüsters. Das Stechen in Brust, Hüfte und Beinen ist entsetzlich real, auch wenn es nicht von Lanzenspitzen stammt. Zudem drischt ein unsichtbarer Grobschmied im Sekundentakt auf mein Hirn ein. Ich brauche einige rasselnde Atemzüge, bis mir klar wird, dass da noch etwas hämmert. Außerhalb meines Kopfes. Vom Haupteingang her.
Mühsam wälze ich mich zur Seite, stütze mich auf meinem Ellenbogen ab und schreie auf. Ein glühender Draht schießt mir durch alle Glieder.
Von der Haustür schallt das Echo meines Schreis zurück, denke ich einen Moment, bevor ich mich wieder korrigieren muss: Bei dem Gekreische vor der Haustür handelt sich keineswegs um ein Echo.
„Ja, ja, ich komme“, krächze ich, während ich nach einer Möglichkeit suche, auf die Beine zu kommen.
Als mir das irgendwann unter unbeschreiblichen Schmerzen gelingt, sind die Geräusche an der Tür bereits zu einem Orchesterwerk angeschwollen. Animalisches Brüllen wird von wildem Trommeln begleitet.
Ich kann nicht antworten, weil ich mit mir zu tun habe. Eine Hand auf der stechenden Hüfte, die andere in der linken Kniekehle, um den Fuß zu entlasten, bewege ich mich vorwärts. Ruckweise wie ein Untoter aus einem dieser Filme, die sich ... ich weiß nicht mehr, wer, immer anschaut.
Es dauert eine Weile, bis ich im Dunkeln den Riegel an der Haustür ertastet und zurückgeschoben, sowie danach den richtigen Schlüssel gefunden und im Schlüsselloch habe. Der Riegel des Türschlosses hat gerade das zweite Mal geklackt, als die Tür schon aufgedrückt wird. Bevor ich etwas sagen kann, fällt mir meine Tochter um den Hals. Ihre Wangen sind nass.
„Gabi, dass du dich mal wieder sehen lässt, nach so langer Zeit“, begrüße ich sie, als sie endlich lockerlässt. Ich wische klebrige Flüssigkeit von ihrem Gesicht, das im Mondlicht glänzt. „Aber warum klingelst du nicht?“, frage ich.
Sie runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf, wie bei einem Kind, das etwas Törichtes gesagt hat. „Weil der Strom seit drei Tagen abgestellt ist?“, fragt sie.
Mir dämmert, dass ihre Frage gar keine Frage ist, während sie schon weiterredet. „Weil du vergessen hast, die Stromrechnung zu bezahlen? Genauso wie du vergessen hast, mir einen neuen Zweitschlüssel machen zu lassen, oder dass wir heute Abend zusammen in den Hirsch fahren wollten, damit du endlich mal was Warmes in den Magen bekommst? Du vergisst alles, Brummel! Oder kannst du dich vielleicht erinnern, dass wir vor einer Viertelstunde durchs Turmfenster miteinander gesprochen haben? Nein, siehst du!“
Ich lasse ihre Worte einwirken. Vor einer Viertelstunde durchs Turmfenster miteinander gesprochen ... Was redet sie da? Ein dumpfes Gefühl versucht in meinem hämmernden Hinterkopf eine Erinnerung zu formen. Doch Gabi unterbricht die ohnehin schwere Geburt.
„Du vergisst wirklich alles, Brummel.“ Sie lächelt jetzt. Für Anfang dreißig sind ihre Krähenfüße viel zu tief, finde ich. Sie müsste weniger arbeiten. Oder ist sie etwa doch schon älter ...?
„Dreimal hintereinander habe ich nun Steine ans Turmfenster geworfen“, unterbricht sie wieder meinen Versuch, mich zu erinnern. „Dreimal hast du auf dem Weg durch den Wirtschaftstrakt, diesem verdammten Irrgarten, vergessen, dass du zur Tür wolltest, um mir zu öffnen. Seit fast einer Stunde stehe ich jetzt im Hof. Am liebsten wäre ich wieder heimgefahren, so, wie es letzte Woche der Handwerker gemacht hat; der, der die Tür reparieren sollte, die der Wind immer aufdrückt. Ich habe mir wirklich nicht mehr anders zu helfen gewusst, als dich unter irgendeinem Vorwand in die Halle hinunter zu jagen, wo du mein Klopfen am Haupteingang hörst. Ich habe dir am Fenster gesagt, du sollst einfach geradeaus laufen, so schnell es gehe, in der Hoffnung, du kommst unten an, bevor du vergessen hast, wo du hin willst. Davon weißt du nichts mehr, stimmt‘s?“
Sie holt tief Luft und schüttelt wieder den Kopf. „Naja, schnell ist es nicht gegangen, aber immerhin hat es funktioniert. Jetzt bist du da und am besten ...“ Sie legt den Kopf schief.
„Was, am besten?“ Meine Wiedersehensfreude ist längst einem Klos im Hals gewichen, aber ich habe das Gefühl, dass es noch dicker kommt.
Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht. Die Worte, die nun aus Gabis Mund auf mich einprügeln, hallen in mir wider wie absurde Befehle in einem Kasernenhof. Ich erinnere mich nicht konkret, aber ich spüre, dass ich das alles nicht zum ersten Mal von ihr höre. Es geht darum, diesen „maroden, unbehaglichen Bau“ endlich loszulassen und in eine „schöne, warme, helle Wohnung“ zu ziehen. Ich weiß genau, was sie mit „schöner Wohnung“ meint.
„Ach daher weht der Wind“, bekomme ich mühsam heraus, als sie endlich verstummt. Plötzlich habe ich eine Erleuchtung: Das, was ich gerade empfinde, ist vielleicht genau das, was die Zeitungs- und Radio-Leute mit diesem neumodischen Ausdruck meinen, den sie bei jeder Gelegenheit verwenden: Horror!
So oder ähnlich muss sich die Begegnung mit meinem dementen Vater, letzten Sonntag, aus seiner Sicht abgespielt haben.
Gabriele zu Uhltsheimer, Uhltsheim, Freitag den 12.11.2010