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Schlimmer als der Tod

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12.12.2001
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Schlimmer als der Tod

Das also ist der Tod. Grausam schnell und auf leisesten Sohlen schleicht er sich klammheimlich an, um mich hinterrücks zu erdolchen; eine eisige, tote Klinge in meinen, noch kämpfenden Körper zu stoßen, die Blut und Fleisch erkalten lässt, bis alles Leben erfroren ist. Man sagt, des Todes Klinge sei vergiftet, und in der Tat, sie schmeckt bitter, bitterer als bloßer, nackter Stahl, eher so wie die Ewigkeit unter Tränen in Leid und Qual und Freud’ und Glück. Gift ist es zweifelsohne, ein ungeheuer langsames dazu, doch ist es ein Gift der Erlösung? Oder der Verdammnis? Ich werde es nie erfahren.

Jackson saß noch immer auf seinem unbequemen Drehstuhl, nass geschwitzt und zitternd und unruhig wie welkendes Laub im Herbstwind, und starrte gebannt auf die große, an sich recht unspektakuläre Uhr, die über der verschlossenen Türe hing. Sie zeigte fünf nach elf. Nichts besonderes eigentlich, Jackson trat seinen Dienst als Nachtwächter jede Nacht um zweiundzwanzig Uhr an und hatte um fünf nach elf planmäßig seinen ersten Kontrollgang zu erledigen – also durchaus keine Zeit, die einem Nachtwächter, erst recht nicht Jackson, irgendein Unbehagen bereiten sollte. Doch, und das war das Unheimliche, stand die verfluchte Uhr nun schon seit über zwei Stunden auf fünf nach elf. Inzwischen war es in der Tat schon halb zwei, wenngleich sich Jackson immer noch in der beschissenen fünften Minute nach elf glaubte. Und ein Defekt an der Uhr konnte an seiner Verwirrung nicht Schuld sein, denn der große Zeiger bewegte sich; auf eine verschwommene, undeutliche Art, sah man die auf eine unbeschreibliche Weise blasphemische Bewegung des Zeigers, Minute für Minute und Stunde um Stunde. Er bewegte sich und kam doch immer wieder bei dieser verdammten eins an, nach jeder vergangenen Bewegung stand er wieder auf dieser eins. Unmöglich fluchte Jackson. Absolut unmöglich.

Gerade wollte sich Jackson auf seinen ersten Kontrollgang begeben, als er ein Geräusch aus der großen, seinem kleinen Räumchen vorangehenden Halle hörte, als mache sich jemand am Gitter des Lüftungsschachtes zu schaffen. Ein kurzer Blick auf seine Monitore bestätigte seine Vermutung. Das Gitter war heruntergefallen und lag verdächtig weit entfernt von seiner Halterung auf dem Boden, was einen bloßen Zufall ausschloss. Doch absolut niemand war auf den Bildschirmen zu beobachten. Die Halle war menschenleer, nichts war zu sehen, außer dem verräterischen Gitter. Wer auch immer Interesse daran haben könnte, in die Notaufnahme eines verarmten und heruntergekommenen Krankenhauses einzubrechen, gab sich jedenfalls keinerlei Mühe, sein seltsames Vorhaben geheim zu halten.
In größter Aufregung schnallte sich Jackson seinen Pistolengürtel um und entsicherte die Waffe vorsorglich schon einmal. Noch nahm er sie nicht in die Hand, denn er wollte unter keinen Umständen Gebrauch von ihr machen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Er schaute noch einmal auf die Bildschirme, konzentrierte sich auf etwas Ungewöhnliches, konnte jedoch zunächst nichts entdecken. Erst als er seinen Blick der Uhr zuwenden wollte, schwang auf einem der flimmernden Monitore eine Türe auf, von außerhalb des Raumes geöffnet und…herein trat niemand. Nichts geschah. Ungläubig starrte Jackson auf die unheimliche Szenerie, die sich ihm auf dem Schirm darbot. Es war eine schwere Glastüre, die unmöglich durch den Wind hätte aufgehen können. Auf Grund der ungünstigen Kamerapostion konnte er nicht durch die Glasscheiben hindurch sehen, aber so oder so war es kaum anzunehmen, dass sich jemand einen Spaß mit dem Nachtwächter erlauben würde. Irgendjemand musste durch diese Türe gegangen sein.
So leise wie nur irgend möglich stand Jackson auf und ging, sich immer wieder dieselben Fragen stellend, auf die Türe zu. Gerade wollte er seine Hand auf den Türgriff legen, als ihm urplötzlich der Gedanke kam, dass die Eisentüre, die auf seinem Monitor so geisterhaft aufgeschwungen war, die Türe zu dem Gang vor seinem Raum war. In der Aufregung hatte er nicht darauf achten können, weil sein Hirn nur ungläubig rotieren konnte, ohne den Sinn des Gesehenen zu fassen. Aber, ja, definitiv, das war sein Gang! Wer auch immer die Türe geöffnet hatte musste ihm jetzt näher sein, als es ihm lieb sein konnte.
Von quälender Angst gelähmt, hielt er inne, horchte angespannt und hörte für Sekunden auf zu atmen, um auch ja nichts zu überhören, was von dem tosenden Lärm seines Atems übertönt werden könnte. Seine Hand glitt nah unten, griff erst ein paar Mal in die Luft, ehe sie den Revolver zu fassen kriegte und umklammerte seinen Griff dann mit ängstlich verkrampfter Bewegung. An gute Vorsätze war nicht mehr zu denken, Jackson zog die Pistole aus dem Halfter, drückte die Türklinke hinunter und tat einen entschiedenen Schritt hinaus auf den schwach erleuchteten Flur.
Und ihm grinste der Tod ins Gesicht. Eine Maske von unendlich abstoßender Verzerrung, die Gesichtszüge so grotesk und widerlich, als wären sie ein blasphemischer Hohn auf die menschliche Schönheit. Blutrot glühende Augen, flackernd, wie im Schein eines gigantischen, sonnenheißen Flammenmeeres, drohend und hämisch lachend zugleich, als wollten sie züngelnde Feuerpfeile verschießen und Jackson das Leben aus den Gliedern brennen. Die monströsen Zähne waren rabenschwarz, wie die Finsternis vor dem ersten Tag, und boten einen abscheulichen Kontrast zu dem knochenbleichen, in infernalischem Glanz stehenden, von Würmern zerfressenen Schädel. Das Ungeziefer kroch aus den Löschern, an deren Stelle einmal eine Nase gewesen sein musste, fiel aus den seitlichen Stummeln, die irgendeine höllische Art von unmöglichen Ohren darstellen mussten – ein boshafter Abklatsch auf die Glieder der Sterblichen, und brannte lichterloh, kreischende, unnatürliche Schreie von sich gebend, in den Feueraugen des Todes. Statt einer Zunge sprangen weiße Lichtfetzen zwischen den beiden missgebildeteten Kiefern hervor, umspielten den, vor Grauenhaftigkeit strahlenden Todesschädel, und verloren sich in majestätischem Kampf mit dem Licht der flackernden Lampen in der Luft. Drei mächtige Hörner krönten den Kopf des Todes, und jedes glühte wie zum infernalischen Gruße auf, als es an Jackson vorbeischwebte, langsam, wie in Zeitlupe, quälend, schmerzvoll, wie auf dem obersten Gipfel des Grauens.
Wie aus schwarzem Basalt wirkte das größte Horn auf der Stirn der unfassbaren Gestalt. Die beiden anderen wanden sich an den Seiten des Schädels im Kreise, wie die eines Ziegenbocks. In tiefschwarzen, geisterhaft glitzernden Samt war der Tod gehüllt, ein langer Mantel fiel bis zum Boden und überdeckte ein dunkles, weinrotes Kleid, das wie aus dem Blut und Fleisch von Tausend Toten gefertigt aussah. Die verkrüppelten Hände zuckten unkontrolliert in alle Richtungen, schienen mit unsichtbaren Gestalten zu kämpfen, und beschrieben dann und wann Gesten in der Luft, die erahnen ließen, dass sie den Triumph davon trugen und ihren Vater Tod mit unbemerktem, doch ungebrochenem Erfolg beschützten.
Dieses grinsende Wesen, der personifizierte Tod, zog an Jackson vorbei, in einem ungeheuer langen, fast ewigen Augenblick, den er in einer seltsamen, dem puren Wahnsinn nahen Starre erlebte. Er konnte das Gesehene unmöglich für wahr nehmen, seine Haare standen zu Berge, als wollten sie anzeigen, dass sich sein Hirn, sein ansonsten messerscharfer Verstand, gegen diese Vorstellung, diese frevlerische Verteufelung der eigentlichen, bisher bekannten Wahrheit, sträubte und es einfach nicht zulassen konnte, dass er dem Tode selbst und höchstpersönlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand. Und dabei schien der Tod ihn auszulachen, ihm in seinem unglaublich langsamen Vorbeischweben den Spiegel vorzuhalten, ihm seine grenzenlose Unwissenheit und Naivität aufzuzeigen und zu sagen: Du wirst der nächste sein!
Doch noch hatte Jackson wohl Zeit, Lebenszeit, denn der Tod zog endgültig an ihm vorbei und bog um die nächste, in Dunkelheit liegende Ecke. Und war verschwunden.
Jackson erinnerte sich nur langsam an seine Sinne, die in den letzten Augenblicken allesamt einzig durch blankes Entsetzen ersetzt worden waren. Zuerst kehrte sein normales Augenlicht zurück, verschwommene Bilder nahmen langsam Gestalt an, dann schmeckte er die Bitterkeit auf seiner Zunge, ekelhaft und doch im Angesicht des Todes irgendwie nicht ungewöhnlich, dann gehorchten ihm auch wieder seine Ohren und zu hören war nur sein lautes Stöhnen und Keuschen, wie nach einem Zweitausendmeterlauf, und das, obwohl er nur da gestanden hatte. Nur? fragte er sich. Immerhin hatte er sich beinahe zu Tode gestanden. Schließlich kehrte auch wieder das Gefühl in seine Glieder zurück, er hatte sie jedoch nicht völlig unter Kontrolle, strauchelte und stolperte rückwärts in sein Räumchen hinein, fiel erschöpft und zutiefst verwirrt auf seinen Drehstuhl und versank in einen Zustand völliger geistiger Betäubung.

Ich lag in meinem Krankenhausbett, gekuschelt in die warmen Decken und beobachtete die Dunkelheit um mich herum. Die Rolläden waren komplett heruntergelassen und auch vom Flur, zu dem die Türe nun aufstand, drang keinerlei Lichtschein in mein kleines, enges Einzelzimmer, und so konnte ich nicht erkennen, wer oder was mich in meinem Zimmer besuchte. Die Türe konnte sich kaum von allein geöffnet haben und so musste noch jemand hier anwesend sein, der jedoch keinerlei Anstalten machte, sich bemerkbar zu machen.
Zuerst war kein Ton zu hören, doch nach wenigen, elend langen Minuten, vernahm ich ein leises Hauchen, ein kaum wahrnehmbares, aber sicher vorhandenes Keuchen, dass definitiv nicht menschlichen Ursprungs war. Zu leer, zu hohl klangen diese Laute. Zu leblos.
Diese offensichtliche Parodie auf mein Atmen kam langsam näher, leise und verstohlen in der Dunkelheit, wie ein Mörder sich im Rücken seines Opfers voran schleicht. Wenn ich noch Lebenskraft gehabt hätte, mich hätte die schiere Panik gepackt, doch so lag ich ruhig in meinem finsteren Grauen, nur umsäumt von meinen düsteren Vorahnungen, und wartete auf mein Schicksal.
Denn ich hatte meinen Besucher erkannt. Die Art seines Auftretens verriet ihn, die Stille, die ihn umgab war sein Bote. Er war gekommen, mich mitzunehmen, mich entschlafen zu lassen. Wohin die Reise gehen sollte wusste ich nicht, aber immerhin hinfort von allem Lebenden, und das war nach mittlerweile 50 ausgiebig gelebten Jahren mein einziger Wunsch. Weg vom Leben. Endlich Ruhe finden.
Der Tod nahm mich in seine eisigen Klauen, hauchte mir sanft über mein schläfriges Gesicht und sog meinen Atem in sich auf. Das Blut verließ meine Adern und die Muskeln erschlafften. Ich fühlte das Fleisch absterben, ein leichtes Kribbeln zog über meinen Körper, von den Beinen aufwärts auf mein immer langsamer klopfendes Herz zu, zielstrebig und unnachgiebig. Dann spürte ich einen Stich in meinem Körper, in kann nicht mehr sagen wo, doch es war das Ende. Das Finale einer grandiosen Show, die ich mein Leben nannte. Die Lichter gingen das letzte Mal aus. Applaus brandete an meine Ohren und ich lächelte. Lächelte zum guten Schluss, grüßte damit mein vergangenes Leben, wie ein Lobgesang auf den Menschen, derer ich einer war. Es war aus. Der Vorhang fiel. Und ich schrie, schrie laut, ohrenbetäubend und gellend auf, ein Gemisch aus Schmerz und Glück, aus Leid und Fröhlichkeit; schrie zum Ende meines Daseins, wie ich geschrieen hatte am Tage meiner Geburt. Es endete wie es einst begonnen hatte.
Mit frohem Mute in die Zukunft schauend ergab ich mich in mein Schicksal und erwartete den Frieden des letzten Schlafes. Ruhe. Und Frieden. Frieden…

Mit demselben bitteren, faulen Geschmack im Mund wachte Jackson aus seiner panischen Starre auf. Es schüttelte ihn, und Schweiß rann aus allen Poren. Seine Stirne glänzte im matten, flackernden Licht der Monitore. Und nach seinen Sinnen kehrte nun auch endlich sein Bewusstsein zu ihm zurück.
Er fing seinen Blick und bemerkte die Uhr in seinem Sichtfeld. Die Uhr, die seit fast zweieinhalb Stunden auf fünf nach elf gestanden hatte; sie zeigte jetzt zu Jacksons Erleichterung halb zwei an. So war die Zeit wieder in Ordnung gekommen, dachte er. Das war die Wirklichkeit, redete er sich ein, doch die Existenz seines nächtlichen Gegenübers konnte nicht leugnen, zu tief war die Erschütterung gewesen, die er im tiefsten Inneren seines Herzens verspürt hatte. An den Grundpfeilern des Lebens, seines eigenen Lebens, hatte die Gestalt gezerrt, und sie schienen zu splittern, doch sie waren wohl doch für längere Zeit gefertigt worden. Der Tod war ein schlimmer Besucher.
Jackson schaute wieder auf die Monitore, ohne Unbehagen, denn aus irgendeinem Grund war er sich absolut sicher, der Tod habe das Gebäude schon verlassen. Vielleicht war er wieder hier vorbei gekommen, dachte Jackson. Vielleicht hatte er ihn wieder so höhnisch angegrinst, voller Verzückung für sein zukünftiges Opfer – wann immer dieses zukünftig auch sein mochte. Er wollte herausfinden, wo der Tod gewesen war, in welchem Zimmer, wollte ihm nachgehen, zu groß war seine Neugier als dass er hätte widerstehen können. Sein Verstand war besiegt, aber was konnte man nach einem solchen Erlebnis schon von einem kleinen, eingeschränkten menschlichen Verstand erwarten?
Doch es war nicht vorbei. Wieder zu seiner verfluchten Versteinerung zurückkehrend glotzte Jackson ungläubig auf den Bildschirm, der die Eisentüre zeigte, die vor wenigen Stunden dem Tod als Portal gedient hatte. Sie schwang wieder auf. Langsam, das Schauspiel schien sich zu wiederholen, doch diesmal trat keine unsichtbare Gestalt ein, kein schwarzer Mantel flog durch die Türe. Es war ein greller weißer Umhang, der in nicht vorhandenem Wind wehte und Falten in den unmöglichsten Formen warf, die allein schon Jacksons strapaziertes Gehirn zum Kochen brachten. In dieser unnatürlichen Hülle steckte ein alter, ein sehr alter Mann, kräftig gebaut, langes, weißes Haar fiel um seine Schultern und das, von Narben und Falten durchzogene Gesicht war von einem ebenfalls schlohweißen, dünnen Bart umrahmt.
Doch als Jackson genauer hinsah, erkannte er feinste Strähnen im Haar des Alten, die in den seltsamsten Farben glitzerten und funkelten, wie ein Regenbogen, nein, wie alle Regenbogen zugleich. Und noch weit mehr Farben barg der Kopf des Mannes, alle irdischen Farben, Farben nicht irdischen Ursprungs und dazu schlichtweg unmögliche Farbtöne, die das menschliche Vorstellungsvermögen lächerlich machten. Und diese Strähnen schienen ein Eigenleben zu haben, sie windeten sich im unnatürlichen Wind, der die Gestalt umgab und tanzten einen faszinierenden, unfassbaren Tanz des Lebens. Jackson rollte die Augen. Sie sprühten vor Lust, es waren nur Haare, verdammt, aber sie sprühten vor Lust, vor Lebenslust!
Es war kein Engel, definitiv war es kein Engel, dass spürte Jackson, auf eine Weise, die keine Zweifel gestattete. Und doch war an dem Wesen etwas himmlisches, etwas majestätisches, dass ganz und gar im Gegensatz zu der bösen, königlichen Ausstrahlung des Todes stand.
Der Mann war über und über mit grauen Lederbeuteln behängt, unzählbar viele von etwa der Größe einer geballten Faust und in jedem Beutel steckte eine...eine Seifenblase, eine in allen erdenklichen und unerdenklichen Farben glitzernde Kugel aus unbekanntem Material. Sah man genauer hin, musste man mit Unbehagen feststellen, dass es gar kein Material war. Es waren nur Blasen aus bloßer Farbe, irritierend und faszinierend zugleich. Und nicht nur in den Beuteln lagen die Farben, auch um den Mann herum, ihm ganzen Flur schwebten bizarr schillernde Farbkugeln, Seifenblasen der Unmöglichkeit. Fast schien es, als seien die in den Beuteln die schlafenden Brüder der frei fliegenden.
Jackson war inzwischen vom Wahnsinn gepackt, er zuckte unkontrolliert von links nach rechts, vollführte einen wirren Tanz auf seinem Drehstuhl und kämpfte um seine eigene Fassung, versuchte seinen Verstand vor dem Gesehenen zu schützen, presste sich mehrfach die Hände vor die Augen und rieb, bis sie endlich brennend rot waren und sah schließlich ein, dass es nur eine rettende Möglichkeit gab. Er zog in unbändiger Hast seinen Revolver und stürmte, wie von den Pferden des Wahnsinns verfolgt, auf die verdammte Türe zu, prügelte sie mit überschäumender, unkontrollierter Wut auf und fiel auf den Flur, bereit, sich seinem grotesken Gegner zu stellen.
Doch dieser ignorierte ihn völlig, machte keine Anstalten, ihn auch nur anzusehen, geschweige denn gar anzugrinsen und zog zielstrebig an ihm vorbei. Jackson presste sich seine zitternden Hände an die Ohren, um sich zu schützen. Myriaden von flüsternden Stimmen erfüllten den Flur, sprachen Gedichte, erzählten Geschichten, sangen schönste Lieder, grüßten und verfluchten ihn, schimpften mit ihm, lachten ihn aus, ermunterten ihn und schienen eine blasphemische Zwiesprache mit den tanzenden Farben zu halten. Der Flur war zu einer Hölle geworden, eine Hölle voller Kunst, voller Musik und Malerei, voller Dichtung und Glückseligkeit. Eine bunte Hölle hatte Jackson verschluckt, ein Inferno der Farben und wispernden Stimmen, ein Fegefeuer des Lebens.
Der Tod war ein schlimmer Besucher, doch dieser hier, dieser war das Grauen schlechthin. Und auf einmal wünschte sich Jackson den Tod zurück.

Ich war tot. Ich saß auf meinem Krankenhausbett und betrachtete meinen leblosen Körper, der schlafend, wie ein Engel vor mir lag. Er war gekommen und hatte mich von den Fesseln des Lebens befreit. Nun war ich frei und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Mitgenommen hatte er mich nicht, dass Himmelslicht würde mich holen, hatte er mir mitgeteilt. Ein Engel sollte mich holen. Stolz erfüllte mich bei diesem Gedanken, denn nur die höchsten und begabtesten Geister nahm Gott unter seinen Schutz. Das war das Paradies der Toten und mir vergönnt.
Aber die erste düstere Vorahnung kam mir, als ich die glitzernde Farbenpracht sah, die sich ungebeten in mein Zimmer schlängelte. Glänzende Farbblasen flogen in mein Zimmer, wie eine Warnung, eine allerletzte Warnung vor der Ewigkeit, doch einen Fluchtweg gab es nicht. Ich war gefangen. Gefangen zwischen Leben und Tod, saß ich hier auf meinem verfluchten Bett und beobachtete mit steigender Furcht das Anwachsen des schillernden Farbenmeeres, dass mein Zimmer in ein einziges bizarres Lichtspiel verwandelte. Und eine Eiseskälte durchfuhr meine Gedanken wie eine Klinge aus gierigem, gefrorenem Stahl, als die Farben zu wispern anfingen, und in einen grauenerregenden Gesang der Gleichgültigkeit verfielen, völlig gefühllos ohne jede Emotionen. Und da trat er in mein Zimmer, einer jener Männer, die das Böseste der Welt personifizieren, niederträchtiger und hinterlistiger als alle Erzdämonen und Höllenfürsten, die sich ein menschliches Hirn nur ausdenken kann. Der Feind allen Lebens und allen Todes war in mein Reich eingekehrt und hielt nun schreckliches Gericht über mich, sprach seine verdammten Sprüche und legte die ewige Knechtschaft über mich.
Stumm starrte er mich an, seine Augen wild glitzernd unter seinen schimmernden Augenbrauen. Er lächelte, wusste, dass er mich gefangen hatte, dass ich ihm nicht entkommen konnte. Seine Sammlung würde weiter wachsen, ein neues Glanzstück umfassen, wenn er mit mir fertig war. Tränen rannen mein totes Gesicht hinunter, schwer von finsterer Vorahnung und weinten alle Vorstellungskraft aus mir heraus, alle Phantasie ging mit ihnen zu Boden und zerbrach. Der Wunsch nach Frieden wurde ein letztes Mal laut, gipfelte in einen von unermesslicher Trauer gepackten Seufzer und erstarb sodann, erlosch wie eine einsame Flamme in verregneter Nacht, wie die Hoffnung im Toben und Tosen der gnadenlosen Sintflut.
Er hatte den Kampf gewonnen, einen Kampf der für mich, wie für irgendeinen Menschen nicht zu gewinnen war. Ich war besiegt, willenlos, ziellos auf dem Meer der Ewigkeit segelnd. Ich verschwand langsam, ganz langsam und fühlte den Wind, wie er durch meine Haare pfiff als ich mich in eine materiallose Blase aus, vor blinder Glückseligkeit glitzernder Farbe verwandelte und mein Schweben im Nichts begann.
Das war mein Gefängnis. Zwischen Leben und Tot. Mein Jäger war erfolgreich. Mein kostbarstes gehörte ihm, mein Ein und Alles, mein Schatz, mein Ich im Leben wie im Tod, meine Seele...meine Seele.

Jackson lag gebrochen auf dem Flur, kraftlos, ohne jeglichen Willen, von Weinkrämpfen geschüttelt und von einer unmenschlichen Macht niedergestreckt, die jede Vorstellung bei weitem an Wahnsinn übertraf.
Nur verschwommen nahm er wahr, dass der alte Mann wieder an ihm vorbei zog, auf die Eisentüre zuhielt. Und mit ihm die Farben, die Farbblasen und die Stimmen. Sie sprachen, sie sangen, sie erzählten. Und eine Stimme drang besonders deutlich an sein Ohr, eine vertraute Stimme; sie weinte, sie schluchzte leise, schloss sich seiner Trauer über das Unbeschreibliche an. Und als er aufschaute, da sah er eine kleine, tanzende Farbblase vor seinem Gesicht; sie schien ihn anzuschauen, ihn anzuflehen. Und plötzlich, in grotesker Langsamkeit löste sich eine Träne aus der Blase, eine farblose, menschliche Träne, und fiel auf den kalten, trostlosen Boden und zerbrach.

[Beitrag editiert von: falk am 06.04.2002 um 22:24]

 

Wow!!! :)
Also ich muss wirklich sagen, dass dir da etwas richtig gutes gelungen ist! Du hattest zwar ein paar kleine Rechtschreibfehler, die aber nicht weiter stören. Ich habe nur eine Sache, die mir von der Formulierung her, nicht so gut gefallen hat:

Der Tod war ein schlimmer Besucher, doch dieser hier, dieser war das Grauen schlechthin
Ich weiß nicht, wie das für andere klingt, aber ich würde es besser finden, wenn du nur "Der Tod war ein schlimmer Besucher, doch dieser hier war das Grauen schlechthin" schreibst. Hier passt es nicht 'dieser' zweimal zu benutzen.
Mir ist übrigens aufgefallen, dass du immer Türe, statt Tür schreibst, hat das einen besonderen Grund oder gefällt dir das einfach besser?
Ansonsten gibt es überhaupt nichts zu meckern an deiner Geschichte und ich fand sie wirklich sehr gut. Du beschreibst alles so bildlich und das ist, zumindest für mich, echt atemberaubend. (Auch auf die Gefahr, dass das so wirkt, dass ich mich einschleim :D ). Am besten fand ich deine Beschreibung des Teufels. Konnte mir das sehr gut vorstellen!
Was dir auch sehr gut gelungen ist, ist der Schluss.
Und als er aufschaute, da sah er eine kleine, tanzende Farbblase vor seinem Gesicht; sie schien ihn anzuschauen, ihn anzuflehen. Und plötzlich, in grotesker Langsamkeit löste sich eine Träne aus der Blase, eine farblose, menschliche Träne, und fiel auf den kalten, trostlosen Boden und zerbrach.

Sag mal, hast du eigentlich schon mal daran gedacht, etwas zu veröffentlichen?

Nochmal ein großes Lob!! Und ein :kuss: für diesen tollen Einstieg in den Tag.

Liebe Grüße,

Fallen Angel

[Beitrag editiert von: The FallenAngel am 07.04.2002 um 11:11]

 

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