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Schlichter Gedanke am Abend / Vorwort zu einem ungeschriebenen Roman

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Schlichter Gedanke am Abend / Vorwort zu einem ungeschriebenen Roman

Wir sind als Menschen immer Wanderer gewesen, unstete Streber von einem Hier zu einem Dort, Dränger von einem Derartig zu einem Andersartig, stets auf der Suche nach einem letzten Zustand, auf dem Weg zu einem imaginären Punkt des Verharrens und Ruhens. Das ist unser uraltes Erbe, unser Fluch sowohl wie unser Segen: unser Schicksal.

Und obgleich uns allen dieses Strebende und Sehnende gemeinsam ist, obgleich wir uns auf denselben Beinen und Trieben bewegen, ist es eben diese gemeinsame Eigenschaft, die uns trennt und unterscheidet. Denn Innigkeit und Entschlossenheit, Ergriffen- und Besessenheit sowohl wie Sicht- und Reichweite unseres jeweiligen Strebens sind uns in sehr verschiedenen Graden gegeben: während der eine nach Nahem und Nächstem, nach Frau und Familie, Haus und Pokalsieg des FC Schalke strebt, drängt ein Anderer, Seltenerer in eine kaum sichtbare Ferne, verlangt er nach einem undefinierbaren Etwas, das er Licht oder Nacht, Paradies oder Hölle, Utopos, All oder Gott tauft, und das er unter diesen und unzähligen anderen Formeln und Gleichnissen verehrt und verflucht.

Und trotz seiner geisterhaften Stofflosigkeit und fragwürdigen Verschwommenheit ist dieses je und je ahnungsvoll aufschimmernde Ziel bequem in der Lage, den Selteneren sowohl gründlich zu vernichten und in den Dreck zu tauchen, als auch in Sternenhöhen zu entführen und dort ihn unter süßen Zuckungen in das All zu verdampfen.

Von den Anderen wird dieser Seltenere je nach dem Verlauf seines Schicksals beurteilt, als Heiliger und Weiser verehrt oder als Taugenichts und Landstreicher beschimpft; so oder so wird er immer einsam sein. Doch weder dieses noch jenes wird den rechten und aufrechten Wanderer rühren: immer wird er geradeaus blicken, seinen Weg suchen und ihn beschreiten, solange die Beine ihn tragen.

[ 26.05.2002, 13:53: Beitrag editiert von: chrysanth ]

 

Hallo chrysanth,
obwohl natürlich keine Kurzgeschichte, hat mir der Text gut gefallen, denn er ist hervorragend verdichtet, jedes einzelne Wort ist stimmig, ( selbst hinter dem "Stilbrecher" FC Schalke steckt ja Sinn, würd ich nicht ändern ).
Die Überschrift ist erklärend und passend.
Deine Aussagen kann ich, obwohl kein "Philosoph", nur unterstützen, der Stil zeugt von Reife. Fehler sind mir nicht aufgefallen.
Problem könnte es sein, dass du, wie oben erwähnt, ein Vorwort schreibst und keine Kurzgeschichte. Ich bin nicht oft in dieser Rubrik, aber man könnte kritisieren, dass du den Inhalt, die Intention usw. dem Leser direkt auftischt und nicht erst durch eine Kurzgeschichte ( Handlung etc. ) verpackst.
So, dass war´s. viele Grüße,
para

 

Hallo,

freut mich, die eine oder andere Saite zum Klingen gebracht zu haben.

Was den FC Schalke angeht, so ist dies der sehr unbeholfene Versuch, dort ein wenig Zeitgemäßheit vorzutäuschen, wo etwas ganz anderes vorherrschend ist: etwas, das irgendwo zwischen schlimmem, schreiendem Anachronismus und ganz sachte angedeuteter Zeitlosigkeit liegt...

Was jedoch eine Saite in MIR zum Klingen gebracht hat, ist dies:

Aufgehen in der ewigen Nichterfüllung. Ewiges Scheitern, ewige Klage und Wonne im Tod.
Du, Sighard, sprichst da nämlich etwas an, das mich zur Zeit literarisch beschäftigt; "Stümperpassion lautet der vielsagende Titel, mit dem mein derzeitiges Projekt überschrieben ist - das auszuführen würde allerdings zu weit führen. Hier nur so viel: die Bereitschaft, sein Schicksal zu leben, es wie ein Kunstwerk konsequent und diszipliniert durchzuführen, muss auch dann vorhanden sein, wenn abzusehen ist, dass man elend (vielleicht sogar regelrecht lächerlich) scheitern wird; auch die Gescheiterten, elend Zerstörten muss es geben, auch sie gehören in Gottes Plan (Gott im bildhaften Sinn), gleichen den unzähligen Spermien, die irgendwo zwischen Vagina und Uterus hängenbleiben, das Ei nicht befruchten und zu totem Schleim werden - das ist mein Thema: die Notwendigkeit des Scheiterns, der Sinn dieses Scheiterns und das Einverstandensein des Gescheiterten/Scheiternden damit.
Wie sagt Nietzsche so wunderbar? "Noch ist der Tod kein Fest."
So, jetzt weiß ich gar nicht mehr, ob das Ganze noch irgendeinen Zusammenhang zum Anfang hat und ob es verständlich ist; ich lass es einfach so stehen. Das Angedeutete auszuführen, hieße wieder den hiesigen Rahmen sprengen.

Grüße,
Christian

[ 26.05.2002, 15:31: Beitrag editiert von: chrysanth ]

 

Hallo crysanth,

also- Du hast ein wirklich grundlegendes philosophisches Thema in guter Sprache und vorallem kurz und präzise beschrieben. Außerdem ist das Thema angemessen nüchtern und nicht effekt- haschend, provokativ geschrieben. Gefällt mir! Über den (Un)Sinn des Lebens habe ich auch schon geschrieben, weis also wie schwer das ist.

Tschüß ... Woltochinon

 

Hallo crysanth,
doch noch eine Anmerkung: Nicht gefallen hat mir "auf Beinen u n d Trieben"
der Satz mit den vielen Bindestrich- Aufzählungen " ... sowohl wie Sicht- und Reichweite ..."
"unter süßen Zuckungen in das All zu v e r d a m p f e n" (??)
-
Tschüß ... Woltochinon

 

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