Schlichter Gedanke am Abend / Vorwort zu einem ungeschriebenen Roman
Wir sind als Menschen immer Wanderer gewesen, unstete Streber von einem Hier zu einem Dort, Dränger von einem Derartig zu einem Andersartig, stets auf der Suche nach einem letzten Zustand, auf dem Weg zu einem imaginären Punkt des Verharrens und Ruhens. Das ist unser uraltes Erbe, unser Fluch sowohl wie unser Segen: unser Schicksal.
Und obgleich uns allen dieses Strebende und Sehnende gemeinsam ist, obgleich wir uns auf denselben Beinen und Trieben bewegen, ist es eben diese gemeinsame Eigenschaft, die uns trennt und unterscheidet. Denn Innigkeit und Entschlossenheit, Ergriffen- und Besessenheit sowohl wie Sicht- und Reichweite unseres jeweiligen Strebens sind uns in sehr verschiedenen Graden gegeben: während der eine nach Nahem und Nächstem, nach Frau und Familie, Haus und Pokalsieg des FC Schalke strebt, drängt ein Anderer, Seltenerer in eine kaum sichtbare Ferne, verlangt er nach einem undefinierbaren Etwas, das er Licht oder Nacht, Paradies oder Hölle, Utopos, All oder Gott tauft, und das er unter diesen und unzähligen anderen Formeln und Gleichnissen verehrt und verflucht.
Und trotz seiner geisterhaften Stofflosigkeit und fragwürdigen Verschwommenheit ist dieses je und je ahnungsvoll aufschimmernde Ziel bequem in der Lage, den Selteneren sowohl gründlich zu vernichten und in den Dreck zu tauchen, als auch in Sternenhöhen zu entführen und dort ihn unter süßen Zuckungen in das All zu verdampfen.
Von den Anderen wird dieser Seltenere je nach dem Verlauf seines Schicksals beurteilt, als Heiliger und Weiser verehrt oder als Taugenichts und Landstreicher beschimpft; so oder so wird er immer einsam sein. Doch weder dieses noch jenes wird den rechten und aufrechten Wanderer rühren: immer wird er geradeaus blicken, seinen Weg suchen und ihn beschreiten, solange die Beine ihn tragen.
[ 26.05.2002, 13:53: Beitrag editiert von: chrysanth ]