- Beitritt
- 31.08.2008
- Beiträge
- 594
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Schlesien im Herbst
Kommt, Zeit, kommt Rat … kommt Attentat!
Spontispruch, ca. 1977
I.
Die schwarze Kutsche schaukelte gemächlich auf ihrem Weg in der Dämmerung. Der Kutscher hatte Langenbielau umfahren und war jetzt auf dem Weg nach Peterswalde, dem Ziel der Fahrt. Schon kamen die ersten Hütten in Sicht. Schmutzige, verwahrloste Gestalten standen am Straßenrand. Kinder liefen umher. Dann standen die Menschen dichtgedrängt auch auf der Straße; der Kutscher mußte sich mit der Pfeife Gehör verschaffen, damit die Leute Platz machten.
Niccolò war nun schon seit vier Wochen unterwegs, seit er in Florenz aufgebrochen war. Er hoffte auf eine Zeit der Ruhe bei seiner Schwägerin Eleonore, der Frau des Fabrikanten Fuffziger. Eine Auszeit. Mißtrauisch sah er auf das Gesindel; es erinnerte ihn an die Menschen in den schummrigen Gassen von Neapel.
Die Villa der Fuffziger kam in Sicht und der Kutscher hielt die Pferde an. Im Hausflur wurde Licht angezündet und Frau Eleonore Fuffziger erschien in der Eingangstür, dann Friedrich, ihr Mann, und zwei Bedienstete. Niccolò wurde herzlich begrüßt und in das Haus gebeten, während die Diener sich um das Gepäck kümmerten.
Sie wiesen Niccolò ein Zimmer, einen großen hellen Raum mit einem Balkon zum Park, einem abgeteilten Schlafzimmer, eingerichtet in verspieltem Spätbarock. Ein kleiner Schreibtisch aus Nußbaumholz stand am Fenster; darüber freute er sich besonders. Der Kachelofen verbreitete gemütliche Wärme. Vor einem Spiegel stand eine Waschwanne und eine Kanne mit warmem Wasser. Niccolò machte sich frisch.
Im Salon war die Tafel gedeckt, der Leuchter an der Decke verbreitete mit zwölf Kerzen festliche Stimmung. Friedrich Fuffziger bat den Gast, Platz zu nehmen und offerierte einen Sherry; Niccolò nahm dankend an. Beim Essen mußte er ausführlich über seine Reise berichten; er erzählte von der Überquerung der Alpen, seinem Aufenthalt in München, einem Besuch im Kloster von Bamberg, Freunden, Politikern und Schriftstellern, mit denen er sonst nur brieflich verkehrte. Seine Worte waren kühl und überlegt, wenig Wärme oder gar Freude schwang darin, oft verschwanden seine Blicke hinter einem melancholischen Schleier. Auf seine Tätigkeit in Florenz angesprochen, wich er aus: „Die italienischen Fürsten sind störrisch; es hilft nichts, sie gut zu beraten. Sie müssen ihre Fehler selber machen, statt aus denen ihrer Vorgänger zu lernen.“ Mehr mochte er dazu nicht sagen.
Von draußen erscholl Gesang durch das Fenster. Eine große Menschenmenge sang dort, mal klagend, mal wütend. Niccolò sah Friedrich forschend an. „Was hat das zu bedeuten?“
„Das ist nichts … die Leute kommen manchmal, um ihr Leid zu klagen. Damit werden wir schon fertig. Uns geht es auch nicht besser, der Konkurrenzdruck …solange sie nur singen.“
„Darf ich das mal hören?“ Niccolò war selbst aufgestanden und öffnete das Fenster einen Spalt. Nun war der Gesang überdeutlich; die Menschen schienen direkt am Tor zu stehen.
„Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulniß und Moder den Wurm erquickt –
Wir weben, wir weben!“
Niccolò schloß das Fenster. „Wir können ja nach hinten in die Kaminstube gehen“, schlug Eleonore vor. „Ja, dort ist es ist besser. Dort haben wir unsere Ruhe“, befand Friedrich und stand auf.
„Für heute nehme ich es gern an. Indes glaube ich, es wird nicht lange als Lösung taugen“, bemerkte Niccolò. Er ging die Treppe hoch zu seinem Zimmer, um eine Flasche Grappa zu holen, die er eigens für den ersten Abend mitgebracht hatte. Als er in das Kaminzimmer kam, hatte Friedrich schon Cognacgläser auf den kleinen runden Tisch am Kamin gestellt und wollte gerade einschenken. Niccolò unterbrach ihn: „Danke, Friedrich, wir werden heute nicht nur Besinnliches auszutauschen, wie benötigen etwas Klares, so scheint mir. Laß uns den Grappa trinken. Er ist von meinem eigenen Gut, über zehn Jahre gereift.“
„Du kommst immer gleich zum Punkt; so kenne ich Dich. Du bist erst seit einer Stunde hier, und schon willst du wieder deinen Verstand beschäftigen, und uns gleich mit. Mir ist wohler, wenn ich nicht so klar daran denke, was alles so geschieht … aber vielleicht ist es ein Wink des Schicksals, daß du gerade jetzt hier bist.“
„Laßt uns anstoßen. Ich freue mich, euch wiederzusehen. Alla salute!“
Jetzt war der Gesang auch hier zu hören; die aufständischen Weber hatten offenbar bemerkt, daß hinten im Haus Licht angezündet worden war.
„Ihr Schurken all, ihr Satansbrut
ihr höllischen Dämone
ihr freßt den Armen Hab und Gut
und Fluch wird Euch zum Lohne.“
„Macht euch davon, sonst lassen wir die Hunde raus!“, rief einer der Bediensteten. Die Menge zog ab.
„Jedenfalls wissen wir jetzt, woran wir sind“, begann Niccolò. „Was habt ihr denn bisher dagegen unternommen?“
„Nichts“, bekannte Friedrich. „Mein Konkurrent Wagenknecht hat die Löhne erhöht, um des Friedens Willen. Aber wo soll das hinführen? Wir alle müssen auf dem Weltmarkt bestehen. Die Engländer haben schon Webmaschinen eingeführt; wenn wir uns jetzt mit Löhnen gegenseitig überbieten, gehen wir alle bankrott!“
„Solange sie uns nicht das Haus anzünden“, meinte Eleonore, „der Protest ist ja verständlich. Vielleicht ist es gut, wenn sie etwas Wut heraus lassen.“
„Ja, aber es kommt darauf an, in welche Richtung“, bemerkte Niccolò.
„Wichtig ist, daß wir die Eskalation vermeiden“, meinte Friedrich.
„Nein, so denke ich nicht“, entgegnete Niccolò. „Die Eskalation ist jetzt unvermeidbar, sie ist ja schon da. Was haben wir denn soeben gehört? Nein, wichtig ist, die Eskalation zu kontrollieren.“
Friedrich und Eleonore sahen sich betroffen an. Was hatte Niccolò vor? Niccolò unterbrach ihre Gedanken: „Wir fangen gleich morgen an. Welche Leute kennst du so gut, daß du ihnen voll vertrauen kannst? Ich meine, Leute mit Einfluß. Wir benötigen Polizisten, Zeitungsleute; gibt es bei euch eine königstreue Gruppierung? Solche Leute brauchen wir auch.“
„Ja, die ´Rechte Bürgerwehr´. Ich kenne den Vorsitzenden. Dazu laden wir den Inhaber der `Schlesischen Zeitung´, den Polizeidirektor; das sind schon alle.“
„Habt ihr auch eine kritische Zeitung, ich meine eine, die auf Seiten der Weber steht?“
„Ja, den ´Reflektor´. Ein dubioses Wochenblatt. Ich sehe den Chefredakteur gelegentlich. Er läßt es sich nicht nehmen, zu den Treffen der Rechten Bürgerwehr zu erscheinen. Unangenehm.“
„Den brauchen wir auch.“
„Ihr macht mal wieder alles unter Männern ab. Wißt ihr eigentlich, daß die Aufständischen von ihren Frauen getrieben werden, daß sie hinter allem stecken? Die steckt ihr nicht in die Tasche.“ Eleonore stand auf, um sich zu Nachtruhe zu begeben.
„Warte nur, die Frauen kommen noch zum Zuge“, sagte Niccolò beschwichtigend.
Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt; Niccolò sah verträumt in die glimmende Kohle. „Verglichen mit den Machtkämpfen in Florenz ist das hier eine Spielwiese. Eine Geistesübung, um nicht zu verrosten. Aber man weiß ja nie, was daraus noch alles entstehen wird.“
II.
Friedrich Fuffziger hatte sich lange mit Niccolò beraten und empfing seine Gäste in aufgeräumter Verfassung. Er hatte wieder Mut geschöpft, begann, in Niccolòs Weisungen einen Weg zu sehen. „Meine Herren“, eröffnete er die Runde, „wir sind hier zu einem außerordentlichen Gespräch zusammengekommen. Es geht um nichts geringeres, als das Land wieder zu befrieden und uns allen Sicherheit und Wohlstand zu geben. Ich bitte darum um absolute Vertraulichkeit; kein gesprochenes Wort soll je diesen Raum verlassen. Wir werden uns in Zukunft öfter treffen müssen, und ich hoffe, daß Sie die besondere Chance erkennen, die in diesen informellen Abstimmungen liegt. Wir alle wollen nur das Beste und sollten zusammenhalten.“ Er räusperte sich. „Ich darf ihnen meinen persönlichen Berater vorstellen, Niccolò, er ist gerade aus Florenz eingetroffen und verfügt über ein ganzes Menschenleben von Erfahrung in sensiblen politischen Angelegenheiten. Sie werden bald erkennen, daß seine Gegenwart von Nutzen für uns ist, mehr noch: sie ist ein Geschenk.“
Fuffziger setzte sich wieder.
Die Teilnehmer der Runde stellten einander vor. Anstelle des Polizeidirektors war Hubert gekommen, der damit beauftragt war, eine politische Polizei aufzubauen. Man wolle damit in Schlesien beginnen und die Erfahrungen für den Ausbau der Einheit in ganz Preußen nutzen.
Der Präsident der Bürgerwehr von Langenbielau, Wilhelm, war selbst gekommen, er führte sogleich aus, wie verdienstvoll seine Organisation schon in der Vergangenheit gewesen war. Hauptsächlich hatte man Anschläge auf die Familien der Rädelsführer des Aufstandes ausgeführt. Cäsar und Rudolf saßen daneben als Zeitungsmacher; sie waren sich ihrer Bedeutung bewußt und blickten stolz in die Runde.
Niccolò übernahm die Gesprächsführung: „Zunächst, meine Herren, haben wir Verbündete unter den Aufständischen? Wissen wir, wie sie denken, was sie planen?“
Hubert rutschte nervös auf dem Stuhl. „Nein, wir sind ja erst im Aufbau. Es gibt keine subversiven Kontakte zur Gegenseite.“
Hubert meldete sich: „Vielleicht können wir helfen. Ich kenne einen Mann, der mir geeignet erscheint. Er könnte sich zu den Aufständischen gesellen.“
„Aber wie erhält er Zugang? So naiv sind die doch auch nicht!“ Wilhelm sah keine Lösung.
„Er sollte die Aktionen unterstützen, aber er sollte es unauffällig tun. Er sollte den Menschen genau das geben, wonach sie verlangen.“ Niccolò lächelte. Die anderen hatten schon kräftig dem Wein zugesprochen, aber Niccolò blieb blaß und kühl. „Wir werden das im kleinen Kreis klären.“ Mit einem Blick auf Wilhelm bedeutete er der Runde, daß er diesen Punkt für abgeschlossen hielt. „Haben Sie schon eine kleine Mannschaft? Wie können Sie uns unterstützen?“, fragte er nun Hubert.
„Etwa zehn Personen sind mir zugeteilt worden, für den Anfang. Wir wollen das langsam aufbauen, auch wegen der Geheimhaltung. Es sind Soldaten und Polizisten dabei, tüchtige Kämpfer.“
„Auch Scharfschützen?“, fragte Niccolò nach.
„Ja, einen.“
„Sehr gut.“ Er wandte sich Cäsar und Rudolf zu: „Ihre Zeit der unbedarften Schreiberei ist nun vorbei. Unser Land braucht Sie. Sind Sie für uns bereit?“ Die beiden nickten beflissen.
„Ich schlage Ihnen eine Arbeitsteilung vor: Sie, Rudolf, werden mit ihrem Wochenblatt, dem ´Reflektor´, der Vertraute des Aufstandes. Sie recherchieren unter den Webern und berichten. Kritisch und schonungslos; Sie stärken das Vertrauen, daß die Aufrührer in ihr Journal setzen, durch kritische Berichte auch über die Fabrikbesitzer und die Polizei und, wenn es sein muß, gegen den König. Was Sie sonst noch wissen müssen, erfahren Sie hier bei uns. Sie werden der Hofberichterstatter des Aufstandes. Das können Sie nicht alles selbst machen, kennen Sie einen vertrauenswürdigen Redakteur, dem Sie das übertragen können?“
Rudolf nickte: „Ich habe einen jungen, eifrigen Redakteur, Stefan, er war selbst aktiv an den Aufständen beteiligt, ich könnte ihn das nächste Mal hier vorstellen.“
„Das ist nicht nötig. Und nun zu Ihnen, Cäsar, welch ein Name: Sie sind der wichtigste Mann in dieser erlauchten Runde, wenn ich das so sagen darf – ich möchte niemandem zu nahe treten. Sie lenken die Meinungen von der anderen Seite, ihre ´Schlesischen Nachrichten´ werden viel mehr gelesen als die Zeitung von Rudolf. Sie informieren die braven Bürger, und Sie nehmen Stellung gegen die Aufständischen. Das ist natürlich nicht ganz ohne Gefahr.“
Cäsar war bei den ersten Worten etwas im Stuhl gewachsen; jetzt schaute er unsicher umher. „Erwarten Sie, daß der Aufstand sich auch gegen mich richtet?“
„Ja. Sie sollten aktiv Stellung beziehen. Fordern Sie die Bürger auf, mitzumachen im Kampf um unser Land, die Aufständischen aufzuhalten. Es ist ja sehr bequem, wenn man sich auf die Polizei verlassen kann, aber diese Situation fordert uns alle. Das muß der Bürger begreifen.“
„Und wenn sich der Volkszorn gegen meine Zeitung richtet? Wir haben schon erlebt, wie sie gegen die Industriellen vorgegangen sind. ´Krieg den Palästen´; ich habe die Schreie noch im Ohr.“
„Das müssen Sie aushalten. Wir werden das kontrollieren. Es gibt ja auch noch die Polizei.“
Die Runde erhob sich merklich entspannt; die Männer standen am Kamin und unterhielten sich. Einzeln nacheinander verabschiedeten sie sich, so daß es nicht auffiel, daß am Schluß Niccolò mit Wilhelm und Hubert in das Séparée entschwand.
„Kennen Sie die Aufständischen? Gibt es Ansatzpunkte, Leute, die wir beeinflussen können?“
„Ja, wir kennen sie gut. Aber Ansatzpunkte – weiß ich nicht. In dieser Weise haben wir noch nicht nachgedacht. Gehen wir sie mal durch: da ist Ulla – das geistige Oberhaupt. An ihre beißende Intellektualität reicht keiner heran. Die läßt sich nicht steuern, soviel ist mal klar.“
„Sie muß es ja nicht merken“, wandte Niccolò ein.
„Dann ist da Rolf. Bei jeder Demonstration ganz vorn dabei. Er zählt sogar Pfaffen und Professoren zu seinen Freunden. Revolutionär und überzeugter Christ.“
„Doppeltes Gift“, bemerkte Niccolò, „den fangen wir nicht ein.“
„Um das Feuer löschen zu können, muß es erstmal brennen“, hob nun Niccolò an, seine Strategie darzulegen, „wir benötigen etwas Öl im Feuer, wenn ich es mal so umschreiben darf.“
Beide sahen ihn erschrocken an.
„Bei der kommenden Demonstration passiert etwas, was den Volkszorn anheizt. Ein Mensch wird erschossen, ein möglichst unbeteiligter. Das ist ihr Part“, er wandte sich zu Hubert, „Sie lassen einen Polizisten auf die Demonstranten schießen. Sorgen Sie dafür, daß seine Waffe nicht scharf geladen ist; wer weiß, was der treffen würde; man darf nichts dem Zufall überlassen. Den Treffer überlassen Sie ihrem Scharfschützen.“
Hubert nickte verständig.
„Gut, dann wissen Sie, was zu tun ist. Ich danke Ihnen.“ Niccolò und die beiden Herren erhoben sich. Ihnen war feierlich zumute; beide hatten das erhebende Gefühl, an einem besonderen politischen Prozess eine entscheidende Rolle innezuhaben.
III.
„Meine Herren, ich danke Ihnen dafür, daß Sie unserer Einladung gefolgt sind. Herzlich willkommen.“ Niccolò hatte nun die Führung übernommen und trat selbstbewußt als Gastgeber auf. Die Herren setzten sich. Unruhe beherrschte ihre Gemüter und breitete sich im Saal aus.
„Ich denke, wir sollten zunächst alle auf den aktuellen Stand der Dinge gebracht werden. Hubert, bitte fangen Sie an.“
„Wie Sie gehört haben, wurde auf der letzten Demonstration ein Aufständischer erschossen, Bernhard hieß er, glaube ich. Das hat die Ausschreitungen weiter angeheizt und ein Klima der Gewalt entstehen lassen, wie wir es noch nicht hatten. Die Lage wird für die Polizei immer schwerer zu beherrschen.“
Von draußen drangen Schreie und Gesang in den Saal. Friedrich Fuffziger stand empört auf und öffnete ein Fenster. Nun konnte man die Aufrührer sogar verstehen:
„Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt –
Wir weben, wir weben!“
„Denen sollten wir den Marsch blasen!“
„Nur ruhig Blut, mein Freund. Wir sind ja dabei“, beschwichtigte Niccolò.
„Wir weben, wir weben!
Deutschland, wir weben Dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch -“
Friedrich schloß das Fenster und setzte sich.
„Sie können ja Verstärkung aus Breslau bereitstellen lassen; das kann angesichts der Lage nicht abgeschlagen werden“, meinte Niccolò. „Auch an Militär ist zu denken. Aber soweit sind wir noch nicht und vielleicht können wir es ja auch vermeiden. Und nun Sie, Wilhelm.“
„Wir haben einige Personen ausgewählt, kurz geschult und in Stellung gebracht. Über die Zahl und die Namen möchte ich keine Auskunft geben, bis auf eine Ausnahme: Für die kommende Phase wird ein gewisser Peter für uns die Schlüsselrolle spielen. Das müssen Sie wissen, um ihn nicht unbedacht zu gefährden. Er ist bereits in das feindliche Lager eingedrungen und wird akzeptiert.“
„Wir alle kennen die Berichterstattung in den ´Schlesischen Nachrichten´. Ich möchte Ihnen, Cäsar, meinen Dank aussprechen. Sie haben ihre Schreiber gut im Griff.“
„Man tut, was man kann.“
„Ja, gewiß, und nun legen Sie noch etwas zu. Fordern Sie die Bürger auf, die Drecksarbeit nicht der Polizei allein zu überlassen. Heizen Sie die Stimmung bis zum äußersten.“
„Damit werde ich auch zur Zielscheibe.“
„Ja, das sollen Sie ja auch. Die Ablenkung des Aufstandes von den ursprünglichen Zielen ist ein Teil unseres Planes. Wir kümmern uns um Sie.“ Niccolò sah Cäsar strafend an.
„Und damit zu Ihnen, Wilhelm. Sie knöpfen sich den Rolf vor. Sobald die Masse in Aufruhr kommt und Cäsar mit seinen ´Schlesischen Nachrichten´ die Bürger zu Eigeninitiative aufgefordert hat, nehmen Sie sich einen Halbwüchsigen und lassen ihn Rolf erschießen. Verfügen Sie über Leute, die das vorbereiten können?“
„Ja, damit kennen wir uns aus. Und für die Täterrolle finden wir immer welche.“
„Der Täter sollte den entscheidenden Aufruf aus den ´Schlesischen Nachrichten´ in der Hosentasche haben, wenn man ihn festnimmt; wer weiß, was herauskommt, wenn der sein Tatmotiv selbst erklären soll. Damit haben wir den Volkszorn auf Cäsar abgelenkt; die Webereibesitzer sind erst einmal sicher. Der Zorn fordert auch Aktionen; er will sich entladen und die Entladung soll gerichtet erfolgen, um nicht zu sagen: kontrolliert. Da sind Sie verantwortlich, Hubert.“
„Was schlagen Sie vor?“
„Die Masse wird zu Cäsars Verlagshaus stürmen. Zwei Dinge sind wichtig: Erstens, es darf nichts wichtiges zerstört werden. Wir brauchen die ´Schlesischen Nachrichten´ ja noch. Zweitens, es muß brennen. Sie haben doch diesen Peter in Stellung; das ist doch eine schöne Aufgabe zum Einstieg. Er soll die Brandsätze liefern, wenn die Masse kocht.“
Cäsar schaute entsetzt in die Runde; niemand fing seinen Blick auf. Niccolò jedoch bemerkte seinen Schrecken und beschwichtigte ihn: „Sie werden ein paar alte Wagen besitzen, die abgängig sind. Stellen Sie alles, was Sie nicht unbedingt benötigen, vor das Verlagshaus, beladen Sie die Wagen mit Gerümpel oder Stroh, Hauptsache, es brennt gut. Zwischen den Wagen und ihrem Verlagsgelände ziehen wir einen Zaun und sichern mit der Polizei. Es wird Ihnen kein Schaden entstehen. Im Gegenteil, ihre Leute sollen ungestört arbeiten; Sie sollten die Artikel über den Aufruhr schon vorbereiten und setzen lassen.“
IV.
„Was macht ihr mit Eurer Runde? Was hat das zu bedeuten? Schon der zweite wurde erschossen. Steckt ihr da mit drin?“ Eleonore drang in Friedrich ein.
„Es wird alles gut. Vertraue mir, vertraue deinem Schwager. Er weist uns einen Weg, den Aufstand ohne Gewalt zu beenden. Fast ohne Gewalt; denke nur, wir würden aus Breslau Militär anfordern, wie viele Tote das gäbe. Niccolò sucht einen eleganten Weg, einen sehr friedvollen. Wir werden alle gut daran tun, ihm zu folgen. Aber sieh´ nur, die Gäste kommen ja schon.“ Friedrich öffnete die Tür. „ Ja immer fröhlich hereinspaziert, Cäsar, unser kleiner Held. Sie haben Prügel bezogen, aber dafür sehen Sie noch ganz manierlich aus. Wie geht es Ihnen?“
„Danke, geht schon wieder. Ich bin für so etwas wohl zu sensibel. Aber disziplinierte Planung, alle Achtung, und disziplinierte Ausführung!“
Die Runde war schnell beisammen; man brauchte niemanden zu instruieren, pünktlich zu sein. Niccolòs eiserne Disziplin strahlte auf alle ab; undenkbar, zu den Treffen in der Villa Fuffziger nicht pünktlich zu erscheinen.
„Nun, meine Herren, heute sind wir einen großen Schritt weiter. Unsere Maßnahmen zeigen Erfolge. Die Webereibesitzer sind sicher, Cäsar kann schreiben und drucken, er hat´s leidlich überstanden, und der Aufstand nimmt Formen an, die alle Bürger ablehnen und die auch die meisten Weber verschrecken. Die Weber sind friedliche Leute und wollen nur ihr Auskommen, mit Brandstiftung haben sie nichts zu schaffen. Der Aufstand wird gespalten in eine Mehrheit, die in Zukunft schweigen wird und eine kleine Minderheit, gegen die wir die schärfsten polizeilichen Mittel einsetzen dürfen, ohne uns dafür rechtfertigen zu müssen. Das ist ihr Verdienst, Hubert und Wilhelm, bitte berichten Sie uns.“
„Tja, da ist nicht viel zu berichten, was Sie nicht schon wissen“, antwortete Hubert, „auch Rudolf hat ja dazu geschrieben. Also dieser Josef hat den Rolf angeschossen. Das wißt ihr ja schon. Wir haben ihn in einer Kutsche direkt zu Rolf gefahren, als der auf der Straße erschien, haben wir den Josef aus der Kutsche gelassen, die geladene Pistole in der Hand. Der hat ihn dann gefragt: ´Sind Sie der Rolf?´, und der Rolf hat ´ja´ gesagt, und der Josef hat geschossen. Dann ist der Josef weg; ein paar Straßen weiter hat ihn die Polizei in Empfang genommen. Leider ist der Rolf nicht tot, aber er ist so schwer getroffen, daß wir erst einmal nichts mehr von ihm hören werden. Wenn doch, setzen wir nochmal nach.“
„Zweimal erschießen gilt nicht. Wenn er wieder auf der Bühne erscheint, müssen Sie sich etwas anderes einfallen lassen“, bemerkte Niccolò.
„Na ja, das kriegen wir auch hin. Erst einmal ist der ausgeschaltet. Und Cäsar hatte die Druckfahnen für die Zeitung und die Fahndung schon fertig; hat alles geklappt wie am Schnürchen. Die Druckerei war von der Polizei gesichert, und als die Masse da erschien, war alles unter Kontrolle.“ Wilhelm setzte sich zurück.
„Ja, dort beginnt unser Part“, fuhr Wilhelm fort, „wir haben den Peter hingeschickt, Brandsätze zu verteilen. Die hatten wir natürlich schon vorher dort deponiert, weil ja der Peter so schmächtig ist. Der hätte die gar nicht alle schleppen können. Dann brannten die Wagen alle lichterloh, den Rest kennt ihr.“
Niccolò blickte zufrieden in die Runde. „Nun, Sie werden fragen, wie es weiter geht. Ich fasse mal zusammen, wo wir stehen: wir haben die Stimmung angeheizt, wir haben eine Eskalation der Gewalt herbeigeführt und diese gezielt kontrolliert. Damit haben wir einen Teil des Aufstandes befriedigt, viele verunsichert, so daß sie sich nicht mehr trauen, daran teilzunehmen. Der König hat die Ereignisse verfolgt und ist bereit, die Polizeikräfte zu verstärken. Wir brauchen nur zu melden, welche Art Unterstützung wir benötigen; wir bekommen alles. König Friedrich Wilhelm ist auf unserer Seite.“ Er machte eine Pause, um die Worte wirken zu lassen.
„Und jetzt, meine Herren, kommt die zweite Stufe: wir lassen die Gewalt soweit eskalieren, daß kein braver Weber sie mehr gutheißen kann. Und wenn doch, erhalten wir die Rechtfertigung für das schärfste polizeiliche Vorgehen. Wer in Zukunft noch für den Aufstand ist, soll schwer dafür büßen. Sie werden nun fragen, welche Art der Eskalation ich plane. Nun, keine Sorge, es wird eine Eskalation der Form sein, nicht der Masse. Die Brutalität wird gesteigert, aber der Schaden bleibt gering. Es geht uns ja um die Spaltung der Bewegung in eine große eingeschüchterte Mehrheit und eine kleine radikale Minderheit, die wir handhaben können. Es soll ja nichts kaputt gehen, und es wird nichts kaputt gehen. Wir behalten die Kontrolle.“
„Niccolò hat mich gebeten, einen Plan auszuarbeiten und hier vorzutragen. Einen Plan, der die Konzentration des Aufstandes auf wenige Akteure zum Inhalt hat. Akteure des Aufstandes, die wir lenken müssen, ergänzt durch Akteure von uns.“ Wilhelm hatte sich erhoben, um besser gehört zu werden. Niccolò blickte verschmitzt umher und schenkte in der Runde Wein nach.
„Dies ist unser Plan. Wir sondieren unter den Aufständischen nach Personen, die besonders gewaltbereit und besonders beeinflussbar erscheinen und die im Mittelpunkt der Masse stehen, die Anerkennung genießen. Natürlich geht das immer nur teilweise. Der wichtigste, der im Mittelpunkt stand und nicht steuerbar war, war Rolf. Er ist aus dem Spiel. Es gibt zunächst eine Reihe Frauen, die wichtigsten: Ulla, die Intellektuelle des Aufstandes. Sie verfaßt Pamphlete, dichtet Lieder. Sie muß ins Boot, wir sind dran, aber wir soweit sind wir noch nicht. Dann ist da Kriemhild, die Pastorentochter. Sehr radikal, sehr kompromißlos. Sie versuchen wir, an ihrer einzigen Schwachstelle zu packen: der Liebe.“ Die anderen staunten, auf welches Terrain sie Wilhelm nun führte. „Sie haben recht gehört: der Liebe. Wir haben einen sehr labilen Mann gefunden, der uns aus der Hand frißt. Andrej, ein Mann wie ein Gigolo. Er ist schon in guter Kontrolle unserer Leute. Er hat mit Gewalt wenig im Sinn, mit den Webern auch nicht, aber umso besser. Er ist von uns auf Kriemhild angesetzt. Und beide versorgen wir – nein nicht mit Waffen, das kommt später. Mit Opium. Damit binden wir sie an uns; damit haben wir den Kern unserer neuen Bewegung fest im Griff.“
„Schön, aber doch arg klein, diese Truppe. Wie viele sind es denn nun wirklich?“, fragte Niccolò.
„Etwa ein Dutzend. Ich möchte nicht alle nennen.“
„Vielleicht solltet ihr noch ein paar dazu bekommen. Einige, die willig folgen und den Anführern dankbar ergeben sind. Aber wo bekommen wir sie her?“
Niemand sagte etwas.
„Ich habe eine Idee. Ihr macht den Andrej zum Helden. Er befreit die Leute selbst, die ihm folgen sollen.“ Niccolò freute sich über seinen Einfall.
„Aus dem Gefängnis?“, fragte Hubert.
„Nein, mit dem derben Gesindel können wir nichts werden. Aus dem Waisenheim.“
Die anderen protestierten: „Wieso befreien? Die Kinder sind doch frei und es geht ihnen doch gut.“
„Erzählen Sie mir nichts; ich weiß, wie es in den Heimen zugeht. Lassen Sie Andrej die Jugendlichen besuchen und kleine Revolten anzetteln, in deren Verlauf er sie als Gefolgschaft gewinnt, die Wiederkehr des Rattenfängers, gewissermaßen. Es werden sich welche darunter befinden, die wir brauchen können. Und die Ulla … die ist doch so bemutternd mildtätig, die bekommen wir auf diese Weise vielleicht auch dazu.“
„Damit steht der Plan; so werden wir es machen. Einen Namen braucht die Truppe noch, und einen Aufgabenkatalog. Was sind die ersten Aktionen?“, fragte Wilhelm.
„Aktionen … na ja, es sind ja sensible Gemüter, wir lassen´s langsam angehen, erst einmal ein paar harmlose Dinge“, meldete sich Niccolò zu Wort, „vielleicht ein paar kleine Brandanschläge. Ihr habt doch sicher noch Brandsätze?“, er blickte zu Hubert, „und Peter gehört natürlich dazu, er hat ja bisher gut funktioniert. Es muß wieder brennen, vielleicht in den Konsumläden, die durch ihre Preise den Webern das Leben schwer machen. Klingt doch plausibel, oder? Natürlich nicht wirklich, soll es ja auch nicht. Die Mehrzahl der Weber soll sich ja gerade distanzieren, darum geht es ja.“
„Und wie nennen wir unsere kleine Kampftruppe?“, setzte Hubert nach.
Jetzt war Rudolf dran, auch mal etwas beizutragen: „Wenn ich schon der Hofberichterstatter dieser Gruppe sein soll, nebenbei gesagt, ich habe gerade den verantwortlichen Redakteur verpflichtet, den Stefan, er gehörte zu den Aufständischen und genießt ihr Vertrauen, also dann würde ich auch gern den Namen geben, oder sagen wir: vorschlagen. Ich denke, die Gruppe sollte „Reichtum, Arbeit, Frieden“ heißen. Wir entwickeln auch schon ein Signet. Nur das Gründungspapier existiert noch nicht.“
„Das lassen Sie die mal selber schreiben“, wandte Niccolò ein, „wenn es soweit ist, können die das. So wirkt es auch authentischer. Sobald wir die Ulla eingefangen haben, wird sie es verfassen. Die kann doch gar nicht anders als ständig ihren Standpunkt aufschreiben.“
V.
„Guten Abend, meine Herren!“ Niccolò sprach in festlicher Haltung. „Ich freue mich, Sie alle hier begrüßen zu dürfen. Wir sind in eine neue Phase eingetreten; das Gröbste haben wir hinter uns. Die Aufstände sind beendet. Lassen Sie uns darauf anstoßen. Prost!“ Er hob sein Glas und alle folgten ihm und prosteten einander zu. „Was jetzt vor uns liegt, ist nur noch die langfristige Absicherung des Erfolges. Bitte, Hubert, berichten Sie.“
„Ja, danke sehr. Es hat wirklich alles geklappt; wir staunen selbst. Zunächst die Brandanschläge in den Konsumläden: wir haben den Andrej, die Kriemhild und noch ein paar von Wilhelms Truppe mit Brandsätzen in einen Krämerladen geschickt. Den zweiten Krämerladen haben wir uns selber vorgenommen, das heißt, Wilhelm hat sich darum gekümmert. Auf Nummer sicher; wir wußten ja nicht, ob unsere Pappenheimer funktionieren. Sie müssen bedenken, es sind Opiumabhängige; dafür haben wir ja gesorgt. Wir müssen also immer absichern, was sie machen, damit es auch klappt. Doppelt hält besser. Wir haben sie dann gleich danach eingesammelt und in Zellen gesteckt. Dann haben wir ein paar von Wilhelms Leuten und die Ulla, Sie wissen, diesen geistigen Kopf des Aufstandes, überzeugt, daß es ein Leichtes sei, den Andrej und seine Kumpanen da herauszuholen. War es dann auch, wir haben es so eingerichtet, daß es nicht schwierig war. Die Ulla hatte bis zum Schluß geglaubt, daß das ohne Gewalt abgeht. Wilhelms Mann hat dann auf den Wachhabenden geschossen; ein Bauchschuß; wir wollten´s nicht übertreiben, für den Anfang. Nun sind sie alle drin im Boot: abgetaucht in den Untergrund, alle haben ein Verbrechen auf dem Kerbholz, es gibt keinen Weg zurück mehr für sie. Cäsar hat gleich in den ´Schlesischen Nachrichten´ berichtet und uns schon vorher die Fahndungsplakate gedruckt, Ulla, mit Bild, gesucht wegen Mordversuches, konnten wir sofort tausendfach plakatieren. Soweit, so gut.“
„Der ´Reflektor´ hat natürlich auch berichtet, unser Reporter Stefan ist immer am Ball, und Hubert und Wilhelm haben instruiert. So bereiten wir das Umfeld der Gewalttäter auf.“ Rudolf lehnte sich zufrieden zurück. Er fand sich selbst gut, ja, er war gut.
„Und was machen wir jetzt mit dieser radikalen Truppe? Das kann doch nur immer schlimmer werden; Sie haben selbst gesagt, es führt kein Weg zurück. Es gibt noch Mord und Totschlag!“ Friedrich konnte seine Erregung nur mit Mühe im Zaum halten.
„Ja, es gibt noch Mord und Totschlag. Aber bis dahin fehlt es unserer Truppe noch an entscheidender Qualifikation. Haben Sie darauf eine Antwort?“ Er sah Wilhelm prüfend an.
„Man müßte sie schulen, natürlich, wie wir unsere Leute ja auch schulen. Schießübungen, Umgang mit Sprengsätzen, Verkleidung, Fälschen von Papieren…die ganze Palette.“
„Das mit den Papieren vergessen Sie mal, dann setzen die sich womöglich ab. Falsche Papiere liefern Sie besser selber. Aber wo können wir sie schulen? Doch nicht bei Ihnen auf der Wiese?“
Jetzt meldete sich Hubert zu Wort: „Das geht unmöglich hier in Schlesien. Die Flüchtigen sind ja unsere Avantgarde; wenn es andere in Schlesien gibt, von denen sie lernen können, wie fühlen sie sich da? Na sehen Sie. Wir pflegen unterhalb der diplomatischen Ebene Beziehungen mit Warschau, Sie verstehen … Geheimdienste kooperieren natürlich, wo immer es geht. Die Kollegen könnten das übernehmen, die betreiben ein Schulungslager, und unsere Leute würden denen das ja auch abnehmen…es ist schließlich Feindesland.“
„Danke; so machen wir´s. Ich erwarte, daß Sie die Kriemhild, Andrej, Ulla und die anderen so schnell wie möglich zu hochqualifizierten Schützen machen und daß wir bald wieder über sie verfügen können; wir brauchen sie ja, wenn Sie verstehen…“
„Was macht denn die Polizei inzwischen? Die Bürger wollen doch sehen, daß die Polizei Erfolge hat…“, fragte Cäsar.
„Sehr richtig, Sie sollen Erfolge vorzeigen … da müssen wir ein paar Umbesetzungen vornehmen. Die besondere Lage verlangt es, daß ein besonders wackerer, unbestechlicher Anwalt des Staates mit der Sache betraut wird … kennen Sie einen solchen?“ Niccolò schaute herum.
„Ja, den Buber“, schlug Hubert vor. „Ein sehr tüchtiger Ermittler. Seine Karriere beruht nur auf seiner Leistung; er ist in keiner gehobenen Verbindung.“
„Und wenn der uns auf die Schliche kommt? Vielleicht sollte er doch nicht ganz so tüchtig sein.“ Wilhelm hatte aber keine bessere Idee.
„So, der Mann ist tüchtig, er ist unbestechlich … ist er mit jemandem verbunden? Gibt es einen Grund, weswegen wir auf ihn Rücksicht nehmen müßten? Ist jemand von Ihnen ihm auf irgendeine Weise verpflichtet?“ Die Runde verneinte.
„Dann ist er unser Mann. Hubert, schlagen Sie das beim Minister vor.“
VI.
„Es ist gekommen, wie ich befürchtet habe“, setzte Wilhelm an; „der Buber und seine Leute sind uns dicht auf den Fersen. Bald können sie unsere Verstrickung in die Ereignisse beweisen. Wir müssen etwas unternehmen.“ Die letzten goldenen Sonnenstrahlen leuchteten durch das Herbstlaub, als er mit Niccolò und Hubert durch Fuffzigers Park ging.
„Aber Sie verfügen doch jetzt über alle Mittel, das zu lösen. Wie ich hörte, haben sich auch einige unserer Zöglinge bei den Schießübungen im Lager in Polen ganz gut bewährt. Besonders die Frauen“, setzte er hinzu.
„Dann war das also ihr Plan, als wir Buber ausgewählt haben“, bemerkte Hubert. „Ja, es stimmt: die Frauen schießen ganz ordentlich.“
„Und? Wissen Sie schon, wen Sie ansetzen?“
„Ja, ich denke an Reiter, zwei auf einem Pferd. Sie müssen leicht sein. Auf einem Pferd sind sie wendiger und der hinten sitzende kann sich ganz auf den Schuß konzentrieren.“
„Die hinten sitzende“, berichtigte Niccolò .
„Ja, ich denke an eine junge sportliche Frau, Verona mit Namen. Den zweiten Reiter wähle ich noch aus.“ Sie hatten sich wieder der Villa angenähert, wo im Saal schon die Leuchter brannten.
„Hat die Gruppe denn jetzt ein Gründungsmanifest?“, wollte Niccolò noch wissen.
„Ja, Ulla hat gleich nach ihrem Abtauchen ihre neue Position reflektiert und die Ziele der Bewegung aufgeschrieben. Ein ordentlicher Text“, Hubert kramte das Papier aus seiner Tasche, „Der Titel heißt: ´Konzept des Kampfes in Städten´. Und das neue Symbol der Bewegung ist auch darauf. Die Anfangsbuchstaben von „Reichtum, Arbeit, Frieden“ und ein Gewehr. Ein bißchen Nachhilfe war nötig; von der Bande kann ja keiner zeichnen.“
„Mein Gott, eine aufständische Gruppe mit dem preußischen Polizeigewehr als Emblem. Genau die Waffe, mit der Sie hier die Aufstände zusammenschießen. Na, egal, wenn die es selbst nicht merken…“
Inzwischen waren sie am Haus angekommen und stiegen die Treppe zur Veranda empor, um durch die Gartentür in den Saal zu gehen. Eleonore kontrollierte noch, ob die Tafel ordentlich eingedeckt war und stellte die Weinflaschen bereit. Im Kamin züngelten die Flammen durch das Reisig. Aus dem Empfangssaal hörte man Stimmen, dann betraten Cäsar, Rudolf und Fuffziger den Raum. Sie waren bereits in das Gespräch vertieft. Es hatte einige kleinere Anschläge gegeben, über die sie nicht informiert waren und die sie beunruhigten. Besonders Rudolf empörte sich, als Berichterstatter der aufständischen Gruppe nicht vorher eingeweiht gewesen zu sein.
Niccolò eröffnete die Besprechung so routiniert, als wäre er nun schon seit Jahren hier und als wäre nichts Außerordentliches zu berichten. Die übrigen konnten diese Einstellung nicht teilen; und Fuffziger drang darauf, bald alles zu beenden; schließlich wäre ja das Ziel erreicht.
„Ich stimme zu“, faßte Niccolò zusammen, „daß wir jetzt einen Strich ziehen. Die Übeltäter werden verhaftet. Ach ja, eh´ ich´s vergesse: sie benötigen dann ja auch Anwälte. Schließlich haben Sie Anspruch auf ein korrektes gesetzliches Verfahren“, fügte er süffisant hinzu. „Es sollten natürlich Anwälte unseres Vertrauens sein.“
„Wir arbeiten mit hervorragenden Anwälten zusammen“, meinte Wilhelm von der Rechten Bürgerwehr, „ich kann zwei empfehlen. Soll ich sie Ihnen vorstellen?“
„Nein, lieber nicht“, wehrte Niccolò ab, „ich möchte den Kreis nicht zu groß werden lassen. Wir vertrauen ihrem Urteil.“
„Dann werde ich Karsten und Ottfried in ihre Aufgabe einweihen“, erklärte Wilhelm. „Sie werden tätig, sobald die Aufrührer im Kerker sitzen.“
„Wissen Sie denn, wo Sie sie finden?“, fragte Cäsar ein bißchen ungläubig.
„Natürlich, jede Minute“, bekräftigte Hubert.
Nachdem die anderen sich verabschiedet hatten, waren nur noch Niccolò, Fuffziger und Hubert am Kamin verblieben. „Jetzt könnte ich einen Cognac vertragen“, bat Niccolò,
„ ich denke, wir dürfen uns etwas Schönes gönnen.“ Fuffziger stand auf und holte die Gläser; die Flasche stand noch auf dem Kaminsims, seit er sie dort am Abend von Niccolòs Ankunft bereitgestellt hatte.
„Natürlich ist dies nicht das Ende; es ist nur ein neues Kapitel.“ Hubert und Fuffziger schauten ihn fragend an.
„Es gibt ja eine ganze Reihe von labilen, folgsamen Zöglingen, die unser Rattenfänger akquiriert hat. Die werden wir ja wohl nicht alle festsetzen. Auch ihre Verona, wenn sie ihre Sache gut macht, werden wir noch brauchen. Diese Menschen verlangen nach Orientierung, nach Führung. Die Kader sitzen im Gefängnis und werden sie auch gerne weiter führen. Sie werden den Anwälten Kassiber mitgeben, die diese rausschmuggeln und an die Gefolgsleute weiterreichen. So steuern wir sie.“
„So steuern Andrej und Ulla sie“, verbesserte Hubert.
„Na ja, es muß ja nicht sein, daß die Kassiber, die die Gefangenen den Anwälten mitgeben, dieselben sind, welche die Aufrührer draußen dann erhalten. Da haben wir doch eine schöne Chance, einzugreifen. Der Vorteil ist auch, daß wir so eine viel größere Zahl von Aufständischen lenken können. Wir brauchen nicht mehr jeder kleinen Gruppe tagtäglich auf den Fersen zu sein.“
Fuffziger stellte sein Glas weg: „Und wann sind wir fertig? Die Aufgabe ist doch gelöst.“
„Sie werden nie fertig sein. Die Stabilität beruht auf der Angst des Volkes, das irgendetwas fürchten muß, wenn es schon den Herrgott nicht mehr fürchtet! Wenn wir nachlassen, kann alles wieder außer Kontrolle geraten.“
VII.
Hans-Martin Wagenknecht war der reichste Tuchhändler des Nachbarortes Langenbielau. Er hatte sich bei Fuffziger für ein Gespräch angemeldet, da ihn etwas bedrückte.
„Wir Unternehmer müssen doch zusammen halten in dieser Not“, meinte er zu Fuffziger, während sie im Kaminzimmer Platz nahmen. „es gibt Gerüchte, daß besondere hochstehende Kreise bei den Anschlägen mitmischen. Diese Gerüchte wollen auch wissen, daß Sie daran beteiligt sind. Offenbaren Sie sich. Es kann nicht angehen, daß Teile der Unternehmerschaft die Gesellschaft weiter polarisieren.“
„Ja, ganz recht. Fragt sich nur, wer hier polarisiert. Wenn Sie nicht unter den Aufständischen Geld verteilt und sich lieb Kind gemacht hätten, hätte ich die Demonstranten nicht vor dem Haus. Sie spalten uns doch und heizen die Spannung an!“
„Was sollte ich denn machen. Die Kerle waren doch drauf und dran, mein Haus anzuzünden. Ich mußte mich wehren.“
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Erstens: Sie stimmen die Löhne mit mir ab, wir arbeiten bei der Lohngestaltung zusammen. Die Löhne müssen wieder runter. Zweitens: Sie werden beim König vorstellig und nehmen zur Abwechslung einmal ihre Aufgabe als Industriellenvertreter wahr. Sie fordern ihn auf, Schutzzölle einzuführen.“
„Das geht doch nicht. Wenn wir Schutzzölle erlassen, tun es die Engländer auch. Dann schlagen wir unsere Ware nicht mehr auf dem Weltmarkt los, sondern nur noch in Preußen. Auch hier gibt es schon Maschinenwebstühle; reden Sie mal mit den Fabrikbesitzern, was die davon halten. Die Großen können bei so einer Protektion nur verlieren, und die geben nun mal den Ton an.“
„Ich bestehe auf meiner Bitte. Ich weiß nicht, wie wir sonst überleben können.“
„Die Sache wird nichts“, schloß Wagenknecht und stand auf. An der Tür wandte er sich noch einmal um; sein Blick verfinsterte sich: „Sie falscher Fuff….!“
„Nun, was meint unser Freund? Bist Du mit ihm einig geworden?“, fragte Niccolò, als er in das Kaminzimmer kam. Vergnügt schenkte er sich Cognac ein. Fuffziger schüttelte bedauernd den Kopf. „Umso besser“, schloß Niccolò, „wir werden das Hubert übergeben. Übrigens, der Staatsanwalt Buber ist erschossen worden. Ja, die Fahndungen laufen. Man kann nicht alles kontrollieren. Zu schade auch. Na, wir werden das bei der nächsten Runde noch vertiefen.“
VIII.
„Niccolò , wie konnte das passieren? Sie haben doch immer behauptet, es sei alles unter Kontrolle? Dieser Anschlag auf den obersten Ermittler, heimtückisch, zwei Leute auf einem Pferd galoppieren an ihn heran, der hintere schießt ihn über den Haufen. Wo sind die Täter? Kennen wir sie? Zeugen behaupten, es sei eine Frau gewesen, die hinten auf dem Pferd saß und geschossen hat.“ Eleonore stand mit hochrotem Kopf neben Friedrich. Gleich würden die Gäste kommen und die Männer wieder vor ihren Augen verschwinden; es war ihr unheimlich zumute. Was war mit der Frau?
Niccolò antwortete leise: „Ja, Eleonore, es ist nicht ausgestanden. Die Aufrührer sind immer noch unberechenbar. Aber ganz sicher hat keine Frau auf dem Pferd gesessen. Das wäre unvorstellbar.“ Eleonore war nicht beeindruckt; sagte aber nichts mehr. Sie wußte, daß alle ihren Schwager respektierten und wollte ihn nicht vor der Sitzung in ein Streitgespräch verwickeln.
Nachdem alle sich gesetzt hatten und Eleonore die Tür von außen geschlossen hatte, eröffnete Niccolò die Sitzung: „Meine Herren, wir haben tapfer zusammengestanden. Aber die Lage ist noch nicht unter Kontrolle, wie das jüngste Attentat beweist. Wir werden uns mehr anstrengen müssen.
Noch etwas: es gibt Gerüchte, eine Frau habe auf den Staatsanwalt geschossen. Ich fordere Sie, Cäsar und Rudolf, auf, dem entschieden entgegenzutreten. Auf dem Pferd haben zwei Männer gesessen; schreiben Sie das.“
Es klopfte energisch an der Tür; Fuffziger stand auf. „Was soll denn die Störung? Wer sind Sie überhaupt?“
Ein junger Mann stand dort und sagte betreten: „Ich habe eine Nachricht zu überbringen; es sei ganz eilig, hat man mir aufgetragen. Darf ich Herrn Hubert allein sprechen?“
Hubert stand auf und ging mit dem Boten vor die Tür. Nach einem kurzen Augenblick kam er wieder herein. „Meine Herren, die Lage spitzt sich zu. Sie haben den Fabrikanten Wagenknecht entführt. Seine Leibwachen und der Kutscher wurden erschossen. Dies ist ein infamer Akt der Aufständischen. Wir müssen mit aller Härte antworten. Der Bote sagte auch, daß schon ein Schreiben eingegangen wäre, mit dem Inhalt, daß Wagenknecht nur lebendig zurückkäme, wenn alle inhaftierten Gewalttäter freigelassen würden.“
„Meine Herren, dies ist eine neue Lage, jetzt müssen wir alle zusammenstehen“, sagte Niccolò feierlich. Wir werden auch seine Majestät den König beraten müssen in dieser Angelegenheit. Es geht um die Integrität des Staates Preußen. Das übersteigt unsere Kompetenz.“
„Wissen denn Hubert und Wilhelm nichts über den möglichen Täterkreis?“, fragte Rudolf.
„Nein, uns ist nichts bekannt“, antwortete Hubert für beide.
„Das ist ein Angriff gegen den Staat. Wir werden morgen einen großen Artikel darüber bringen. Ich glaube, ich sollte mich sofort darum kümmern.“ Cäsar stand auf.
„Ich denke, wir verfassen gemeinsam eine Depesche an seine Majestät. Als Tenor schlage ich vor, daß Preußen und seine staatliche Ordnung das Ziel des Attentats sind; daß wir fest zusammenstehen müssen, und daß es völlig ausgeschlossen ist, den Forderungen nachzugeben. Es bedeutet ein gewisses Risiko für Wagenknecht, aber im Kampf gegen das Verbrechen müssen wir alle Opfer bringen.“
Die anderen nickten und Niccolò schrieb den Wortlaut auf einen Bogen, der vor ihm bereitlag. Er verabschiedete die Gäste und ging mit Hubert in das Séparée, um den Brief fertigzustellen und zu verschließen. Dann gab er ihn Fuffziger mit der Bitte, diesen Brief mittels eines Boten direkt zum König zu befördern. Fuffziger verließ dafür ebenfalls den Raum.
„Die Inhaftierten haben gemerkt, daß wir die Kassiber fälschen“, sagte Hubert.
„Tja, nun steuern wir die Gruppe so schön mit den Kassibern, und schon ist es wieder zu Ende“, bedauerte Niccolò. „Die Zeit vergeht schnell. Den Entführern muß zum Schein entsprochen werden; sie müssen an die Übergabe glauben. Dann werden sie alle erschossen; es dürfen keine übrigbleiben, die wissen, woher die Aufforderung zur Entführung gekommen ist. Die Häftlinge müssen ebenfalls abtreten; lassen Sie sich etwas einfallen. Selbstmord erscheint mir der geeignete Weg. Für das, was jetzt kommt, stellen sie mit ihrem Wissen eine Gefahr dar. Wir treten in eine neue Runde. Ich denke, ihre Leute und die von Wilhelms Gruppe sind jetzt stark genug, die Bande draußen zu führen.“
IX.
Niccolò machte wieder seine Runde im Park. Das Herbstlaub war jetzt völlig von den Bäumen gefallen; das goldene Licht war einer kargen, trüben Stimmung gewichen. Der Winter stand vor der Tür und Niccolò hatte wenig Vergnügen bei dem Gedanken, die kommenden Monate hier im kalten Norden statt zu Hause in Florenz zu verbringen. Seine Aufgabe war beendet; zum Schluß war sie ihm entwachsen. Die erste Generation der Aufrührer war tot, sie hatten gemeinsam Selbstmord im Gefängnis begangen. So jedenfalls hatten es die ´Schlesischen Nachrichten´ geschrieben, und der ´Reflektor´ hatte mit persönlichen Einzelheiten über die Verzweiflung der Häftlinge vor ihrem Tod aufgewartet. Wagenknecht war erschossen aufgefunden worden und Fuffziger hatte sein Geschäft übernommen; seitdem kam er wirtschaftlich wieder gut zurecht. Rudolf hatte sich aus dem ´Reflektor´ zurückgezogen und die Leitung Stefan übergeben. Angst hatte sich im Volk breit gemacht und lähmte jede Auseinandersetzung; niemand wagte politische Äußerungen.-
Der König und seine Minister brauchten nicht lange um zu begreifen, wie das Spiel gespielt wurde und ihren Nutzen erkannt. Die Steuerung der unberechenbaren Gruppe von Aufständischen war ihnen schnell als zu gefährlich erschienen; in Beratung mit Niccolò hatte der König eine praktische Lösung entwickelt: die dritte Generation war erfunden worden; eine fiktive Gruppe von nicht existenten Gewalttätern, die man für alles benutzen konnte und die, da sie nicht existierte, keine Risiken bei ihrer Kontrolle erzeugte. Man hatte die vielen Zöglinge der Aufrührer nach Polen geschickt, um sie dort für den Fall eines späteren Bedarfes abzustellen. Den Aufrührern war das nicht komisch vorgekommen; sie fügten sich in ihr Schicksal und waren froh, in Sicherheit zu sein. Polen erhielt dafür einen Staatskredit in Millionenhöhe von Preußen und partizipierte an einem Exportgeschäft mit preußischen Gewehren nach Rußland. Die vielen Freunde der Inhaftierten, die diese regelmäßig besucht hatten, bildeten die dritte Generation: man hatte sie spurlos in den Mooren verschwinden lassen und ihnen dann Anschläge angedichtet. Die Fahndungen nach diesen radikalen Gewalttätern hielten die Polizei und das Volk in Atem, blieben jedoch immer ergebnislos. Die Weber waren wieder friedlich; aus der aufständischen Masse war eine eingeschüchterte geworden, aus der eingeschüchterten Masse eine schweigende Mehrheit, die jeder Politiker für sich beanspruchen konnte.
„Man muß die Marke erhalten, sie kann immer von Nutzen sein“, hatte Niccolò die Minister gemahnt. Und die hatten begriffen und die Marke „Reichtum, Arbeit, Frieden“ häufig benutzt. Mal war es ein zu friedfertiger Richter, mal ein ehrgeiziger Bankier, mal ein Geschäftsmann, mal ein aufstrebender Politiker, der die Kreise des Königs störte und dessen man sich mit Hilfe der Marke entledigen konnte. Hubert war aufgestiegen und zum Chef der neuen Geheimpolizei geworden. Es war wie in der Toskana: hatte man Niccolòs Rat genutzt, wurden die Verdienste anderen zuteil. Immerhin, hier hatte man seinen Rat befolgt. Florenz wäre groß und zum Zentrum eines vereinigten Italiens geworden, hätte man dort so auf ihn gehört wie die Schlesier und die Preußen. Beim Blick auf die in der Abendsonne liegende Fuffziger Villa wurde ihm wehmütig um das Herz. Anerkennung? Ihm mußte der Erfolg genügen, das Gefühl, etwas Großes erschaffen zu haben, wenn er daheim am Feuer seinen Rotwein trank. Nein, es war falsch, was viele neue Freigeister dachten und was ein junger Philosoph namens Karl Marx geschrieben hatte: die Historie ist keine Maschine, ist nicht Materie, deren Prozesse nach festen Gesetzen unabänderlich ablaufen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht immer noch der Mensch, der erkennt und schöpferisch handelt – wie er. Mit diesen Gedanken war er selbstzufrieden in das Haus getreten und freute sich über die Wärme, mit der das Kaminfeuer den Raum erfüllte. Eleonore kam ihm entgegen: „Niccolò, es ist ein Gast für Sie gekommen, ein hoher Gast. Er sagt, er sei ein Abgesandter des Präsidenten von Amerika.“
„Nun gut, soll mir recht sein. Ich bin bereit, heiße ihn eintreten.“
Der Besucher, ein schlanker ergrauter Herr, trat ein. „Smith, Signore Niccolò. Ich bin Abgesandter des amerikanischen Botschafters in Preußen.“
„Und was verschafft mir die große Ehre?“, fragte Niccolò spöttisch.
„Nun, wir beobachten ihr Wirken in diesem Lande, seit Sie gekommen sind, Signore. Wir berichten darüber auch nach Washington. Der neue amerikanische Präsident James Polk ist sehr interessiert an den Vorgängen in Europa. Er läßt mich eine Einladung an Sie überbringen: Der Präsident ersucht Sie, für ein Jahr sein persönlicher Berater zu werden, wenn es Ihnen beliebt. Über die Höhe der Vergütung entscheiden Sie selbst. Wir werden uns ganz sicher einig.“
„Was erwartet der Präsident von mir? Wie ich höre, ist er gerade dabei, Mexiko zu annektieren. Wenn er mich dabei braucht; mit Hispanos kenne ich mich nicht aus.“
„Mit Verlaub, nein, Signore, nicht wegen Mexiko. Der Präsident benötigt ihren weisen Rat im Umgang mit den Staaten der islamischen Welt.“
„Was fehlt ihm denn dabei? Die Muslime sind doch friedlich!“
„Ich wußte, Sie würden den Kern des Problems sofort erfassen.“
Kursive Texte entnommen aus Heinrich Heine: Die Weber, 1844