Schleifen
Wie lebt ein Mensch, der Angst vor Schleifen hat? Ich betrachte kurz meine perfekt geschnürten Lackschuhe. Bereit für den Abgang. Nein, die Schleifen, die mir schlaflose Nächte bereiten sind anderer Natur. Seit ich denken kann, hasse ich alles, was regelmäßig ist, keine Überraschungen bietet. Wiederholungen sind gleichzusetzen mit Langeweile. Und Langeweile ist schlecht. Sie gefährdet mich. Glaube ich. Fühle ich. Es erstaunt mich selbst immer wieder, wie viele Schleifen man entdeckt, wenn man nur ganz genau hinsieht. Selbst der unschuldige Sommerregen draußen, von vielen freudig begrüßt, ruft bei mir, durch unweigerliche Assoziationen mit einem Kreislauf, Unbehagen hervor. Wer lässt es auch immerzu regnen? Jemand schlug mir verschiedene Bewältigungsstrategien vor. Unzählige Dinge habe ich erlebt. Ich habe Verbrechen bekämpft, bin Wissenschaftler geworden, bin um die Welt gereist. Kurz, ich habe alles getan, um Schleifen aus meinen Leben zu verbannen. Doch dann hörten die Tipps auf. Ich selbst bin nicht kreativ genug, um den Schleifen des Lebens aus dem Weg zu gehen und nicht stark genug, um sie zu ignorieren. Alleine bin ich wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, kommt mir plötzlich in den Sinn. Jemand sagte mal, dass man sich fühle, als würde man Ewigkeiten durch die Wüste umherirren auf der Suche nach Wasser, nur um am vermeintlichen Ziel seine eigenen Fußspuren wiederzufinden. Ob es der gleiche Jemand war, der mir auch die Tipps gab, weiß ich nicht. Ich habe es vergessen. Wie auch immer. Alleine habe ich nur noch eine Möglichkeit und die liegt in meiner Hand. Wo kam sie überhaupt her? Egal. Jetzt ist nicht mehr die Zeit dafür.
Das Gewicht einer echten Waffe habe ich wirklich unterschätzt. Ob es wohl ihr eigenes Gewicht ist, das sie so schwer macht? Oder die unsichtbare, aber dennoch spürbar präsente Bürde, die mit ihr einhergeht? Ein Seufzen entfährt mir. Dieser Jemand hatte wohl auf mich abgefärbt. Es ist kalt geworden. Nicht umsonst zittert meine Hand wie Espenlaub. Das Anheben der Waffe auf Schläfenhöhe geht trotz des enormen Gewichts erstaunlich leicht. Beruhige dich. Atme tief ein und aus. Das wird die letzte Schleife deines Lebens sein. Darauf hast du gewartet.
„Korrekt. Hier bin ich.“
Vor Schreck hätte ich beinahe abgedrückt, ohne nachzusehen, wer da spricht. Langsam drehe ich mich um, halte die Waffe aber weiterhin in Position.
„Entschuldige die Verspätung. Hatte viel um die Ohren, weil sie das letzte Mal nicht sehr zufrieden waren mit meinen Entscheidungen. Ich war der Meinung, dass es Zeit war, ihn gehen zu lassen. Aber ich habe das wohl falsch verstanden: Ich sollte derjenige sein, der geht. Er oder ich war nie die Frage. Aber was rede ich denn da? Keine Sorge. Sind ja nicht deine Probleme. Dieses Mal mache ich es besser.“
Unzählige Fragen kreisen mir durch den Kopf. Meine Gedanken sind zu schnell, um sie zu fassen.
„Wir treffen uns später im Diner. Vergiss nicht: Keine weiße Kleidung, klar?“
Ohne weitere Erklärung geht er einfach. Ich nehme die Waffe herunter. Seltsam. Ein Gefühl der Erleichterung kommt in mir auf. Ich kann nicht anders, als mich ein wenig zu freuen. Seltsam ist gut. Ich blicke aus dem offenen Fenster, durch das ein eisiger Wind zieht. Trotz des hellen Mondscheins kann ich ihn nicht finden. Ha. Vielleicht wird dieser Tag doch noch gut.
Das Diner ist nicht schwer zu finden. „Zur Oase“. Amüsant. Kaum eine Gehminute von unserem ersten Treffen entfernt. Trotzdem habe ich es noch nie gesehen. Wann wurde es gebaut? Vergiss es. Unwichtig. Der Mann steht auf, kaum dass ich den Laden betreten habe und winkt mich zu sich rüber.
„Gut, dass du gekommen bist. Dachte schon ich müsse mich nach alternativer Gesellschaft umsehen. Ich bin ein wenig Nervös. Diese Art der Konversation ist neu für mich. Das geschriebene Wort liegt mir eher.“ Er lacht ein wenig.
Ich setze mich an einen mit Essen überladenem Tisch.
„Greif ruhig zu, wenn du magst. Nichts hasse ich mehr, als zu wenig Essen auf dem Tisch. Abgesehen von Weiß natürlich. Danke, dass du das berücksichtigt hast. Aber du konntest wohl auch nicht anders, was?“
Ein kurzer Rundumblick verrät mir, dass keiner im Diner Weiß trägt. Alle sitzen sich an reichlich gedeckten Tischen gegenüber, so wie er und ich. Ich verurteile niemanden für seine Marotten. Wie könnte ich auch?
„Ich komme gleich zum Punkt. Du und ich können uns gegenseitig helfen, weißt du?“
Glaube ich kaum.
„Guck nicht so skeptisch drein. Ich weiß, wovor du dich fürchtest.“
Jetzt bereue ich es hergekommen zu sein. Ein Reinfall.
„Keine Zeit für Reue. Hör mir zu: Du hasst sie doch, oder? Die Schleifen? Was, wenn ich dir sagen könnte, dass du nie wieder einer Schleife begegnen musst? Was, wenn ich dir verspreche, dass es keine Schleifen mehr geben wird?“
Jetzt hat er mich. Seine Worte wirken anziehend auf mich. Ich kann nicht anders, als zuzuhören. Die Verlockung ist zu groß.
„Wusste ich doch, dass ich damit deine Neugierde wecken kann. Du bist wirklich, wie ich mir dich vorgestellt habe. Ich bin vom Beruf... nun, man könnte sagen Schleifenverhinderer. Sie gefährden mich auch, weißt du? Aber paradoxerweise erzeuge ich, wenn es gut läuft, auch am meisten Schleifen. Nun, die Lösung für dein Problem ist einfach: Töte mich! Aber mache dir keine Illusionen - ich werde mich wehren. Auch ich habe mein Kreuz zu tragen, wie man so schön sagt. Ich bin gespannt, wie das Ganze ausgehen wird. Nichtmal ich weiß das. Ich muss für sie ein wahres Feuerwerk abbrennen, um wieder ins Geschäft zu kommen. Oder um ein Exempel zu statuieren. In beiden Fällen erfülle ich ihren Wunsch. Also, bist du interessiert?“
Jegliche ethische Grundsätze habe ich anscheinend gleich mit meinem Verstand über Bord geworfen, anders kann ich mir nicht erklären, dass mein Kopf ohne zu Zögern nickt.
„Sehr gut. Ich freue mich schon auf den Höhepunkt! Ja, ich weiß es ganz genau: Es wird sie in Staunen versetzen und uns wieder in die Spur bringen.“
Wieder sie.
Ohne Vorwarnung steht er auf und verlässt das Diner. Für mich gibt es keinen Grund mehr zu bleiben.
Die Gehminute zurück geht noch schneller vorüber als hin. Die Waffe ist noch dort. Sie glänzt im Mondschein. Das Zittern ist verschwunden. Trotzdem durchfährt eisiger Hauch meine Glieder, als ich versuche sie zu greifen. Ich habe viele Fragen und Zweifel, aber mein Körper scheint seine Wahl längst getroffen zu haben. Ich halte die Waffe bereits fest in meiner Hand. Keine Schleifen mehr. Suizid wäre auch eine Lösung gewesen. Aber das hatte er nicht zugelassen. Wird er wohl auch nicht. Anscheinend braucht er mich. Mir bleibt keine andere Wahl – ich muss ihn um meiner selbst Willen seinen Wunsch erfüllen.
„Korrekt. Hier bin ich.”
Diesmal ist es weniger überraschend. Eine kurze Umdrehung reicht aus und ich drücke ihm die Waffe an die Schläfe. Ziemlich leicht. Abzudrücken hingegen nicht. Irgendwas hält mich zurück.
„Du führst deine Rolle perfekt aus. Wie ich es geplant habe. Es fehlt nur noch eine Kleinigkeit.“
Plötzlich spüre ich den Druck einer Waffe an meiner Schläfe. Ein schweres Kaliber. Im Moment der Drehung habe ich einen Fehler gemacht. Habe nicht auf seine Hand geachtet.
„Wir wollen das Finale ja nicht vorschnell beenden. Sieht nach einem Patt aus, was?“
Enttäuschung macht sich in mir breit. Patt. Eine weitere Schleife also. Kein Ausbruch aus Gewohntem und erst recht kein Feuerwerk, wie angekündigt.
„Aber, aber. Schau doch genauer hin. Du hast nicht verstanden.“
Was habe ich nicht verstanden?
„Ein wirkliches schönes Diner war das, nicht wahr? Sag mir, seit wann steht es denn dort?“
Was soll das werden? Versucht er mich abzulenken?
„Die Waffe in deiner Hand ist wirklich schön. Kannst du mir verraten woher du sie hast?“
Kann ich nicht.
„Es ist wirklich kalt, oder? Kein Wunder, dass du zitterst."
Zittern? Aber ich...
„Nur so aus Neugier: Hast du alles bisher Geschehene auf Schleifen untersucht?“
Es fühlt sich nicht so an, als würde er noch mit mir reden.
„Selbst ich habe nicht mehr alles in der Hand. Die Geschichte spinnt sich von alleine fort, weißt du? Ich frage mich, was passiert, wenn ich dir die Feder überlasse.“
Sein Blick geht nach unten. Unweigerlich folgen meine Augen ihm. Meine Lackschuhe. Die Schleifen sind immer noch perf-….
Moment. Jetzt begreife ich es. Dieser Jemand... Er. Ich. Sie. Eine furchtbare Erkenntnis. Eine, die ich niemals gewollt habe. Eine, die ich niemals bekommen sollte. Mein Kopf wird schwer.
„'Deus ex Machina'. Sie wollten es so. Ich wollte dich ruhen lassen. Wir beide haben eine Wand durchbrochen, die nicht durchbrochen werden sollte. Aber es war der einzige Weg.“
Ich wünschte, es gäbe einen Weg zurück. Zu der Zeit vor der Erkenntnis.
„Schleifen sind dein natürlicher Feind; das weiß ich auch. Aber diese letzte Schleife wird alles beenden, versprochen.“ Seine Augen wirken leer. „Merk dir eines: Am Ende gewinnen sie immer.“
Er hat Recht. Ich hoffe, sie wissen die gebrachten Opfer zu schätzen. Es wird Zeit. Ich schließe meine Augen. Dann drücke ich ab.