Mitglied
- Beitritt
- 22.03.2015
- Beiträge
- 64
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Schlafwandler
Es war eine stürmische Herbstnacht im Oktober, als mich das Klingeln meines Telefonapparates aus einem nicht allzu tiefen Schlaf riss.
Ich war vor dem Fernseher eingeschlafen. Der Bildschirm stellte die einzige Lichtquelle im Raum dar und auf einem Beistelltisch neben mir, lagen die Reste eines billigen Abendessens. Das schrille Läuten verjagte die letzten Traumfetzen und zog mich aus meinem Sessel. Schlaftrunken und ohne wirkliches Zeitgefühl wankte ich aus dem Zimmer.
Ich knipste die kleine Lampe neben dem Telefonapparat an und nahm ab.
„Ja? Hallo?“, meldete ich mich und versuchte so wenig benommen wie möglich zu klingen.
Ich erhielt keine Antwort, konnte jedoch deutlich jemandem am anderen Ende der Leitung atmen und sich bewegen hören.
„Hallo?“, wiederholte ich.
Nichts. Ich vernahm ein Rascheln, dann so etwas wie einen erschöpften Seufzer. Ich wurde ungeduldig.
„Gut, ich lege jetzt wieder ...“
„Zu weit. Ich bin zu weit gegangen“, unterbrach mich eine heisere Stimme.
„Wer spricht … Viktor?“, fragte ich.
„Ich habe nicht aufgepasst.“
„Viktor bist du es? Wie spät ist es?“
Ich kramte in meiner Hosentasche nach meiner Uhr, zog sie hervor und stellte fest, dass es weniger als 30 Minuten bis Mitternacht waren.
„Es lässt sich nicht kontrollieren“, stammelte Viktor erschöpft, „...nicht mehr ...“
„Victor, was … ist etwas passiert?“, fragte ich und versuchte mich zu konzentrieren.
Zu meinem Entsetzen vernahm ich als Antwort ein klägliches Winseln, dem eines gescholtenen Hundes gleich.
„Großer Gott, Viktor. Sprich mit mir!“
Ich lauschte einem kaum vernehmbaren Flüstern. Ein Selbstgespräch, wie mir schien. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht und mit einem Mal war ich hellwach.
„Bist du zu Hause, Viktor?“, fragte ich, „Rufst du von zu Hause aus an?“
„Er gab mir … die Schlüssel ...“
„Viktor?“, rief ich und sah mich bereits nach meinem Mantel um, „Bist du zu Hause?“
„Ja“, sagte er nach einer kurzen Pause.
„Ich komme zu dir!“
Keine Antwort.
„Bleib, wo du bist. Es dauert nicht lange“, sagte ich und legte auf.
Ich schaltete den Fernseher aus und warf mir meinen Mantel über. Schwerer Regen wurde gegen die Fenster geweht und ich griff nach meinem Schirm. Ich löschte das Licht, zog die Tür hinter mir zu und verließ das Haus.
Bis zur nächsten Station der Untergrundbahn war es nur ein kurzer Fußmarsch. Auf den Straßen stand das Wasser und in den Abflüssen gluckste und rauschte es. Der Wärme meines Heims nachtrauernd, klammerte ich mich an den Schirm und kämpfte gegen den Wind an. Als ich um die nächste Ecke bog, sah ich bereits das Schild der Station am Straßenrand leuchten.
„Zu weit gegangen.“
Während ich mich der Untergrundbahn näherte, versuchte ich mir einen Reim auf das Wenige zu machen, das Viktor am Telefon gesagt hatte. Was in Gottes Namen hatte ihn nur so aus dem Konzept gebracht? Derartig aufgelöst hatte ich ihn in all den Jahren noch nicht erlebt.
Und Verwirrung war nicht das Einzige gewesen, was in seiner Stimme gelegen hatte. Nein. Viktor hatte sich gefürchtet. Doch vor was?
Wenige Schritte später erreichte ich die Stufen in den Untergrund und stieg hinab.
Nur wenige Menschen tummelten sich auf den Bahnsteigen und vermutlich suchten einige von ihnen auch nur Schutz vor dem andauernden Regen.
Ich schüttelte meinen Regenschirm aus und stellte bei einem flüchtigen Blick auf den Fahrplan erleichtert fest, dass die nächste Untergrundbahn jeden Moment eintreffen sollte.
Ich sah mich um. Einige der Wartenden erschienen mir nicht ganz geheuer. Gemessen an der Uhrzeit zwar nichts Ungewöhnliches doch ich beschloss, die Augen offen zu halten.
Als dann nach wenigen Minuten die Bahn pünktlich einfuhr, stieg tatsächlich nur ein Bruchteil der Personen ein. Ich ergatterte einen Sitzplatz am hinteren Ende des Wagens mit guter Sicht über das gesamte Abteil. Ein junges Paar ließ sich unweit von mir nieder und ein paar Reihen weiter, nahm ein streng dreinblickender Mann in einem teuer aussehenden Anzug Platz. Abgesehen davon blieb dieses Abteil leer.
Nach wenigen Sekunden zogen sich die Türen mit einem zischenden Geräusch zu und die Bahn rumpelte in die Dunkelheit davon.
„Ich habe nicht aufgepasst ...“
Viktors unheilvolle Worte waren mir in den Tunnel gefolgt, während ich aus dem Fenster ins absolute Nichts starrte. Nur gelegentlich huschte das rote Licht einer Signalleuchte vorbei.
Ich hatte noch einige Stationen vor mir, und wie sich die Wagen der Untergrundbahn kreischend um eine Kurve schlängelten, reiste ich in Gedanken zu meinem letzten Treffen mit Viktor zurück.
Mehr als vier Wochen waren ins Land gegangen, seit wir uns in einem Café in der Innenstadt verabredet hatten. Ein gnädiger Septembermorgen hatte mit sommerlichen Temperaturen aufgewartet und für reges Treiben in den Straßen gesorgt.
Viktor war nur wenige Tage zuvor von einer mehrmonatigen Reise aus Indien zurückgekehrt. Umso mehr freute ich mich natürlich darauf, meinen alten Freund aus Studientagen wiederzusehen und seinen Berichten zu lauschen.
Ich entdeckte Viktor, noch bevor ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus dem Bus stieg. Er hatte es sich bereits, geschützt von einem übergroßen Sonnenschirm, an einem kleinen Tisch gemütlich gemacht.
Als er mich er mich sah stand er auf und winkte mir übertrieben auffällig entgegen. Selbst dann noch, als ich längst auf ihn zuhielt und er mir ein Grinsen entlockt hatte.
Ich mochte Viktors Art. Er sprühte vor Energie, war leidenschaftlich und verschwendete nie seine Zeit damit, sich für irgendjemanden oder irgendwas zu verbiegen.
Wir hatten uns während meines Studiums im Bereich der Medizin kennengelernt und verstanden uns vom ersten Augenblick an. Was keine Selbstverständlichkeit war, denn wie mir bald bewusst wurde, gingen viele der Studenten Viktor gezielt aus dem Weg. Er war ihnen nicht geheuer und die meisten vermieden es, sich von ihm in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Und es dauerte nicht lange, bis
auch ich herausfand, worin der Ursprung dieser Abneigung lag …
Viktor hatte uns einen Tisch am Straßenrand mit Blick auf den gegenüberliegenden Park freigehalten. Er sah gut aus. Aufgeweckt und vor Neugier strotzend. Darüber hinaus hatte er unübersehbar einiges an Sonne abbekommen. Doch am deutlichsten in Erinnerung geblieben war mir das zutiefst befriedigte Lächeln in seinem Gesicht, das ihm ein schelmisches Aussehen verlieh.
Nach einer herzlichen Begrüßung und etwas notwendigem Smalltalk unterlag ich der Neugier und begann damit, Viktor mit Fragen zu löchern.
Wie ein kleiner Junge lauschte ich gebannt seinen Erzählungen und Erinnerungen aus dem fernen Indien. Er schwärmte von einer faszinierenden Kultur, spirituellen Lebensweisen und von so vielen grellen Farben, dass ihm seit seiner Rückkehr in unsere Stadt alles grau und dunkel erschien.
Ich unterbrach ihn nur selten, gab zwischendurch zwei neue Bestellungen auf und versuchte mir die Welt vor Augen zu führen, die mir Viktor so eindrücklich und hingebungsvoll beschrieb.
Die Zeit war damals wie im Fluge vergangen und die Sonne näherte sich bereits ihrem höchsten Punkt, als sich Viktors Stimme mit einem Mal senkte und seine launige Art zu sprechen einem für seine Verhältnisse außergewöhnlich ersten Tonfall wich.
Das spitzbübische Grinsen behielt er allerdings bei, was ihm eine geheimnisvolle Aura verlieh und mich selbst dazu veranlasste, so nah wie möglich an den Tisch heranzurücken.
Er erzählte mir von einem Dorf, das er während seiner Reise durch die fremde Kultur besucht hatte. Ein Dorf, wie ich es mir ärmlicher nicht vorstellen könnte. Ein stiller Ort, den die Zeit übersehen hatte. Dort sei er einem Mann begegnet. Einem Mann, der von den Dorfbewohnern als Heilkünstler verehrt und geschätzt wurde und der mit Methoden praktizierte, die unsereins kurzerhand und leichtfertig als Humbug abtun würde.
Doch das Wissen und der Erfahrungsschatz dieses Mannes, dessen Namen Viktor wohl nie erfahren hatte, hätten ihn darin bestärkt seine eigene Arbeit im Bereich der Somnologie, der Schlafforschung, weiter voranzutreiben.
Es war diese Leidenschaft gewesen, die Viktor an der Universität zu einem Einzelgänger hatte werden lassen. Genauer gesagt, seine Vorstellung von der Welt, die sich uns eröffnete, wenn wir des Nachts die Augen schlossen.
Viktors Arbeiten gingen weit über das normale Maß hinaus. Schon früh verließen diese jeden greifbaren, medizinischen Grundsatz und widmeten sich bald der Aufgabe, Schlafen und Wachen unter naturwidrigeren als den uns bekannten Gesichtspunkten zu betrachten. Anfangs noch belächelt, zog er im Laufe der Zeit den Ärger der Professoren und den Spott anderer Studenten auf sich.
Zwar gingen auch mir einige von Viktors Theorien bisweilen zu weit. Doch er besaß die faszinierende Gabe, sie so vorzutragen, dass man ihm aufgrund seiner Wortwahl weder fehlendes Wissen oder gar Irrsinn unterstellen konnte. Wenn er sprach, wirkte er wie ein Forscher, dem die Welt bei Tag einfach nicht das bieten konnte was er brauchte, um zu beweisen, was es zu beweisen galt.
So wurde ich zu Viktors einzigem Freund und Begleiter während unserer gemeinsamen Zeit an der Universität. Und war es bis heute geblieben.
Erst am Nachmittag trennten sich unsere Wege erneut. Etwas widerwillig ließ ich mich auf das Bestellte einladen. Wir nahmen uns vor, nicht zu viel Zeit bis zu unserem nächsten Wiedersehen verstreichen zu lassen.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, sah ich Viktor noch eine Weile nach, wie er sich seinen Weg durch die Menschenmassen bahnte. Ich musste schmunzeln.
Es war nicht nur seine Faszination für die Welt der Träume gewesen, die ihm unter den anderen Studenten einen eingängigen Spitznamen eingebracht hatte. Nein. Da war auch etwas in seinem Wesen. Die Art, wie er sich bewegte. Langsam, die friedlichen Augen immer nach vorne gerichtet. Als gebe es bei Tage nichts, wofür es sich lohne, aufmerksam zu sein.
Sie nannten ihn den Schlafwandler.
Ein lauter Knall riss mich aus dem gemütlichen Café bei Sonnenschein zurück in das schaukelnde Abteil der Untergrundbahn. Ein hoffnungslos Betrunkener, dessen Zustieg ich versäumt hatte, hielt sich schwankend auf den Beinen und fluchte auf eine schäumende Pfütze aus Bier und einen Scherbenhaufen zu seinen Füßen hinab. Dann winkte er ab und trat die gröbsten Überreste der Flasche unter eine der Sitzbänke.
„Nächster Halt – Theaterplatz“
Ich stand auf und bewegte mich zum Ausstieg. Der Betrunkene musterte mich mit grimmigem Blick und murmelte dabei ein paar unverständliche Zeilen in seinen verfilzten Bart.
Ich ließ mir nichts anmerken und blickte vor mich ins Leere. Die Bahn wurde langsamer. Das Dunkel hinter den Scheiben verschwand und die grell beleuchtete Station kam zum Vorschein. Die Türen des Abteils waren noch nicht ganz aufgesprungen, als ich eilig hinaustrat. Entgegen meiner Hoffnung stieg der Betrunkene ebenfalls aus und folgte mir.
Die Station war menschenleer und vor die meisten Ausgänge waren bereits Gitter gezogen worden. Die schlurfenden Schritte des Mannes folgten mir durch die gekachelten Gänge. Mir war nicht wohl dabei, ihn hinter mir zu wissen und so beschleunigte ich meinen Gang. Schon bald verstummten die Schritte und ich hörte den Regen, noch bevor ich die Treppenstufen erreichte.
Viktor bewohnte erst seit Kurzem ein Appartement innerhalb einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt. Nicht gerade ein Luxusviertel, dem ein paar Straßenlaternen mehr meiner Meinung nach gut getan hätten.
Die heftigsten Winde hatten nachgelassen, doch noch immer goss es in Strömen. Ein schmaler Weg führte durch die Siedlung und an den riesigen Gebäudekomplexen vorbei. Nur noch wenige Fenster waren beleuchtet.
Ich trat unter ein Vordach und schüttelte meinen Schirm aus. An der Eingangstüre suchte ich zwischen mehreren Dutzend Türschellen nach Viktors Namen.
Es dauerte, bis sich die Tür mit einem Surren aufstoßen ließ.
Im Inneren des Gebäudes war es ungewöhnlich warm. Es roch nach Putzmitteln und irgendjemand schien vor nicht allzu langer Zeit etwas gründlich frittiert zu haben.
Während ich auf den Fahrstuhl wartete, versuchte ich mich auf die bevorstehende Begegnung vorzubereiten und mir einige Szenarien über das zurecht zu legen, was vorgefallen sein könnte.
Gleißendes Licht empfing mich, als sich die Fahrstuhltüren öffneten. Viktors Wohnung befand sich im 9. Stockwerk. Ich zuckte zusammen, als sich der Fahrstuhl mit einem beunruhigend lauten Geräusch in Gang setzte.
Das gedämpfte Licht im Hausflur stand im starken Kontrast zur hell erleuchteten Fahrstuhlkabine.
Viktors Appartement war eines von Zweien am Ende des Ganges und ich sah die Tür bereits offen stehen. Aus einer der anderen Wohnungen drang gedämpftes Lachen und irgendjemand hatte den Fernsehapparat auf volle Lautstärke gedreht.
Ich blieb unter der Tür stehen und starrte in einen dunklen, leblosen Flur.
„Viktor?“, fragte ich und klopfte gegen den Türrahmen.
Keine Antwort.
Ich ließ den Schirm zum trocknen im Hausgang zurück, trat ein und schloss die Tür hinter mir. In der Wohnung herrschte drückende Wärme und die Luft war abgestanden. Ein angenehmer, mir jedoch unbekannter Geruch stieg mir in die Nase. Es roch süßlich, jedoch leicht verbrannt.
Die Türen der angrenzenden Zimmer waren allesamt geschlossen. Nur aus dem Wohnzimmer, am Ende des Flurs, drang gedämpftes Licht.
„Viktor?“, wiederholte ich.
Ich schob die Tür auf, trat ins Wohnzimmer und erschrak. Viktor stand, eine Decke um sich geschlungen, in einer Ecke des Raumes und starrte mich an. Sein Gesicht war eingefallen und noch nie zuvor hatte ich solch müde Augen gesehen. Seine Lippen bewegten sich, doch er sagte nichts.
„Großer Gott, Viktor! Was ist passiert?“
Er fuhr zusammen und mir schien, als sei er sich erst in diesem Moment meiner Anwesenheit bewusst geworden. Er trat einen Schritt vor.
„Du bist gekommen“, krächzte er.
„Ja“, sagte ich und ging ihm entgegen, „Rede mit mir, Viktor. Was stimmt nicht?“
Viktor sog die Luft ein und hüllte sich fester in die Decke um seine Schultern. Obwohl es sehr warm in dem Zimmer war, schien Viktor zu frieren. Vorsichtig ließ er sich in einen Sessel sinken. Ich bevorzugte es, stehen zu bleiben.
„Ich bin zu weit gegangen, Erik“, stöhnte er.
„Zu weit gegangen? Womit?“
Viktors Kopf schnellte hoch und er fixierte mich mit seinem Blick. Seine Augen waren blutunterlaufen und jeglicher Glanz war aus ihnen entwichen. Mir war, als versuchte er sich ein Lächeln abzuringen.
„Nicht womit“, sagte Viktor leise, „sondern wohin!“
Mich überkam ein Schauer, als mir klar wurde, wie verstört Viktor tatsächlich war. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Etwas merkwürdiges hing in der Luft. Etwas, dass ich heute nicht mehr zu beschreiben imstande bin.
„Wohin? Was meinst du mit woh …?“
Ich unterbrach meine Frage, denn mir fiel etwas ins Auge. Viktor hatte die Vorhänge an den Fenstern zugezogen. Doch ein kleiner Spalt war offengeblieben, durch den ich hätte nach draußen sehen müssen. Doch etwas versperrte die Sicht.
Ich ging zum Fenster, zog den Vorhang bei Seite und schluckte. Die Scheiben waren mit Zeitungspapier beklebt. Instinktiv zog ich auch die anderen Vorhänge auf. Doch überall bot sich mir derselbe Anblick.
„Viktor, was ist hier los?“, fragte ich und ging mit einem mulmigen Gefühl auf ihn zu.
Viktor nickte und sah mich aus bebenden Augen an. Sein Gesicht war ein einziger Kampf innerer Gefühle.
„Ich war drüben, Erik“, sagte er.
„Drüben? Was meinst du? Wo warst du?“
Viktor rang um eine verständliche Stimme.
„Erinnerst du dich, wie ich dir von Indien erzählt habe?“, fragte er, „Von dem Mann, dem ich dort begegnete?“
„Ja“, antwortete ich.
„Ich habe ihn dort nicht zufällig getroffen, Erik. Ich habe gelogen.“
„Inwiefern?“
„Die Wahrheit ist, dass ich nach ihm gesucht habe. Seit Jahren schon.“
Ich runzelte die Stirn.
„Gesucht? Aus welchem Grund?“
„Um von ihm zu lernen“, sagte Viktor mit einem vorbeiziehenden Anflug von Stolz.
„Um was zu lernen? Wer war dieser Mann?“
Viktor legte den Kopf zur Seite und musterte mich. Als müsse er sich vergewissern, dass es auch wirklich ich war, der vor ihm stand.
„Er ist ein sehr spiritueller Mann, Erik“, sagte Viktor, „Wahrscheinlich der letzte seiner Art. Ein Mann mit Schlüsseln.“
Viktor las aus meinem Blick, dass ich nicht verstand, was er mir zu sagen versuchte. Er rutschte aus seinem Sessel auf die Knie und wühlte in einem Haufen Notizen, die verstreut auf dem Fußboden lagen.
„Meine Studien. Meine Wissenschaft. Nichts davon war richtig“, flüsterte er, „Nichts davon hätte mich je ans Ziel gebracht, Erik. Nichts!“
Ungläubig sah ich auf meinen verwirrten Freund herab. Meine Furcht schwand, stattdessen tat mir Viktor in diesem Augenblick unglaublich Leid. Ich ging in die Hocke und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er zuckte zusammen.
„Viktor? Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“, fragte ich besorgt.
„Die ganze Zeit. Die ganze Zeit über“, winselte er, „doch bin zu weit gegangen. Viel zu weit!“
Ich war überfordert. Wovon auch immer er redete, es hatte ihn gänzlich aus der Fassung gebracht. Ich sah ein, dass ich hier nichts ausrichten konnte und meine einzige Aufgabe darin bestehen konnte, Viktor zu beruhigen.
Ich packte ihn an den Schultern und zog ihn hoch.
„Ich bringe dich ins Bett“, sagte ich.
Viktor sah mich in einer Mischung aus Entzücken und Überraschung an.
„Aber ich ... schlafe doch ...“
„Ich bleibe heute Nacht bei dir“, beschloss ich und schnitt ihm das Wort ab.
„Körper und ... Geist“, stammelte Viktor, „sind nicht … nicht dasselbe.“
Ihm fielen die Augen zu und er drohte wegzudämmern. Ich wollte Viktor gerade in sein Schlafzimmer führen, als ein Poltern unbekannten Ursprungs ertönte und Viktor abrupt zum Stehen brachte. Seine Augen weiteten sich. Der blanke Horror war ihm mit einem Male ins Gesicht gefahren.
„Nicht dasselbe“, flüsterte er panisch, „Das bin … nicht ich ...“
Dann verließen ihn die Kräfte und er fiel in meine Arme.
Ich musste einiges an Kraft aufbringen, um von Viktors schlaffem Körper nicht umgeworfen zu werden. Schnaufend hievte ich ihn hoch, führte ihn zum Sofa und legte ihn vorsichtig ab.
„Zu weit ...“, flüsterte er im halb wachen Zustand.
„Wohin, verdammt noch mal“, hörte ich mich selbst sagen und fasste mir an die Stirn.
Ich nahm mir einen Moment, um Ordnung in meinen Verstand zu bekommen und die nächsten Schritte zu überdenken. Es war unerträglich heiß geworden. Ich wollte meinen Mantel ablegen, als mir etwas ins Auge stach. Ich beugte mich herab und hob eine Polaroid-Fotografie auf die zwischen den Unterlagen lag, die Viktor zuvor verstreut hatte.
Um besser sehen zu können, stand ich auf und trat ins Licht. Es handelte sich um eine Landschaftsaufnahme. Ein Schnappschuss. Doch etwas an dem Bild schien mir unnatürlich. Die Proportionen der abgelichteten Bäume und Hügel wiesen kaum zu erklärende Abnormitäten auf. Es ist bis heute schwer in Worte zu fassen. Das Bild schien scharf. Es war das Motiv, das verzerrt wirkte.
„Was soll das?“, flüsterte ich und kippte das Foto hin und her.
Ich legte das Bild zur Seite und kramte in den Unterlagen zu meinen Füßen. Eine schwarze Mappe erweckte meine Aufmerksamkeit.
Ich zog sie unter einem Stapel Fotokopien hervor und legte sie auf den Tisch.
Viktor stöhnte ein paar Mal auf, beruhigte sich jedoch wieder und drehte sich auf die Seite. Er war weggetreten.
Ich öffnete die Mappe und ein auf den ersten Blick ungeordneter Haufen von Fotografien kam zum Vorschein. Bei den Bildern handelte es sich um Aufnahmen einer Wohnung. Dieser Wohnung, wie ich bei näherer Betrachtung feststellte. Die Fotografien waren nachträglich von Hand datiert worden.
Eines der Bilder zeigte den Flur, aufgenommen vor etwas mehr als zwei Wochen. Wieder ein anderes zeigte das Schlafzimmer; dann das Bad.
Auch wenn es sich eindeutig um Aufnahmen aus Viktors Wohnung handelte, schienen auf den Fotos stets gewisse Details zu fehlen.
Der Boden war mal ein anderer, kleinere Möbelstücke fehlten oder waren in ihrer Beschaffenheit abgeändert. Auf einem der Bilder wirkten die Wände vollkommen verbogen und wieder ein anderes zeigte das Appartement gänzlich ohne Fenster.
Mein Verstand setzte immer weiter aus, während das Rätsel um mich herum wuchs und wuchs. Vor mir schien sich etwas aufzutürmen, wofür ich nicht bereit zu sein schien.
Als ich dachte, den Höhepunkt meiner Irritation erreicht zu haben, entlockte mir das nächste Foto in der Reihenfolge ein gequältes Keuchen.
Laut Datum war die Aufnahme vor zwei Tagen entstanden. Es zeigte das Schlafzimmer. Im Bett lag jemand und schlief. Viktor. Auch die nächsten Bilder zeigten ihn zugedeckt, schlafend. Meine Hände begannen zu zittern. Wer hatte die Bilder geschossen?
Noch bevor ich Vermutungen über den vermeintlichen Fotografen anstellen konnte, erklang erneut das polternde Geräusch. Diesmal lauter. Ich fuhr zusammen. Anders als ich zuvor angenommen hatte, kam es eindeutig aus dieser Wohnung.
Ich stand im Zimmer und lauschte. Es herrschte gespannte Stille und ich konnte Viktors leise Atemzüge hören, bis plötzlich ein lautes Klopfen durch das Appartement hallte.
„Was zum ...“, stöhnte ich auf, „Wer ist da?“
Die Geräusche hielten an. Vorsichtiges Klopfen und nervöses Kratzen. Mir war angst und bange. Entsetzt stellte ich schließlich fest, dass die Geräusche aus dem Schlafzimmer kamen. Die Tür war zugezogen. Der Schlüssel steckte im Schloss. Vorsichtig näherte ich mich dem Zimmer.
„Hallo?“, rief ich.
Das Kratzen hielt an, gefolgt von einer Art glucksen. Dann aber drangen Laute an mein Ohr, die ich so noch nie vernommen hatte.
„Wer ist da drin?“, stotterte ich.
Ich hörte dumpfe Schritte. Jemand ging hinter der Tür auf und ab.
„Ich bin zu weit gegangen.“
Viktors Worte schossen durch meinen Kopf. Mich überkam eine irrsinnige Theorie darüber, von wo die bizarren Aufnahmen auf den Fotos stammten.
„Ich war drüben, Erik ...“
Ja, Viktor war besessen von der Welt der Schlafenden. Was hätte er nicht alles gegeben, um herauszufinden wie man … Ich sträubte mich dagegen, den Gedanken zu Ende zu führen. Mir wurde schwindelig und meine Beine drohten nachzugeben.
Ohne das Schlafzimmer aus den Augen zu lassen, bewegte ich mich langsam rückwärts.
Ich sah zu Viktor, der nun tief und fest schlief. Seine Augen bewegten sich hinter den Lidern umher. Er träumte. Die Schritte hinter der Tür nahmen zu, wurden realer.
„Gott, nein ...“, stöhnte ich.
Der süßlich verbrannte Geruch erfüllte den Raum. Viktor öffnete den Mund und gab einen gutturalen Laut von sich. Ich sah noch, wie sich die Klinke der Schlafzimmertür bewegte, bevor ich herumfuhr, losrannte und aus der Wohnung stürmte.
Ich hastete durch den Hausflur, sah, dass der Fahrstuhl geschlossen war und stieß die Tür zum Treppenhaus auf.
Keuchend eilte ich die Stufen hinunter. Ich wagte nicht, mich umzusehen und erlaubte mir erst langsamer zu werden, als ich den Regen auf meinem Gesicht spürte.
Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass ich Viktor sah.
Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, fand ich mich in meinem Bett wieder. Die Sonne schien durch die halb geöffneten Fensterläden und der Lärm der Straße drang zu mir herauf. Ich trug noch immer meinen Mantel sowie meine Schuhe und die Eingangstüre meiner Wohnung stand für jedermann offen.
Es dauerte eine Weile, bis ich mir eingestand, dass ich keine klare Erinnerung mehr daran hatte, wie und wann ich zurückgekehrt war.
Von diesem Tage an war und blieb mein Freund Viktor auf alle Zeit verschwunden. Man fand eine verlassene Wohnung vor und die Polizei wurde eingeschaltet. Doch der Fall landete schnell bei den Akten. Es gab keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen oder Ähnliches.
Von „merkwürdigen“ Fotografien war in keinem der Berichte die Rede. Nichts davon wurde in dem Appartement gefunden. Es war, als habe sich Viktor in Luft aufgelöst und mit ihm alles, was davon gezeugt hätte, dass er überhaupt je da gewesen war.
Ich selbst gab an, Viktor zuletzt wenige Wochen vor seinem Verschwinden gesehen zu haben. Von meinem nächtlichen Besuch erfuhr niemand je etwas. Noch heute fehlen mir die passenden Worte für das, was mir in dieser Nacht widerfahren war.
Doch noch etwas anderes hielt mich davon ab, die ganze Wahrheit zu erzählen. Etwas, dass ich an besagtem Morgen in meinem Bett fand. Es war das letzte Polaroid-Foto, das ich aus Viktors Unterlagen gezogen hatte. Ich musste es die ganze Zeit über in der Hand behalten haben.
Zu sehen war das Schlafzimmer mitsamt dem Bett, in dem Viktor gut sichtbar schlief. Ebenfalls zu sehen waren eine Kommode, ein Bücherregal und ein Spiegel.
Und durch den Winkel, in dem das Foto aufgenommen wurde, konnte man im Spiegelbild deutlich erkennen, dass der schlafende Viktor zu diesem Zeitpunkt nicht alleine im Zimmer war. Dass es kein Trick war und die Kamera nicht über einen Selbstauslöser oder ähnliches ausgelöst wurde.
Nein, dieses Bild war von Hand geschossen worden.
Auf wen oder was Viktor während seiner Reisen durch Indien wirklich traf, blieb für immer ein Geheimnis. Aber was es auch war, es musste ihm, der sich auf Lebzeiten dem Gedanken verweigert hatte, dass wir an unser irdisches Wesen gebunden seien, einen Moment unvorstellbaren Glücks beschert haben.
Denn der Fotograf im Spiegelbild, war eindeutig Viktor selbst.