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Schlafenszeit
„...und weil der tapfere Ritter den schrecklichen Drachen getötet hatte, wurde er alsbald im ganzen Land als Held gefeiert. Nun endlich gab ihm der König auch seine geliebte Prinzessin zur Frau und die beiden lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.“
Papa schloss das Buch und legte es auf den Nachttisch.
„So, und jetzt ist es Zeit zu schlafen, mein Schatz.“ Lene kaute nachdenklich am Ohr des Stoffesels. „Papa...?“
„Ja, was ist denn?“
“Papa, warum war der Drache denn böse?“
„Nun, weil Drachen nun einmal böse sind.“
Das war eine Antwort, die Lene zwar nicht wirklich zufrieden stellte, gegen die sich aber auch nicht viel sagen ließ. Außerdem hatte Papa ihr da auch schon die Decke bis an die Ohren gezogen und stand auf.
„Gute Nacht Lenchen, träum was Schönes.“
Papa ging zur Tür – und in diesem Moment hörte Lene zum ersten Mal dieses Geräusch.
Es war wie ein Rascheln. So, als ob sich etwas unter ihrem Bett bewegen würde. Ein bisschen wie das Kratzen von Mäusefüßen auf dem Teppich. Allerdings sehr, sehr große Mäusefüße...
„Papa!!“
„Was ist denn noch?“
„Papa, ich glaube unter meinem Bett liegt ein Drache.“ Papa lachte.
„Oh Lenchen. Beim nächsten Mal passe ich besser auf, was ich dir vorlese. Es gibt keine Drachen. Genauso wenig wie Monster.“
Wieder raschelte es. „Hast du das gehört?“
„Was denn, Lene?“
„Na, den Drachen!“ Papa bückte sich, sah unter das Bett und schaltete dann das Licht aus.
„Lene, da ist nichts. Schlaf jetzt, ja?“ Damit machte er die Tür zu und ließ Lene alleine.
Da lag Lene nun im Dunkeln. Vielleicht hatte sie sich das ja doch nur eingebildet? Eigentlich war sie ja schon ein großes Mädchen und ließ sich längst nicht mehr so leicht Angst machen. Aber auf der anderen Seite....was wusste Papa schon? Papa hatte ihr ja auch nie glauben wollen, dass Jonathan, ihr Stoffesel, sprechen konnte. Aber er hatte es getan. Bis vor kurzem hatte er jede Nacht mit ihr gesprochen und ihre Angst vor den Schatten in der dunklen Ecke hinter dem Schrank vertrieben. Manchmal hatte er sogar tagsüber geredet, wenn er und Lene allein waren. Aber mit der Zeit war das immer seltener vorgekommen und seit einigen Wochen hatte Jonathan gar nichts mehr gesagt. Er war eben doch nur ein Stofftier, auch wenn Lene sich mit ihm im Arm nicht ganz so allein vorkam.
Sie spitzte die Ohren. War da etwas oder nicht? Ein Atmen? Ein tiefes Schnauben?
Lene zog sich die Bettdecke über den Kopf und kniff die Augen fest zusammen. Da war kein Monster. Es gab keine Drachen und keine Monster und.... - Das Bett zitterte merklich.
Lene schoss hoch und knipste das Licht auf ihrem Nachttisch an. Das Zittern hörte ebenso plötzlich wieder auf, wie es angefangen hatte.
Lene hielt den Atem an. Sollte sie Papa rufen? Der würde ihr nicht glauben. Er hatte ja schon unter ihrem Bett nachgesehen...Aber was sollte sie machen.
„Ist da jemand?“ Ihre Stimme klang wie ein Piepsen in der Stille des Zimmers. Und natürlich kam keine Antwort.
Lene kroch bis zur Bettkante vor, umklammerte Jonathan noch fester als vorher – und beugte sich über den Bettrand.
Unter dem Bett lag ein Drache.
Kein besonders großer. Er war eigentlich nicht viel größer als Lene selbst, aber immerhin war es ein Drache. Er war grün, mit leuchtenden Schuppen und blauen Augen.
Lene quietschte und fiel vom Bett.
Der Drache quietschte auch und legte sich seinen Schwanz über die Kulleraugen.
Lene konnte sich nicht bewegen, so erschrocken war sie. Unter ihrem Bett lag tatsächlich ein Drache. Warum hatte Papa ihn denn nicht gesehen? Würde er sie jetzt fressen? Und warum benahm er sich so komisch? Es sah ja fast so aus, als würde er sich die Augen zuhalten...?
„Was...machst du denn da?“ Vielleicht war das kein besonders guter Einstieg in die Unterhaltung mit einem Drachen, aber trotzdem verlagerte dieser seine Schwanzquaste um einige Zentimeter und öffnete eines seiner Augen. Es war tatsächlich leuchtend blau.
„Ich verstecke mich.“ Da erst bemerkte Lene, dass der Drache am ganzen schuppigen Leib zitterte. Das war es also, was ihr Bett so zum Beben gebracht hatte.
Plötzlich war Lenes gesamte Angst verschwunden. Das war kein schrecklicher, böser Drache.
Seine Stimme klang viel ängstlicher als ihre eigene. Und eigentlich sah er auch sonst nicht sehr furchterregend aus.
„Vor was versteckst du dich denn?“
Der Drache kroch vorsichtig ein Stück näher, wobei er sich nach allen Seiten umsah.
„Bitte verrate es niemandem – aber ich habe so furchtbare Angst vor der Dunkelheit.“
Lene war verblüfft. „Ja, aber du bist doch ein Drache! Du musst dich doch nicht vor dem Dunkeln fürchten. Wie bist du denn überhaupt hier hergekommen?“
Der Drache schnaubte leise. „Wir Drachen leben in der Märchenwelt. Aber wir können auch mit den Geschichten und Erzählungen reisen. Wir lassen uns einfach treiben und durchfliegen Zeit und Raum. Aber ich bin in ein Traumloch gefallen und plötzlich war ich hier in eurer Welt. Aber hier ist es so schrecklich dunkel und groß und...ich finde den Rückweg einfach nicht mehr...“ Bei dem letzten Satz war seine Stimme brüchig geworden und nun kullerte eine große Träne aus dem Drachenauge und platschte auf den Teppich.
Lene hatte Mitleid mit dem Drachen. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und berührte seine Nackenschuppe. Der Drache schniefte.
„Die anderen Drachen lachen sowieso schon über mich. Weil ich so klein bin und weil ich so oft Angst habe. Aber da draußen ist es so dunkel.“ Wieder legte er den Schwanz über seine Augen und Lene befürchtete, der kleine Drache würde nun wirklich beginnen zu weinen. „Aber es muss doch einen Weg zurück für dich geben!“
Der Drache zwinkerte. „Ja...den gibt es schon...“ Er zögerte. Lene kroch ein Stück näher zu ihm und streichelte seine Pranke, um ihm Mut zu machen.
„Ich könnte durch deine Träume reisen. Du müsstest eben von mir träumen...aber...in euren Menschenträumen ist es auch so dunkel und ich fürchte mich doch so...“
„Das ist alles? Ich müsste nur von dir träumen und dann kannst du zurück?“
„Ja. Du musst nur vor dem Einschlafen, an meinen Namen denken.“
„Wie heißt du denn?“
„Das ist es ja. Drachen haben gar keine Namen. Du musst mir einen Namen geben. Deswegen können wir Drachen ja auch nur noch so selten mit den Träumen der Menschen reisen. Weil die Menschen uns nicht mehr sehen können, geben sie uns auch keine Namen mehr.“
„Ich kann dich sehen.“
„Ja, aber du bist ja auch ein Kind. Kinder sind besonders. Kinder können sehen. Erwachsene Menschen sind blind.“
Das war logisch.
„Also muss ich dir einen Namen geben, einschlafen und dann kannst du wieder nach Hause?“
„Ja...aber ich trau mich nicht.“
Lene dachte nach. Ziemlich lange.
Es war ganz still im Zimmer, nur hin und wieder schniefte der Drache leise.
Endlich aber streckte Lene dem Drachen ihren Esel entgegen. „Das ist Jonathan. Er beschützt dich vor dem Dunkeln. Er kennt die Schatten, weißt du. Mit ihm musst du keine Angst mehr haben.“ Der Drache beschnupperte und beäugte Jonathan gründlich. Dann legte er den Kopf schief und nickte einige Male.
„Redet er mit dir?“ fragte Lene begeistert, wenn auch etwas eifersüchtig.
„Natürlich tut er das.“
„Na, dann ist doch alles gut.“
Lene gähnte, denn sie war jetzt tatsächlich sehr müde geworden....
„Meinst du, du kannst jetzt wieder nach Hause gehen.“ Der Drache zögerte immer noch.
„Könnte...Jonathan mit mir kommen.“ Lene schluckte. Ihr Jonathan? Aber der kleine Drache tat ihr so leid...und außerdem war sie wirklich sehr müde. Sie umarmte Jonathan noch einmal fest und drückte ihr Gesicht in sein weiches Fell. Er hat ja ohnehin nicht mehr mit mir geredet.
„Also, ich bin bereit.“ Lene kletterte wieder ins Bett und der Drache kam hinterher. Er war tatsächlich sogar noch etwas kleiner als sie – wenn man mal von seinem Schwanz absah.
Lene schloss die Augen. „Ach übrigens...“ Lene machte die Augen wieder auf und zuckte zusammen, da sich die Augen des Drachen nur wenige Zentimeter vor ihren eigenen befanden.
„Was denn noch?“ „Es darf kein Menschenname sein!“
„In Ordnung.“
„Und noch was...“ Lene öffnete wieder die Augen. „Jaaa?“
„Danke schön.“ Lene umarmte den kleinen Drachen. „Komm gut nach Hause!“ Der Drache legte sich an ihr Fußende, nahm Jonathan vorsichtig zwischen seine Pranken und wartete.
Sie zog sich die Decke bis an die Ohren, schloss die Augen und dachte...
Jonathan fehlte ihr beim Einschlafen. Eine Weile noch spürte sie die Schwanzquaste des Drachen an ihren Füßen, dann lag sie allein im Bett.
„Das hast du gut gemacht.“
„Hmm?“
„Ach nichts, schlaf nur,“ sagte der Teddy.