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Schlafende Drachen

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02.04.2002
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Schlafende Drachen

Die Wasserleitungen sind so alt wie ihre ersten Gedanken. Entsprechend langsam fließt das Wasser in die Badewanne. Bedächtig öffnet sie die Flasche Rotwein und stellt das gefüllte Glas vorsichtig an den Rand. Während sie sich auszieht und den Blick in den Spiegel meidet überlegt sie sorgsam, welches Buch sie aus ihrem Zimmer holen will. Ganz sicher braucht sie Ablenkung. Sprache, die entführt. Bilder, die die Leere ausfüllen. Und ganz sicher wird sie nicht nachdenken. Nicht über Leitungen, die rostrotes Wasser abgeben. Nicht über das Buch, das sie ließt. Nicht über den Tag, der seinem Ende entgegen sieht. Sie wird sich treiben lassen. Im warmen Wasser. Im leichten Weinrausch. In abgedroschenen Worten. In diffusen Bildern.

Mit der Zehenspitze prüft sie die Wassertemperatur. Das Wärme empfängt sie einladend und ihr Körper verdrängt das Wasser wie die Schwerelosigkeit jegliche Erinnerung. Das kühle Weinglas bietet einen angenehmen Kontrast in Ihrer Hand. Gedankenverloren erfühlt sie mit den Fingerspitzen jede Unebenheit. Mit dem ersten Schluck Wein kehrt Bitterkeit zurück.

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„Weißt Du noch, wie wir uns kennengelernt haben? Wir haben uns angesehen und sofort war uns klar, dass wir füreinander bestimmt sind.“ Ihre Finger sind ineinander verwoben und ihre Körper scheinen auch angezogen eine Einheit zu bilden. Er lächelt sie an im Taumel der hinaufbeschworenen Erinnerung. Hebt das Weinglas und trinkt ihr zu in Gedanken an ihren ersten gemeinsamen Augenblick.

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Wie wenig sie ihn wirklich kannte. Damals. Und wie wenig sie vom Leben wusste. Sie schlägt das Buch auf und versinkt wieder in Belanglosigkeit. Das kann sie gut. Sich treiben lassen. Alles weit von sich schieben. Früh schon hat sie begonnen, ihre innere Festung zu stabilisieren. Stein für Stein gemauert, Gräben ausgehoben und Irrwege angelegt. Jetzt und hier ist sie sicher. Und um dieses Gefühl zu bestätigen liest sie Seite für Seite. Lässt sich von Wasser Wärmen, von Wein beleben, von Worten verleiten.

Als es an der Tür klingelt überfällt sie ein Gefühl der Irrationalität. Sie lässt den Klang verhallen. Wartet als sei nichts geschehen. Wie immer. Das Buch ist ein wenig ins Wasser gerutscht und ärgerlich betrachtet sie die nassen Seiten. Die Harmonie ist aus dem Takt. Das zweite Klingeln wird von lautem Klopfen begleitet und lässt sich nicht länger verleugnen. Ihre Festung erzittert ein wenig. Fast andächtig legt sie das feuchte Buch auf die Toilette und leert das Weinglas in der Badewanne bevor sie heraussteigt. Die roten Weinfäden treiben hilflos durch das Wasser, während sie sorgfältig ihren Bademantel schließt.

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„Es tut mir Leid, ich wollte das nicht. Bitte verzeih mir.“ Abwesend sieht sie aus dem Fenster. Zählt die Autos, die zu dieser späten Stunden noch vorbeifahren. „Bitte. Sieh mich doch an. Ich hab das nicht gewollt. Du musst mir glauben.“

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Sie hat ihm geglaubt. Alles andere wäre zu schwer gewesen. Vielleicht zu mühsam. Ganz bestimmt zu beängstigend. Dabei hätte sie da schon wissen müssen, dass alles nur auf diesen einen Tag hinaus läuft. Aber er hatte recht. Er hatte es nicht gewollt. Nie wollte es das. Der eine Teil seines Ichs. Der andere Teil – der andere Teil war anders. Der wollte ihr weh tun. Sie quälen. Sie demütigen. Sie leiden sehen. Jedes mal ein wenig mehr. Vorsichtig befühlt sie ihr geschwollenes Gesicht. Spürt dem Schmerz nach, der von ihrer Schulter bis hinunter in die Fingerspitzen Ihrer linken Hand reicht. Sie konnte ihm nicht mehr glauben.

Und jetzt steht er vor der Tür. Nach diesem Tag, den sie so sorgfältig aus ihrem Gedächtnis streichen wollte. Sein einer Teil ist wieder erwacht, nach dem der andere sich schlafen gelegt hat – wie ein Drache, der nur von böser Zauberhand geweckt werden konnte. Sie kann ihn jetzt nicht nur klopfen, sondern auch rufen hören.

„Bitte mach auf. Bitte! Bitte lass mich doch rein.“

Seine Stimme klingt verzweifelt. Klopfen. Klingeln. Immer lauteres Klopfen. Im Bademantel geht sie langsam zur Küche und sieht sich um, bereit, das letzte Tor zu ihrer Festung für immer zu schließen.

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Sie würde die Tür öffnen und er würde vor ihr auf die Knie gehen. Sie würde, wie immer, abwesend aus dem Fenster blicken und emotionslos sein Flehen um Verzeihung erhören. Doch heute wäre es anders. Ganz langsam würde sie ihren Bademantel öffnen und heruntergleiten lassen. Er würde in den Spiegel des schlafenden Drachens blicken. Er würde seinen Blick abwenden müssen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Diesen Augenblick wollte sie ausnutzen. In seine Beuge zwischen Schulter und Nacken würde ihr längstes Messer treiben – gerade so weit, dass er sich nicht mehr bewegen konnte, doch nicht so weit, dass er sofort das Bewusstsein verlor. Sie würde es dann wieder heraus ziehen. Ganz sanft, so wie sie immer mit ihm umgangen war. Und dann würde sie beginnen. Langsam und sorgfältig würde sie auf seinem Körper all ihre Wunden nachzeichnen.

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Als es wieder klopft geht sie zur Tür. Als er vor ihr steht und sie mit seinen warmen und verzweifelten Augen anblickt, überkommt sie ein Gefühl der Schwäche. Sie atmet tief durch, um es zu vertreiben. Der bittere Nachgeschmack des Weines vermischt sich mit der Säure ihres nervösen Magens. Er sagt kein Wort. Nimmt nur ihre Hand. Geht in die Knie und sie spürt seine Tränen, die wie in Zeitlupe ihren Arm herunterlaufen.

Mit der anderen Hand, die sie noch frei hat, öffnet sie den Gürtel ihres Bademantels. Fast zärtlich entwindet sie ihre Hand seinem Griff und tritt einen halben Schritt zurück. Erstaunt blickt er sie an – sie, die ihn nie zuvor losgelassen hat. Als sie nackt vor ihm steht und das unfassbare Entsetzen in seinen Augen sieht, meint sie, ein leichtes Rauschen zu hören. Als das Rauschen lauter wird, weiß sie, dass der Drache in ihr erwacht ist.

Er wendet den Blick ab und spürt plötzlich ein fürchterliches Stechen. Er versucht zu atmen, doch Entsetzen nimmt ihm die Luft. Als der Schmerz kurz nachlässt, atmet er heftig durch. Voller Panik suchen seine Augen ihr Gesicht. Er spürt den nächsten Stich.

Sein ganzer Körper glüht jetzt vor Schmerz und er glaubt, das Bewußtsein zu verlieren, als die Bedeutung ihrer Worte wie Messerstiche immer weiter in sein Bewusstsein vordringen.

Bedächtig, langsam und mit eisiger Kälte hört er sie immer wieder sagen:

„Geh. Geh und komm nie wieder!“

[ 02.08.2002, 15:15: Beitrag editiert von: Kay Nexion ]

 

Hi Kay

Lesen lies es sich gut und flüssig, das Ende ist aber für mich noch unbefriedigend.
Vielleicht liegt es einfach daran, dass ich es nicht mag, wenn menschen aus Kränkungsgründen heraus verletzt werden, und sei es nur innerhalb einer geschichte.
Außerdem fehlt mir die Begründung für solch krasse handlung innerhalb Deiner Geschichte.

Der Lord

 

Danke für Eure Kritiken. Leicht zu lesen ... das ist doch auch schon mal ganz schön. Leider scheint aber inhaltlich nur sehr wenig von dem rüberzukommen, was mir vorschwebte?!

@ Lord: Verletzt wurde eigentlich nur die Frau (seelisch und körperlich). Das mag wohl auch eine Kränkung sein - aber "krass" sind danach eigentlich nur ihre Gedanken. Ich hatte gehofft, dass zum einen klar wird, dass ihr körperliche Gewalt angetan wurde und das sie ihn letztlich - eben nicht wie in ihren Gedanken - nur durch ihre Worte so tief verletzt.

Es sollte durchaus bis zum Schluss offen bleiben, ob sie ihren Plan wirlich ausführt ("Spannung"?), aber scheinbar habe ich etwas übertrieben und es ist nicht erkennbar, dass sie nur ihre Stärke und die Trennung - die er als körperlichen Schmerz empfindet - als Waffe einsetzt.

Tja, da muss ich wohl noch mal überlegen, wie etwas klarer wird, was ich eigenlich aussagen will ... Denn eigentlcih wollte ich gerade zeigen, dass es auch als Opfer körperlicher und seelischer Gewalt und auch in pedantischer Lethargie, einen anderen Ausweg gibt als seinen Mord-, oder in vielen Fällen auch Selbstmordgelüsten nachzugeben. Nämlich sich einfach aus den fürchterlichen Umständen zu befreien.

Danke für den Input. Werde das ganze später nochmal überarbeiten.

Gruß
Kay

 

@ Lord:
So - endlich Zeit gefunden zum Editieren ... Hoffe dass es so ein nißchen klarer ist ohne zu viel vorwegzunehmen???!

Gruß
Kay

 

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