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Schlüssel in rot

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19.08.2001
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Schlüssel in rot

Was für ein gottverdammt-beschissener, wertloser, elender Hurensohn von einem Tag! Vergeudete Zeit. Ich verließ das Büro um exakt 22.12 Uhr. Ich zog den Zipp meiner Jacke hoch und sah auf meine Armbanduhr. Seit acht Uhr morgens hatte ich erfolglos versucht ein brauchbares Konzept für den Webauftritt einer Schlüsselfirma zu entwerfen. Vierzehn endlose Stunden hatte ich damit verbracht Zeug auf Papier zu kritzeln und Entwürfe am Computer zu erstellen. Nichts. Alles komplett für’n Arsch! Entnervt hatte ich schließlich die Bremse gezogen und beschlossen, für heute Schluss zu machen. Wenn es nicht geht, geht es nicht. Dummerweise hatte ich in letzter Zeit das Gefühl, dass mir öfter die Ideen ausgingen.

Ich stand also vor dem Bürogebäude und rauchte mir eine Zigarette an. Es war kalt und der Wind peitschte mir mit der Rückhand kleine Eiskristalle über das Gesicht. Scheißwetter! Die U-Bahnstation befand sich einige hundert Meter vom Bürogebäude entfernt. Ich steckte meine linke Hand in die Jackentasche, zog den Kopf ein um mich vor dem Wind zu schützen und machte mich auf den Weg.

Ich erreichte die Station und fuhr mit der Rolltreppe nach unten. Offensichtlich hatten es alle recht eilig dem miesen Wetter zu entkommen. In der Station roch es nach nassen Hunden, billigem Aftershave und Bratkartoffeln. Ich lehnte mich gegen eine Wand und begann in Gedanken weitere Entwürfe durchzugehen. Es konnte doch nicht sein, dass mir zu einer Schlüsselfirma nichts einfiel! Ich ging meine Ideen noch einmal durch. Aber ich hing. Ständig manifestierte sich vor meinen geschlossenen Augen das Bild eines Schlüssels mit Händen und einem blöden Grinsen auf dem Gesicht. So einfach konnte und wollte ich es mir nicht machen. Es musste auch anders gehen. Die U-Bahn kam schließlich und ich strömte mit den Massen in einen Waggon.

Ich dachte immer noch an Schlüssel und Farbkombinationen, als ich eine Stimme vernahm. Ich versuchte die Quelle ausfindig zu machen. Im vorderen Bereich des Waggons stand ein Typ und hielt sich an einem Haltegriff an. Er sah ziemlich mitgenommen aus, fettige Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht und seine Kleidung ließ darauf schließen, dass er keinen festen Wohnsitz hatte, sondern sich eher auf der Straße herumtrieb. Er hatte ein beängstigend weißes Gesicht und redete wirres Zeug daher. Ab und zu zuckte sein Kopf zur Seite, als ob ihn jemand ohrfeigen würde. Daraufhin kniff er die Augen zusammen und grinste ein furchtbares Grinsen, welches Zahnruinen zum Vorschein brachte, die ich nie für möglich gehalten hätte. Mir fiel auf dass, obwohl es im Waggon relativ eng war, niemand um den Typen herum stand. Offensichtlich wollte ihm niemand zu nahe kommen. Vielleicht stank er auch. Ich konnte das bis zu mir nicht feststellen. Der Zug blieb bei einer Station stehen. Einige Leute stiegen aus, andere nahmen ihre Plätze ein. Der Typ blieb, wo er war. Schließlich fuhren wir weiter.

„Immer vorne, immer vorne... ja, schau’ nur... da vorne hab ich g’sagt, da vorne... und der schaut immer noch... „ sagte der Typ und sein Kopf zuckte wieder zur Seite. Irgendwie konnte ich den Blick nicht abwenden. Ich kann nicht behaupten, dass er mir Leid tat, aber er machte schon einen sehr verwahrlosten Eindruck. Ich bemerkte es nicht sofort, aber irgendwann schien er nur mehr mich anzusehen. Er hatte offensichtlich mitbekommen, dass ich ihn angestarrt hatte.

„Jaja.. schau’ nur... da schau her... da steht er, da steht er... und schaut... was? naa.. häng dich an g’scheit... schau her... der schaut immer noch...“ sagte er und sah mich dabei an. Nervös wandte ich den Blick ab. Er fuhr jedoch fort und begann mich schließlich zu beschimpfen. Ich beschloss ihn zu ignorieren und blickte einfach aus dem Fenster heraus ins Schwarze.

Plötzlich ging ein Raunen durch den Waggon. Ich drehte den Kopf und stellte fest, dass der Typ auf mich zukam. Er hatte die Hände in einer Art Abwehrpose gehoben, stammelte unverständliches Zeug und bewegte sich schlurfend in meine Richtung. Ich starrte auf seine Hände. Sie waren dreckverkrustet und blutig. Angewidert wich ich zurück. Er war offensichtlich verletzt. Immer noch grinsend hob er seine Hände weiter bis über seinen Kopf. Blut tropfte von den Fingerspitzen auf sein Gesicht und den Boden des Waggons. Er schien es tatsächlich auf mich abgesehen zu haben, warum auch immer. Ich konnte nicht mehr verstehen, was er sagte, es hörte sich aber nicht besonders freundlich an. Der Typ war irre, eindeutig! Ich wich zur Schiebetür zurück und hoffte, dass er sich einfach in ein Eck verkriechen würde. Stattdessen kam er weiter auf mich zu, mit seinen blutigen Händen und diesem irren Blick. „Gnaaa!“ sagte er als er unmittelbar vor mir stand. „Ist schon gut.“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen „Beruhig’ dich wieder.“ Ich kramte in meiner Hosentasche und wollte ihm etwas Kleingeld geben, damit er wieder abzog. „Knnaaaaa!“ schrie er plötzlich und fuchtelte mit seinen blutigen Fingern vor meinem Gesicht herum. Ich wandte angewidert den Kopf ab und wollte mich an ihm vorbeidrücken, als er mich von hinten ansprang und mir die Hände ans Gesicht drückte. Einige Frauen in unmittelbarer Nähe begannen zu kreischen. Er drückte mir seine blutigen Finger auf den Mund. Geschockt versuchte ich ihn abzuschütteln, aber er hatte bereits seine Beine um meine Hüfte verschränkt und begann zu kreischen wie am Spieß. Zwei seiner Finger fanden den Weg in meinen Mund. Sein Gestank war echt zuviel. Ich spürte seine rauen, dreckigen Finger im Mund um schmeckte Blut. Während ich immer noch versuchte, seinen erstaunlich festen Klammergriff zu lösen, begann er auch mit der anderen Hand meinen Mund zu ertasten. Mittlerweile war ich echt am Ausrasten und tobte mit ihm am Buckel durch den Waggon. Leute kreischten und Männer, die vor einigen Minuten noch gefährlich dreingeschaut hatten, drückten sich entsetzt gegen die Fenster des Waggons, anstatt mir zu helfen. Blut spritzte herum und ich torkelte mit diesem Wahnsinnigen durchs Abteil ohne ihn abschütteln zu können. Weitere Finger seiner anderen Hand fanden schließlich meinen Mund und er begann plötzlich, mir beidhändig den Mund aufzureißen. Ich spürte ein massives Ziehen in den Mundwinkeln, weiteres Blut tröpfelte mir in den offenen Mund. Halb verrückt vor Schreck warf ich mich auf den Rücken und schlug mit den Ellbogen aus, was das Zeug hielt. Ich beugte den Kopf nach vorne und ließ ihn ruckartig zurückschnellen. Ein lautes Krachen ertönte, als ich ihn mit dem Hinterkopf im Gesicht traf. Ich schlug erneut aus, und wieder, und wieder. Ein brennender Schmerz breitete sich von meinen Mundwinkeln aus und ich spürte, wie mir Blut in den Mund tröpfelte. Ich hatte nur keine Ahnung ob es seines war oder meins. Abermals versuchte ich seine Hände aus meinem Mund zu ziehen, aber es war, als würde man versuchen einen Schraubstock mit bloßen Händen auseinander zu bekommen. Ich war in einem Albtraum gefangen! Ich konnte nicht glauben, was geschah! Und keiner kam mir zur Hilfe. Als ich den Kopf ein weiteres Mal vorbeugte um ihm einen weiteren Schlag zu verpassen, blieb die U-Bahn stehen. Menschenmassen flüchteten panisch aus dem Waggon und ließen mich alleine mit diesem Verrückten zurück. Andere, die einsteigen wollten, blieben vor den Türen stehen und überlegten es sich schließlich anders. „Chaaaaa!“ schrie ich und begann mit den Armen zu rudern. Irgendeiner musste doch etwas tun! Die Schiebetüren schlossen sich mit einem lauten „Tuuut!“ und die U-Bahn fuhr weiter. Ich spürte, wie mir schwindlig wurde, alles drehte sich. Auf die Beine kommen konnte ich nicht mehr, umdrehen funktionierte auch nicht. Blut rann mir den Schlund hinab und ich begann zu würgen. Der Geschmack war einfach zuviel. Und da waren wieder diese Finger, die in meiner Mundhöhle rumzuckten und über meine Zähne und Zunge strichen. Schließlich schloss ich die Augen und biss zu. Ein irres Kreischen erfüllte den Waggon, während wir dahinratterten. Ich spürte, wie sich meine Zähne ihren Weg durch das Fleisch der Finger bahnten, ehe sie auf Knochen stießen. Ich öffnete meine Kiefer in der Hoffnung, er würde seine Finger aus meinem Mund rausziehen, stattdessen steckte er mir weitere in den Mund und bohrte mir seine Daumen in den weichen Teil unter meinen Ohren. Der Schmerz war betäubend, ich hatte das Gefühl, als würde mir jemand ein Stilett ins Ohr jagen. Ich biss erneut zu und wieder und noch mal. Ich biss auf Fleisch, Knochen und versuchte dazwischen Hautfetzen auszuspucken und nicht am Blut zu ertrinken. Der Griff lockerte sich plötzlich, das irre Kreischen blieb jedoch. Mit einem Ruck zog ich meinen Kopf nach vorne und entkam plötzlich dem stahlharten Griff. Ich richtete mich schnell auf und spürte, wie er versuchte mich mit dem, was von seinen Fingern übrig geblieben war, zurückzuziehen. Aus dem Augenwinkel konnte ich einen seiner Finger sehen. Die Spitze war nahezu abgebissen und baumelte an einem Stück Haut seitlich herab, ein spitzer Knochen ragte heraus.

Ich versuchte beidhändig die Umarmung seiner Füße zu lösen, die immer noch um meine Taille geschlungen waren. Er ließ nicht locker! Ich ballte meine Hände zu Fäusten und drosch sie ihm auf die Knöchel, Schienbeine und seine Knie. Ich grub meine Nägel in das weiße Fleisch seiner Unterschenkel, das durch seine hochgerutschte Hose zum Vorschein kam und kratze ihn blutig. Ich war komplett wahnsinnig geworden! Ich wollte ihn umbringen, sah rot, war komplett ausgetickt! Schließlich ließ er locker. Ich warf mich zur Seite und kam zitternd und völlig außer Atem auf die Beine. Der Typ rollte am Boden hin und her und hielt die Hände an seinen Bauch. Ich begann zu würgen und erbrach auf seine Beine. Ich spuckte und spuckte und fuhr mir mit den Handrücken über den Mund. Fassungslos starrte ich den Typen an. Er drehte sich zur Seite und sah mich aus hasserfüllten Augen an. Sein Gesicht war übel zugerichtet, ich hatte ihm mit meinem Hinterkopf die Nase gebrochen und einige seiner Zähne ausgeschlagen. Plötzlich bemerkte ich, dass der Zug langsamer wurde. Ich drückte mich an die Tür und sah auf ihn herab. Er hatte genug. Was immer er vorgehabt hatte, es hatte nicht funktioniert.

Ich rüttelte am Griff der Tür, als der Zug langsam in die Station einfuhr und warf ihm noch einen letzten Blick zu. Ein letztes Mal spuckte ich Blut aus, als der Zug endlich hielt und sich die Tür öffnete. Ich sprang beinahe aus dem Zug und wich zur Wand zurück. Seltsamer weise schien in dieser Station niemand ein- oder auszusteigen. Durch die geöffnete Tür starrte ich auf den Körper und schüttelte den Kopf. Ich zitterte am ganzen Körper. Schließlich schlossen sich die Türen mit einem lauten „Tuuuut!“ und der Zug fuhr weiter.

Ich setzte mich, nachdem ich erneut würgen und mich übergeben musste, auf eine Bank und atmete tief durch. Was zur Hölle war da eben geschehen? Wie um alles in der Welt konnte so etwas überhaupt passieren? Ich wusste es nicht. Ich sah meine Hände an. Sie waren blutig. Überhaupt war ich blutüberströmt und aus meinen Mundwinkeln sickerte immer noch Blut. Er hatte mir tatsächlich die Mundwinkel eingerissen! Ich beschloss, eine Weile sitzen zu bleiben. Ich musste mich erholen, wieder versuchen, klar zu denken. Zitternd zog ich meine Schachtel Zigaretten aus meiner Jackentasche, steckte mir eine Zigarette zwischen die Lippen und rauchte sie an. Ich saß da eine ganze Weile, ohne dass ich mich besser fühlte. Weitere U-bahnen rauschten in die Station ein, Leute stiegen ein und aus und bedachten mich mit seltsamen Blicken. Ich konnte es ihnen nicht verübeln, ich sah furchtbar aus. Irgendwie schaffte ich es trotzdem nicht, mich aufzuraffen und weiterzugehen. Nur ein bisschen ausruhen, den Schock übertauchen. Dann würde es mir besser gehen. Nur noch ein bisschen sitzen bleiben. „Schlüssel“, dachte ich plötzlich. Die hätte ich ihm in die Hände rammen können. Oder mit den Zacken über die Knöchel fahren. Ja, Schlüssel! Wieso hatte ich nicht daran gedacht? Schlüssel. Blut. Rot. Gesicht. Weiß. Scheiße, die Kombination würde vermutlich funktionieren! Ich versuchte ein lahmes Grinsen und rauchte mir eine weitere Zigarette an. Ja, vermutlich würde ich morgen dieses Farbschema ausprobieren. Manche Ideen musste man sich eben teuer erkaufen.

Ich stand auf und torkelte nach Hause.

 

Zum Gruss grOOvekill@,

ziemlich krasse Story! Der Kampf zwischen dem "Verückten" und dem Webdesiger hast du klasse beschrieben. Ich hatte den Kampf bildlich vor Augen, und das passiert mir nicht unbedingt bei jeder Story:D

Die Pointe am Ende finde ich ziemlich gelungen, er bekommt seinen Einfallsreichtum durch eine Shocksituation zurück. Manchmal stumpft man halt so sehr ab, das nur noch ein Schlag auf die Nase helfen kann...!

MFG Odin

Frohe Weihnachten :xmas:

 

Naja, glaubt mir vielleicht jetzt keiner, aber mir ist in der Tat schon etwas ähnliches passiert. Nämlich genau zu einem Zeitpunkt, als ich tatsächlich auf der Suche nach einem Farbschema für eine Website war, die ich entwerfen sollte. Ich denke, daß es manchmal wirklich hilfreich sein kann, extreme Erfahrungen zu machen. Mich hat's damals auf jeden Fall komischerweise auf die richtige Idee gebracht. Auch wenn's nicht ganz so krass war, wie in meiner Story beschrieben. ;)

 

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