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Schizophrenie II

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03.04.2003
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Schizophrenie II

Der Doktor studierte die frisch angelegte Patientenakte kurz, bevor er Sprechzimmer 3 betrat, fand jedoch keinen Hinweis darauf, weshalb der Mann - etwa 30 Jahre alt - ihn aufgesucht hatte. Das kam nur selten vor, in der Regel erzählten die Patienten der Arzthelferin bereitwillig, was sie für ein Problem hatten. Dieser hatte jedoch darauf bestanden, es nur dem Doktor zu sagen.
Der Mann saß auf der Untersuchungsliege. Er hatte kurzes, dunkelblondes Haar und eine Brille. Wirkte etwas nervös. Etwas übergewichtig, wie der Doktor feststellte. Trug einen Pullover mit rot-weißen Querstreifen, die ihn noch dicker aussehen ließen.
„Guten Tag, Herr Seidner", grüßte der Doktor.
„Tag, Herr Doktor", erwiderte der Patient.
„Dann erzählen Sie mal."
„Was soll ich erzählen?"
Der Doktor stutzte. „Na, weswegen Sie mich aufgesucht haben." Er lächelte.Ein geübtes Lächeln, hundertmal am Tag bewährt. „Sonst kann ich Ihnen ja nicht helfen."
„Jaja, helfen...", murmelte der Patient. „Also, ich brauch eine Krankschreibung."
„Aha." Es schien offenbar auf den üblichen Gefälligkeitsattest hinauszulaufen. Andernfalls hätte der Mann zuerst damit herausgerückt, was für ein Problem er habe.
„Ja, was ist denn Ihre Krankheit, wegen der ich Sie krankschreiben soll?" fragte der Doktor nach. Ohne Diagnose ging das nicht, und ohne Diagnose konnte er auch nichts abrechnen.
„Bin impotent", sagte der Mann.
Deswegen also hatte er es der Arzthelferin nicht gesagt. Reflexartig erschien die Liste der Ursachen vor der Doktors geistigem Auge: Stoffwechselstörungen, Krankheiten des Nervensystems, Hormonstörungen, Tumoren, Verletzungen, Alkohol - und psychische Ursachen.
„Aber Sie können mir nicht helfen", sagte der Mann, noch bevor der Doktor etwas dazu sagen konnte.
„Warum sind Sie sich da so sicher?"
„Das ist von denen da so eingefädelt."
Der Doktor verstand nicht. „Denen da oben?"
„Der Ländercode, wissen Sie?"
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden", sagte der Doktor.
„Der Ländercode ist eine Wirtschaftssache", erklärte der Patient. „Die Frauen werden nach Osten hin immer billiger, aber die da oben wollen nicht, daß wir billige Frauen vögeln, sonst gibt das ein Loch im Staatshaushalt. Zuwenig Mehrwertsteuer und Konjunktur und so. Deswegen gibt es den Ländercode. Man darf ihn fünfmal ändern, und dann bleibt das so."
„Fünfmal was ändern?", fragte der Doktor, dem allmählich ein unangenehmes Gefühl beschlich.
„Den Code natürlich. Lesen Sie denn keine Fachzeitschriften?" fuhr der Mann fort. Seine Stimme wirkte auffällig teilnahmslos. „Haben die Bonzen sich so ausgedacht. Ich hab das leider nicht gewußt. Ich hatte fünf Frauen in meinem Leben, und alle kamen aus verschiedenen Ländern. Was ja nicht schlimm wäre. Die fünfte ist die Entscheidende, verstehen sie? Deswegen ist ja auch die Sache mit dem Pentagramm."
Der Doktor überlegte, was er mit seinem neuen Patienten tun sollte. Vielleicht wollte er ja nur ein wenig reden und würde dann von selbst wieder gehen. Das wäre die sauberste Lösung gewesen.
„Also die fünfte war eine Chinesin, verstehen Sie?"
„Eine Chinesin?" wiederholte der Doktor.
„Scheiße, warum glaubt mir keiner?" Auch diese Worte standen im Gegensatz zur Teilnahmslosigkeit, mit der der Mann sie aussprach. „Sie hieß zwar Heike und sah ganz normal aus, aber auf ihrer Handtasche waren chinesische Schriftzeichen. Alles klar?"
Der Doktor nickte halbherzig.
„Hat sich inzwischen auch Schlitzaugen zugelegt", ergänzte der Mann. „Und jetzt ist mein Ländercode auf China eingerastet. Scheiße, was? Wie soll ich hier in Osnabrück ne Chinesin kennenlernen? Ich bin jetzt de facto impotent. Also brauch ich ne Arbeitsunfähigkeitsscheini... bescheinung. Also eine Arbeitsunverfähigkeit."
„Impotenz bedingt aber keine Arbeitsunfähigkeit", versuchte der Doktor zu erklären, und wußte im selbem Augenblick, daß er einen Fehler gemacht hatte.
„Warum nicht?" fragte der Mann. „Impotenz ist doch eine Krankheit, oder?"
„Ja."
„Und wer krank ist, wird vom Doc krankgeschrieben, oder?"
„Ja... - aber nur, wenn man nicht arbeiten kann."
„Wie soll ich denn arbeiten, wenn die mich nicht mehr reinlassen? Ich habs ja versucht, aber die schicken mich am Tor immer weg."
„Wer jetzt?"
„Na die anderen. Die Kollegen. Nur weil Chef mir so ´ne Kündigung geschrieben hat, lassen die mich nicht mehr rein. Die laufen ihm nach wie Hunde. Keine eigene Persönlichkeit."
„Ja, abe wenn Sie gekündigt wurden, dann haben Sie doch..."
„Moment, moment!" fiel der Mann dem Doktor ins Wort. „Meinen Job hab ich noch! Kündigen kann der mich viel, wenn der Tag lang ist, aber ohne Unterschrift vom Arbeitsminister oder Bundeskanzler ist das alles ungültig. Ich kenne meine Rechte, ich lese Fachliteratur! Mich kann man nicht so einfach reinlegen!"
Der Doktor wurde nervös. Er verbrachte zuviel Zeit mit diesem Verrückten, während die anderen Patienten warteten. Nach Paragraph sonundso Pych-KG konnte er ihn eigentlich abholen lassen. Es war sogar seine Pflicht.
„Krieg ich jetzt meine Arbeitsscheinerung oder nicht?" drängte der Mann.
„Ich fürchte, ich kann Ihnen so etwas nicht ausstellen", sagte der Doktor. „Aber ich kann Ihnen..."
„Scheiße!" rief der Mann, und der Doktor zuckte zusammen. „Ich wußte, daß Sie das sagen würden!" Dann ging er zum Schreibtisch und nahm einen Bleistift aus dem Stifthalter. Dem Doktor wurde etwas flau im Magen, doch er zwang sich zur Ruhe. Er war etwas größer als der Verrückte im rot-weißen Pullover, der nicht allzu sportlich wirkte.
„Ihr steckt alle unter einer Decke", sagte der Mann und trat drohend einen Schritt auf den Doktor zu, während er den spitzen Bleistift wie ein Messer ein der Hand hielt, „ich wollt mich fertigmachen."
„Bleiben Sie bitte ruhig", sagte der Doktor, „es gibt keinen Grund..."
„Jesus starb für uns am Kreuz", sagte der Mann und brach den Bleistift entzwei. Er hielt die Teile dem Doktor überkreuzt hin. „Sehen Sie?"
Dann steckte er sich die Bruchstücke in die Nasenlöcher. Er rammte sie mit einer solchen Wucht hinein, daß der Doktor erneut zusammenzuckte.
„Sehen Sie, was Sie aus mir gemacht haben, Sie Arsch!" sagte der Mann, und die Bleistiftenden wackelten bei jeder Silbe. Ein dünner Faden Blut rann aus dem linken Nasenloch in Richtung Unterlippe. Dann ging er am Doktor vorbei hinaus.
Der Doktor sah ihm noch hinterher. Der Mann durchquerte den Flur, ohne daß jemand Notiz von ihm nahm. Nur die Arzthelferin hinter der Theke rief ihm hinterher: „Warten Sie! Sie haben Ihre Krankenversicherungskarte vergessen!"
Als sie ihm hinterherlaufen wollte, hielt der Doktor sie am Arm zurück. „Nicht. Lassen Sie ihn gehen. Ist besser so."
Die Arzthelferin sah ihn mißmutig an. Sie war ein hübsches junges Ding mit langem, kastanienbraunen Haar.
„Wir haben seine Daten, oder?" fragte der Doktor.
„Ja, war ja auf seiner Karte drauf", sagte die Arzthelferin.
„Ich muß das melden. Hoffentlich ist die Adresse noch gültig."
„Was war denn mit dem nicht in Ordnung?"
„Nur ein Problem mit dem Ländercode", murmelte der Doktor gedankenversunken. Und dann: „Essen Sie mit mir heute zu Abend? Der Bundeskanzler und Napolen Bonaparte kommen auch."
„Nur, wenn Napoleon nicht wieder die ganze Zeit über die Vorzüge von Magermilch diskutiert."
„Das wird sich einrichten lassen."
Sie gab ihm einen flüchtigen Kuß, dann gingen sie beide wieder an ihre Arbeit.

 

Gefällt mir ebenfalls sehr gut, bringt mich wirklich zum nachdenken. Ich wüsste gerne, was Du Dir genau dabei gedacht hast, als Du die Geschichte geschrieben hast. Meine Vermutung wäre, dass sowohl der Patient, als auch die Arzthelferin nur in der Phantasie des 'Arztes' existieren. Beim Leser soll der Eindruck entstehen, dass es sich um reale Personen handelt und das der Patient 'verrückt' ist. Allerdings gibt es 2 Anhaltspunkte, die dem widersprechen. Wenn der Patient tatsächlich existiert, warum nimmt ihn nur die Arzthelferin wahr, als er die Praxis verlässt, obwohl ein Bleistift in seiner Nase steckt und er blutet. Das finde ich sehr seltsam. Außerdem reden sowohl der Arzt, als auch die Arzthelferin am Ende der Geschichte 'wirres Zeug'. Ist der Arzt in Wirklichkeit gar kein Arzt, sondern selbst der 'Irre'? Befindet er sich in einer Irrenanstalt oder sonst wo und nicht in einer Praxis? Ist der Patient ein Symbol für seine eigene Verwirrtheit? Ist die Arzthelferin ein Symbol für seine Wünsche, Träume? (Sie ist hübsch, versteht ihn, küsst ihn). Liegt wahrscheinlich meilenweit daneben, aber das war mein Eindruck.

 

Hallo relysium,

ich habe mich angesichts der Titel erst lange davor gedrückt, die Geschichten zu lesen, und als ich sie dann schon vor einiger Zeit gelesen habe, auch lange gedrückt, etwas dazu zu schreiben.
Das hat allerdings eher persönliche Gründe, als welche, die in deinen Geschichten zu suchen wären.
Die erste ist besteht mir für den Titel zu sehr aus Assoziationsketten, wo doch die Schizophrenie eher eine dissoziative Störung ist.
Das kommt in Schizophrenie II viel besser raus. Da ist der Protagonist völlig getrennt von sich selbst, und isoliert von seinen Wahrnehmungen.
Das hast du gut und zum Nach- und Weiterdenken anregend beschrieben.
In beiden Geschichten hast du, und dafür bin ich dir sehr dankbar, die teilweise absurd anmutenden Gedankengänge beschrieben, ohne den Protagonisten der Lächerlich zu machen.

Lieben Gruß, sim

 

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