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Schimmel

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10.08.2001
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Schimmel

Seine erste Erinnerung hatte er von seiner Geburt. Er war geborgen im Dunkel, es war warm dort, wo er vorher existierte. Doch auf einmal kühlte es ab, und er musste sich seinen Weg freikämpfen, von keiner Wehe unterstützt, durch den Bauch seiner Mutter. Überall war Schimmel, als er seine Hände betrachtete, und er blickte zurück, und seine Mutter lag ruhig da, und sie blutete still schwarzes Blut.
Wo immer er war, dort war auch der Schimmel. Sein Kinderzimmer im Waisenhaus war verschimmelt. Die geweissten Wände hatten grüne, haarige Flecken, der Teppichboden war weiss und flauschig vor Schimmel, und das übergrosse Mobile über seinem Bettchen krachte eines Nachmittages auf den Kopf der Schwester, die sein Bettchen zu machen im Begriff war, wobei sie Kopfverletzungen erlitt, die sie für den Rest ihres Lebens behindert hinterliessen. Es stellte sich heraus, dass der Haken aus der Decke herausbrach, weil sie derartig verschimmelt war, dass sie keinen Halt mehr bot.
In diesem Heim lernte er ein Mädchen kennen, welches seine spätere Ehefrau werden sollte. Es war von seiner schüchternen Art fasziniert, und sie heirateten, sobald sie beide das 18. Lebensjahr erreicht hatten und mündig wurden. Es war auch die Zeit, als sie beide gemeinsam das Heim hinter sich liessen und in ein neues Leben aufbrachen, welches darin bestand, unter Brücken zu hausen. Sie ernährten sich von Müll, der verschimmelt war, und unterhielten sich mit Pennern, die verschimmelt waren. Es war eine herrliche Zeit für ihn.
Doch er begann sich für seine Familie zu interessieren, und er begab sich auf Ämter, um die Menschen zu fragen, und es stellte sich heraus, dass Grosseltern von ihm noch lebten. Und er machte sich auf, sie in dem kleinen Haus abseits der Strasse zu besuchen, doch blieb er nur kurz da, denn sein Grossvater verjagte ihn schnell wieder. Aber er sah die dunklen Flecken auf der Wand in dem Haus, und er war zufrieden.
Ein Jahr später starben seine Grosseltern, im Abstand von zwei Wochen, an einer Vergiftung.
Er war der einzige Erbe, der gefunden wurde, und so liess er sich mit seiner Frau im Alter von 21 Jahren nieder, und begann sein bürgerliches Leben.
Die Arbeit, die er fand, führte ihn auf die Müllkippe, wo er den Müll zusammenschob, und gelengtlich auf Laster lud, die ihn in der Verbrennungsanlage fuhren. Es schien die ideale Betätigung für ihn zu sein, wie sein Vorgesetzter einmal gegenüber seiner Frau bemerkte. Dies war, als er 24 war, und zu dieser Zeit sah man sie von Zeit zu Zeit ins Dorf gehen, um im Laden Lebensmittel zu kaufen, doch nach einem Jahr wurde sie immer seltener gesehen, bis sich irgendwann niemand mehr entsinnen konnte, sie kürzlich gesehen zu haben. Das Seltsame war, dass man auch ihn nicht beim Einkaufen traf, und hätte er nicht seine Arbeit, wäre er vergessen worden.

Seine Brille schimmelte. Dieser Umstand fiel sogar seinen Arbeitskollegen auf, denn wenn man genau hinsah, konnte man einen Rasen erkennen, der die Brillenränder bewuchs. Seine Augen waren ständig geschwollen und gerötet, wohl deshalb, weil die Sporen auf seine Augen flogen und sich dort anzusiedeln suchten. Seine Kleidung war natürlich auch verschimmelt, sie roch ständig muffig und fühlte sich feucht an. Sein Haupthaar war weiss, doch manchmal zeigte sich eine grüne Strähne hierin, und seine Kollegen riefen ihn dann immer "Punk", doch er grinste nur verschämt und schaute weg.
Die Wände in seinem Haus waren auch alle verschimmelt. Es gab keinen Raum im Haus, wo sich kein blau-weisser Teppich auf den Wänden und der Decke zeigte, und wo er nie entlang ging, war dieser Teppich auch auf dem Boden zu sehen. Sein Sofa war verschimmelt (doch war es sowieso nutzlos, da er noch nie irgendwelche Gäste gehabt hatte), genauso wie sein Lieblingssessel, wo er sich immer niederliess, um sein Haus zu betrachten, denn der Fernseher war schon lange nicht mehr funktionstüchtig.
Sein Kühlschrank war übrigens auch verschimmelt, doch war es nicht wichtig, denn solange sich er Schimmel nur auf den Vorräten niederliess, wurden diese nicht schlecht.
Und so vergnügte er sich den ganzen Tag damit, im Haus zu sitzen und den Schimmel zu geniessen, und diese Atmosphäre in den Räumen, wo nur dämmriges Zwielicht herrschte, und die Feuchtigkeit und Wärme ihm schmeichelten. Er war glücklich, denn er hatte den Zustand erreicht, den er so lange, seit seiner Geburt, entbehren musste.
Nur wenn er das Schlafzimmer betrat, empfand er eine gelinde Traurigkeit, und er wusste nicht warum, denn dem Schimmel, welcher den Körper seiner Frau überwucherte, ging es augenscheinlich prächtig.
Doch natürlich hat auch diese kleine Geschichte ihr Happy-ending. An seinem 28. Geburtstag (es war ihm bloss nicht bewusst, dass er soeben dieses Lebensalter erreicht hatte) stolperte er über eine Schwelle im Haus, die in dieser Form vorher nicht dort sich befand, jedoch hatte der Schimmel einiges Holz zerfressen, so dass es sich aus der Vernagelung hochwölbte. Dabei riss er sich einen Holzsporn in den Zeh, da seine Schuhe selbstverständlich schon lange weggeschimmelt waren und keinen Schutz mehr vor solchen Zufälligkeiten boten. Die verletzte Stelle tat ihm mörderisch weh, da er auch seit langem keinen Schmerz mehr verspürt hatte, er war ja geborgen in seiner Höhle, welche sich "Haus" nannte. Doch schon nach einigen Stunden verging der Schmerz, und eine wohlige Kühle, die immer wieder von einer wohligen Wärme abgelöst wurde, machte sich in seinem Zeh breit. Über nacht wanderte dieses Empfinden das Bein hoch, und als er morgens die Decke zurückschlug, war das ganze Bein dunkel angelaufen. Seine schmerzverzerrte Grimasse machte langsam einem seeligem Lächeln Platz, als diese Taubheit ihren Weg durch den restlichen Körper nahm, und er fühlte, wie die Fäden in seinem Körper wuchsen und sich ausbreiteten, und der Schimmel, welcher ihn sein ganzes Leben behütet hatte, sich langsam seinen Körper nahm, der doch von Geburt an diesem Schimmel gehört hatte ...

 

Selten eine so ungustiöse, ekelhafte Geschichte gelesen, die in mir einfach nur ein leichtes Würgen ervorrief. Mit anderen Worten: Gute Geschichte!
Schade, dass seine Frau so rasch, äh, verschimmelte, ich hätte gerne mehr von ihrem Eheleben erfahren. vor allem natürlich, was so im Bett ablief. Aber gut, du bist der Autor, du entscheidest.

Der Schluss kommt nicht wirklich überraschend, aber das ist in diesem Fall kein Nachteil, weil nur konsequent. Ich denke, es war für alle Beteiligten am besten so. Und unser "Held" dürfte sich ja im Siebten Schimmel wähnen, oder?

 

Danke für die Kritik! Aber was heisst ungustiös? Habe keine Lust jetzt, nachzukucken.

Meinst du, dass der Ehefrau noch mehr Raum eingeräumt werden könnte? Ich habe mir da keine grossen Gedanken drüber gemacht, und finde das selber auch nicht wichtig. Hauptsache, sie verschimmelt! :D

 

Ich weiß ja nicht wie´s bei dir zu Hause aussieht, aber Schimmel finde ich persönlich reichlich Uahh, Kotz, Würg - alles klar?!?

Wahrscheinlich war es konsequent, dass die Frau verschwunden ist. Jetzt ist unser Held ja schließlich ein Schimmel, also ein Pilz, und Pilze vermehren sich durch Sporen. Da braucht man keine Frau... :D

 

Sie ernährten sich von Müll, der verschimmelt war, und unterhielten sich mit Pennern, die verschimmelt waren.
Toll!

Es war eine herrliche Zeit für ihn.
Kann ich verstehen.

Seine Brille schimmelte. Dieser Umstand fiel sogar seinen Arbeitskollegen auf, denn wenn man genau hinsah, konnte man einen Rasen erkennen, der die Brillenränder bewuchs. Seine Augen waren ständig geschwollen und gerötet, wohl deshalb, weil die Sporen auf seine Augen flogen und sich dort anzusiedeln suchten. Seine Kleidung war natürlich auch verschimmelt, sie roch ständig muffig und fühlte sich feucht an. Sein Haupthaar war weiss, doch manchmal zeigte sich eine grüne Strähne hierin, und seine Kollegen riefen ihn dann immer "Punk", doch er grinste nur verschämt und schaute weg.
Absolut widerlich! Sehr gut!

Doch natürlich hat auch diese kleine Geschichte ihr Happy-ending.
An diesem Satz störe ich mich. In Deutschland könntest du auch ruhig "Happy-End" sagen, das ist gesellschaftlich akzeptiert.

stolperte er über eine Schwelle im Haus, die in dieser Form vorher nicht dort sich befand
Wirkt ungelenk. Fast jedes Wort im Relativsatz steht an der verkehrten Stelle.
"die sich dort in dieser Form vorher nicht befand" klingt richtig.
Kann natürlich auch Absicht gewesen sein, das steht dir frei.

Ansonsten: Passender Sprachstil (irgendwie "märchenhaft")

Klasse Story!
Hat mir sehr gut gefallen! :thumbsup: :thumbsup: :thumbsup:

 

Hehe, da hat der Leif aber eine alte schimmlige Geschichte ausgegraben.

Beim Lesen musste ich sofort an AZ denken. Deswegen gefällt sie mir auch. :D
:thumbsup:

 

Hmm, ja, das mit der Wortstellung habe ich wohl etwas verdreht, unfreiwillig eher (das ändere ich bei meiner Version zu Hause - du darfst dich weitherin daran stören). Freut mich, dass euch beiden der Text gefallen hat!

 

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