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Schicksalsschlag
Ich sehe in den Spiegel und betrachte meine klägliche Gestalt, diese erbärmliche Erscheinung, die sich mein „Selbst“ nennt.
Wie ich es verabscheue, dieses „Selbst“.
Der Gedanke, auf ewig in diesem „Selbst“ gefangen zu sein. Als wäre es eine Schale, aus der herauszubrechen keine Möglichkeit bestünde.
Viel länger vermag ich es nicht auszuhalten, so verspüre ich doch schon des Längeren den stechenden Drang, endlich herauszubrechen aus dieser einengenden Hülle, die mich erstickt und die mich einsperrt mitsamt den Nichtigkeiten eines solch mickrigen Dinges, wie die Seele eines Menschen.
Denn was ist das schon, diese Seele? Ist sie denn wirklich mehr als lediglich ein Ding, ein Sammelsurium aller guten und schlechten Erfahrungen, die ein Mensch macht? Was ist sie mehr als ein schlechtes Buch, das die alltäglichsten, banalsten Widerlichkeiten der Welt enthält? Und jeden Tag wird dieses Buch aufs Neuste aufgeschlagen, so, als würde irgendetwas Neues darin stehen.
Da frage ich mich: Welch’ Dreistigkeit besitzt der Mensch, zu behaupten, er sei ein komplexes Wesen, angesichts dieses tristen Daseins, das der Mensch führt? Wäre er komplex, so könne er doch mehr tun als fortwährend dasselbe Buch aufzuschlagen, so, als wäre er ein Mechanismus, der immer dem gleichen System zu folgen hat. Es ist wie ein Teufelskreis, dem man nicht entfliehen kann.
Ekel kommt mir auf, wenn ich mir all das vor Augen führe, und Abscheu; herausreißen könnte ich mir meine Seele!
Wäre dies möglich und würde ich dies auch tun, so würde mir wohl meine Individualität abhanden kommen, doch was schert es mich?
Individualität!
Nichts weiter ist sie als eine Farce; eine Einbildung des Menschen, welche erwachsen ist aus dem verzweifelten Sehnen ebenjener, eine solche Individualität möge bestehen, und will mir irgendeiner behaupten, dass Sehnsucht die Wahrheit bringe oder gleich Wahrheit sei?
Nein, der Mensch ist eine Marionette. Eine Marionette des Schicksals, und das wird mir klar, nun, da ich vor diesem Spiegel stehe, welcher mir eine Lüge offenbart.
Diese Lüge öffnet mir gleichzeitig die Augen für die niederschmetternde Wahrheit, die mich soeben meiner ganzen individuellen Existenz beraubt hat.
Es ist das Schicksal, das mir meine Individualität verleiht, insofern muss ich zugeben, dass sie wahrlich existiert, doch sie tut es anders, als wir denken.
Mir durch eigenes Zutun also ein Selbst zu bilden, es zu formen und es im Laufe der Zeit immer weiter auszubauen wie ein Bauwerk oder ein Gemälde, das immer weiter voranschreitet, mal langsamer, mal schneller - das ist mir nicht gegeben. Keinem von uns!
Wie kann ich da überhaupt noch von einem „Selbst“ sprechen? Wenn das Bauwerk schon gedacht ist, bevor ich überhaupt lebe?
Folglich bin ich nicht mal im Recht oder überhaupt in der Lage, ein „Selbst“ zu verabscheuen, es zu verfluchen.
Nein nein, die Hülle - die Schale - die mich einsperrt, mich meiner Freiheit beraubt und die mir die Banalität eines menschlichen Daseins aufzwingt – das ist nicht mehr länger das „Selbst“, sondern es ist vielmehr das Schicksal.
Verabscheuen muss ich jenes ...
Sehe ich nun in den Spiegel, so kann ich auch jetzt die klägliche Gestalt, die erbärmliche Erscheinung erkennen, die mich so quält, doch ich vermag mich zu trösten: ich kann nichts dagegen tun, denn es nicht mein „Selbst“, das ich in dem Spiegel vor mir sehe.
Es ist nur ein Bauwerk des Schicksals ...
Doch, wenn ich den Gedanken vollends zu ende denke, wird mir etwas bewusst:
Trotzdem bin „ich“ es, der in diesem Bauwerk leben muss. Und so, dessen bin ich mir sicher, habe ich nur eine Wahl ...
Aber ich fürchte, nicht mal mehr der Tod kann mich aus den Fesseln dieser Wahrheit befreien.
Es wäre bloß mein Schicksal ...