Schicksalsfahrt
Fjodor Smirnow war im Sommer 1988 einer der letzten nach West-Berlin einschleusten KGB-Spione. Der Enddreißiger lebte einfach und zurückgezogen in einer modrigen Einzimmer-Wohnung in Steglitz. Sein Deckname war Thomas Lorenz. So nannten den Physiker auch Kollegen von der Forschungsgruppe an der Berliner Universität. Freunde hatte Smirnow keine. Keiner in seiner Umgebung schöpfte jemals Verdacht. Er war einer der besten KGB-Agenten. Ein Mann mit jahrelanger Erfahrung.
Smirnow fühlte sich häufig einsam. Seine Frau musste mit dem kleinen Sohn in Moskau bleiben. Aus Sicherheitsgründen.
Maria lernte Smirnow auf einer Tagung kennen. Er glaubte nicht an die Liebe auf den ersten Blick und suchte auch sonst nicht die Nähe einer Frau. Doch irgendetwas faszinierte Smirnow an der jungen Doktorandin.
-Darf ich Sie nach Hause begleiten?, fragte er.
- Ich wohne in Schönefeld, sagte sie.
Er brachte sie bis vor die Haustür und verabschiedete sich höflich. An diesem Abend verspürte Smirnow zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Berlin ein Glücksgefühl. Er war zum zweiten Mal in seinem Leben verliebt.
Seitdem sahen sich Smirnow und Maria täglich. Er war ihr erster Mann. Sie stellte ihm keine Fragen. Sie wusste nichts davon, das Fjodor ein Geheimagent war. Sie kannte nicht einmal seinen richtigen Namen.
Im Frühjahr 1989 erhielt Smirnow den Abberufungsbefehl. Schon am nächsten Morgen sollte er von Sperenberg aus mit einem Militärtransport zurück nach Moskau fliegen. Neues Einsatzziel: Polen – stand in dem kurzen Telegramm.
Maria wartete schon auf Smirnow. An diesem Tag wirkte sie glücklicher als sonst.
- Ich bin schwanger. Wir kriegen ein Mädchen, sagte sie fast schüchtern.
Ihre Augen leuchteten.
Smirnow ließ sich nichts anmerken. Als er gegen Mitternacht ging, wußte er, dass er Maria nie mehr wiedersehen wird.
* * *
Zwei Jahre lang wartete sie auf Smirnow. Dann beschloss Maria endgültig, mit dem alten Leben abzuschließen, wechselte sogar ihren Namen.
Sie heiratete einen Bankier und zog mit der kleinen Anna nach Friedrichshain.
Anna dachte sehr oft an ihren Vater. Jahrelang versuchte sie seine Identität zu erfahren. Vergeblich. Das Einzige, was sie von ihrem Vater hatte, war ein kleines vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto, das Smirnow beim Abschied ihrer Mutter gegeben hatte. Sie trug es immer bei sich. Die Hoffnung, ihren Vater jemals zu treffen, hatte sie aufgegeben.
Ihren Schmerz vergaß sie hinter Büchern. Anna war immer die Klassenbeste. Sie studierte Medizin und arbeitete nach dem Abschluss als Assistenzärztin in der Kardiologischen Abteilung des städtischen Klinikums.
An diesem Tag stieg Anna wie gewöhnlich um 7:23 Uhr morgens in die U-Bahn Richtung Potsdamer Platz. Sie fuhr immer schon sehr früh zur Arbeit. Die Bahn war überfüllt. Es war stickig und warm.
Plötzlich hörte Anna aufgeregte Schreie vom anderen Ende des Waggons.
- Hilfe, schnell. Ist hier irgendjemand Arzt?
Anna eilte durch die Massen der Passagiere. Ein grauhaariger alter Mann lag bewußtlos am Boden. Als sie sich über den Bewußtlosen beugte und in sein Gesicht sah, stockte Anna der Atem. Sie erkannte ihren Vater wieder.
Smirnow wurde in ein nahegelegenes Krankenhaus eingeliefert. Als er sich gegen Abend von seinem Schwächeanfall erholte, durfte Anna endlich zu ihm. Sie brach in Tränen aus, als sie ihm das verknitterte Foto zeigte.
Smirnow nahm seine Tochter zum ersten Mal in seinem Leben fest in den Arm.
- Ich habe all die Jahre nie die Hoffnung aufgegeben, dich zu treffen, sagte er.