Schicksal
Die Nacht umgab das Gelände am Hafen. Aus der Ferne waren leise vorbeifahrende Schiffe zu hören und die dicken Gewitterwolken am Himmel gaben bereits entfernten Donner von sich. Es herrschte fast perfekte Dunkelheit, eine Gegebenheit, die sich einer der vielen Schatten zu nutzen machte. Fast geräuschlos gelangte er bis zu dem dicken Drahtzaun, der das Industriegelände umschloss. Metallenes Knacken war zu hören und kurz darauf war ein Loch, groß genug für einen Menschen, zu erkennen. Der Schatten schlüpfte hindurch und verschwand in Richtung der sich gegen den Nachthimmel abzeichnenden Gebäude.
„Wagen 17, bitte kommen. Hey John, melde dich“, krächzte eine weiblich Stimme aus dem Lautsprecher des alten Streifenwagens.
„Hier Wagen 17, was gibt’s denn jetzt schon wieder?“
„Dein Partner hat gerade angerufen. Du sollst ihn heute nicht wie üblich bei Obi Wan’s abholen, sondern bei Sheila. Kennst Du die Adresse?“
Was für eine Frage, natürlich kannte er die Adresse. Es kam schließlich häufiger vor, daß er seinen alten Kumpel nicht an der für Polizisten üblichen Sammelstelle abholen sollte, sondern bei dessen Freundin oder wie auch immer er sie bezeichnen mochte, einzusammeln hatte. „Ich kenne den Weg. Danke Julia. Sag’, was machst heute Abend? Wir könnte vielleicht zusammen essen gehen.“
„Du gibst wohl nie auf“, war die einzige Antwort, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.
„War ja auch nur ein Versuch“, murmelte John vor sich hin. Er wendete. Um zu Sheila zu kommen mußte er durch den ganzen gottverdammten Hafen fahren und das ihm, wo er doch diese Gegend auf den Tod nicht leiden konnte. Natürlich kannte er die Ursachen für seine Abneigung. Es war seine Kindheit, klischeehaft wie er fand, aber dennoch wahr. Es ist noch gar nicht so lange her, da mußte sein Vater jeden Tag dort hin und schuftete sich den Rücken wund. Er war ein anständiger Mensch, ehrlich und hart arbeitend um seine Familie zu ernähren. Er steckte voller Ideale und Lebensweisheiten und dennoch ist er nie über den Status eines Hafenarbeiters hinweg gekommen. Prinzipiell war damit auch alles in Ordnung, doch ein Ereignis sollte ihrer beider Leben verändern beziehungsweise beenden. Es geschah völlig unvorbereitet. Bewaffnete Männer stürmten die Lagerhalle in der unteranderen auch sein Vater arbeitet, sie schossen auf alles was sich bewegte. Keiner wurde verschont, bis auf den Vorarbeiter. Diesen verstümmelten sie und ließen ihn als Zeugen zurück, damit er der Welt erzählen konnte was passiert war. Doch die Hintergründe wurden nie geklärt und das Verfahren erstaunlich rasch eingestellt. Etwas das John Spartakus nicht verstehen konnte und auch nicht wollte. Er beschloß in den öffentlichen Dienst zu treten. Haß und Gerechtigkeitsideale begleiteten ihn durch seine Ausbildung zum Polizisten und er schwor sich das Verbrechen in allen seinen Formen zu bekämpfen. Heute lächelte er nur noch über seine damalige Naivität. Der Großteil seiner Polizeiarbeit bestand darin Penner von den Bahnhöfen zu verweisen oder minderen Ordnungsdelikten nachzulaufen. Die wahren Verbrecher erwischte man so gut wie nie. Wenn er heute auf seine Ausbildungszeit zurückblickte, dann mußte er sich immer wieder mit Batman vergleichen. So sehr ähnelte er dieser Comicfigur in seinen Idealen und Träumen und was war daraus geworden? Er mußte sich der Realität stellen und einsehen, wie die Wirklichkeit tatsächlich ist. Hart und Gemein. Aber es gab ja auch Lichtblicke in der faden Tristheit des Alltags. Lächelnd blickte er auf das Foto von Julia an seiner Sonnenblende.
In das Gebäude hinein zu gelangen war erstaunlich leicht gewesen, so empfand zumindest der Schatten, der mittlerweile in dem schwachen Neonlicht als eine ganz und gar schwarzgekleidetet Person zu erkennen. Das Dach war mit dem Kletterhacken schnell erreicht und auch das Dachfenster stellte für den Glasschneider kein Problem dar. Es war verblüffend, wie wenig gesichert doch die Anlage war. Immerhin handelte es sich um das wichtigste Forschungszentrum für die hier ansässige Mafia. Entweder waren sie sich so sicher, daß hier niemand einbrechen würde oder es handelte sich um eine Falle und die Berichte über die neu entworfene Droge war der Köder. Die Gestalt befreite sich von ihrem unnötigen Ballast und auch von ihrer Maske. Es war ohnehin zu warm um hier drin eine Wollmütze zu tragen. Zum Vorschein kam eine junge, blonde Frau Mitte 20. Eine Rarität im Agentengeschäft. Zu einem war sie noch recht jung und zum anderen würde man in ihr nie jemanden der Eliteeinheit des staatlichen Geheimdienstes erkennen, sofern man sie nicht bei solch eindeutigen Gelegenheiten wie dieser beobachtete. Ihr Name war Laura Woodsmith, ihr Auftrag, Beweise für die Entwicklung einer neuen süchtigmachenden Droge zu finden. Und sie war auf dem besten Wege auch genau dieses zu erreichen. Das einzige was jetzt noch zu tun blieb, war das Labor zu finden, die Droge zu lokalisieren und das Gebäude eventuell zu vernichten. Den Rest würden dann die Behörden machen und den ganzen Laden inklusive der dahinterstehenden Verantwortlichen, die schon seit langem bekannt waren, man ihnen aber bis dato nichts anhängen konnte, hochnehmen. Eigentlich ein Routinejob, dachte Laura ironisch, als sie vorsichtig den vor ihr liegenden Gang hinunter schlich.
Der Hafen war um diese Zeit des Tages schlicht und einfach tot. Die Hafenarbeiter waren schon lange nach Hause gegangen und selbst die Matrosen mit Landurlaub waren mittlerweile in ihrem Suff eingepennt. Nur das einsame Licht des Streifenwagens kündigte noch von Leben in dieser Region der Stadt, als dieser auf seinem Weg durch dieses Gebiet passierte.
John wußte genau, daß ihm nichts passieren würde, doch immer wieder überkam ihn dieses Gefühl von panischer Angst. Es war keine konstante Angst, sonder immer nur periodisch, aber dennoch oder gerade deswegen wünschte er sich schnellst möglich diesen Ort wieder zu verlassen. Zynischer Weise fiel ihm gerade jetzt ein Buch wieder ein, daß er einmal in der Schule gelesen hatte. Im Philosophieunterricht um genau zu sein. An den Titel konnte er sich nicht mehr erinnern, doch eins der Themen, daß es behandelte, kam ihm nur zu deutlich in den Sinn. Der Hedonismus. Die philosophische Lehre, die das Streben nach Sinnenlust und Genuß zum höchsten Prinzip erhebt. In ihm steckte vieles, daß er sich bis heute noch nicht so recht klar machen konnte. Natürlich ist der egoistische Trieb des Menschen dem Hedonismus gleich, da man am liebsten immer so handeln würde, daß es einem persönlich Lust oder Genugtuung beschert. Doch sollte man dies als das höchste Prinzip ansehen? Was wäre, wenn jeder nur so leben würde, daß er allein befriedigt ist? Es gäbe keine funktionierende Gesellschaft, jeder würde für sich alleine leben und an Zivilisiertheit wäre erst gar nicht zu denken. Nein, es konnte nicht sein, daß der Hedonismus das höchste aller Prinzipien sein sollte. Würde er sonst zu dieser Zeit durch den ihm so verhaßten Hafen fahren? Nein, gewiß nicht. Wäre er so egoistisch wie der Hedonismus verlangte, würde er jetzt an irgendeinem Imbiß sitzen, seinen Partner anrufen und ihm erzählen, er solle gefälligst seinen Arsch in Bewegung bringen und sich zu ihm begeben. Sein gesamtes Handeln und sein Dasein wurden vielmehr von utilitaristischen Gründen beherrscht. Sein immer noch von Idealen beherrschtes Leben, führte ihn zwangsläufig dazu. Das Ziel des Lebens sollte es sein durch Handlungen Freude und Glück zu mehren und das Gegenteil, Schmerz und Leid, zu mindern, doch nicht auf eine egoistische Weise. Der Utilitarismus bezieht sich hierbei auf jegliche Handlungen und zwar nicht nur auf den Handelnden selbst, sondern auf alle Betroffenen. Eigene Wünsche und Interessen stehen dabei im Einklang mit dem Wohlergehen der Allgemeinheit. Es wird möglich Gut und Böse zu trennen, denn Gut ist die Handlung, deren Folgen dem Wohl aller Betroffenen am besten dient und hierbei wird das allgemeine Glück zum Antrieb für das wohlfahrtgefällige Handeln des einzelnen. Dies sollte das höchste Prinzip sein, dachte sich John. Doch kam ihm sofort die Frage, ob dieses Prinzip je eingehalten werden konnte, bei dem Weg den die Menschen momentan beschritten. Er wußte es nicht. Zumindest hatte er die Gewißheit etwas Wohltätiges für die Allgemeinheit zu tun, indem er ein ehrlicher Polizist war und bleiben würde. Jemand der nicht zögerte das „Böse“ zu bekämpfen, koste es was es wolle.
Laura hatte tatsächlich das Labor ausfindig machen können und sie war auch das erste Mal auf gewisse Schwierigkeiten gestoßen. Das Labor war besser abgesichert gewesen, als sie es nach ihrem bisherigen Eindruck erwartet hatte. Lichtschranken, ein Magnetschloß und eine Paßwortkombination hatten ihr kurzzeitig das Leben echt schwer gemacht, doch mit der modernen Technik von heute und dem exzellenten Equipment des Geheimdienstes war es ihr möglich auch diese Hürde erfolgreich zu meistern. Das einzige Problem, welches ihr jetzt noch Sorgen bereitete, war das Finden der Unterlagen und des Prototyps des Stoffes, bevor der vermeintliche Kontrollposten auf seinem Rundgang hier vorbei kam und sie entdeckte.
Die Suche zog sich hin. Zeit war in diesem Gewerbe ein nicht zu bezahlender Luxus und Laura wußte das. Entweder würde sie bald fündig oder sie mußte hier mit leeren Händen wieder raus. Sie schenkte dem Ordnerkabinett vor ihr noch einen letzten Blick, als ihr eine kleine Unebenheit in der Wand auffiel. Kaum sichtbar und nur zu entdecken, wenn man sich bemühte danach zu suchen. Vorsichtig tastete Laura die Unebenheit ab und entdeckte einen Spalt der sich in quadratischer Form entlang der Wand zog. Mit etwas Geschick und dem Hebel ihres McGyver-Messers, wie sie es liebevoll nannte, ließ sich eine 50 quadratzentimeter große Platte herausheben und zum Vorschein kam ein kleiner Kühlschrank. „In medias res - kommen wir also gleich zur Sache“, entwich es Lauras sanften Lippen. Sie öffnete die kleine Tür und wie erwartet, befanden sich einige Röhrchen voll mit blauer, fluoreszierender Flüssigkeit und der netten Aufschrift VT 16 in dem dahinter liegendem Kühlfach. Genau das, wonach ich gesucht habe, dachte sie und stopfte die Röhrchen in ihren Rucksack. Alles was jetzt noch zu tun blieb, war zurück zu dem Dachfenster zu gelangen und schon wäre sie über alle Berge. Hoffentlich.
Laura ging zurück zur Tür, nachdem sie alles so wieder herrichtete, wie sie es vorgefunden hatte. Ein letzter Blick bestätigte ihr, daß alles in Ordnung war. Sie öffnete die Tür und ein schrilles Sirenengeräusch war zu hören. „Scheiße“, fluchte sie und begann zu laufen. Bis zu dem Fenster war es gar nicht so weit, ließ man mal außer Acht, daß sie nur zwei Stockwerke zu überwinden hatte und das war voraussichtlich noch der einfache Teil. Sie hörte Rufe hinter sich, als sie gerade die Treppen hochjagte. Ein Blick über die Schulter bestätigte ihr, daß die Verfolgung ihrer Person bereits durch mindestens zwei recht trainiert aussehende Wachleute aufgenommen wurde. Jetzt galt es ihren Vorsprung zu wahren und schleunigst von dem Gelände zu verschwinden.
Geschickt hangelte sich Laura an dem Seil hoch und entschwand durch das Fenster. Gerade noch rechtzeitig wie sie bemerkte, denn schon schlugen schwere Geschosse neben ihr ein. Sie zog das Seil hoch, schließlich wollte sie nicht, daß ihr irgendjemand folgte und sie braucht es auch um an der Häuserwand wieder herunter zu kommen. Ihr Fluchtweg war klar. Sie hatte das Gelände vorher sondiert und dabei herausgefunden, der günstigste Fluchtweg war durch die Kanalisation. Dafür mußte sie nur schleunigst den Zaun passieren, dann die Straße kreuzen und schon würde sie im Labyrinth der Abwasserkanäle dieser so beliebten Großstadt verschwinden. Ein Kinderspiel eigentlich. Sie zog ihre Waffe.
„An alle Einheiten in der Nähe des Hafens“, dröhnte es aus Johns Funkanlage. „Es wurde soeben ein Einbruch bei Mellner & Brasch gemeldet. B7 Ecke Marxstraße. Ich wiederhole, Einbruch bei Mellner & Brasch, B7 Ecke Marxst...“
John konnte es kaum glauben. Immer hatte er so ein Glück. Er hatte es förmlich geahnt, daß etwas passieren würde und jetzt so etwas. Das Gelände von dem die Rede gewesen ist, war keine 2 Blocks entfernt von seinem momentanen Standpunkt. Er schaltete das Blaulicht an und gab Gas.
Laura konnte die Sirenen schon hören und für ihren Geschmack waren diese viel zu nah. Doch Momentan hatte sie noch andere Probleme. Wie aus dem nichts waren mehrere Wachleute aufgetaucht und hatten das Feuer auf sie eröffnet. Gott sei dank waren allesamt miserable Schützen, doch änderte dies nichts an ihrer miserablen Lage. Sie mußte aus ihrer Verschanzung herauskommen und weiter Richtung Kanalisation. Ihre Finger brachten einen dosenförmigen Behälter zum Vorschein. Ein kurzer Handgriff und ein Zischen waren zu hören. Kurz darauf flog der Behälter in Richtung Wachleute und ließ ein penetrant gelbes Gas ausströmen. Das war Lauras Chance. Sie fing wieder an zu rennen.
John konnte Schüsse hören, die abrupt aufhörten und in ein wildes Geschrei übergingen. Er fragte sich was in aller Welts Namen da vor sich ging. Er hielt beim Zaun an, stieg aus und zog seine Dienstpistole. Es war fast nichts zu erkennen, so dunkel war es und regnen würde es auch jeden Moment, denn die Gewitterwolken hatten den Hafen nun vollständig erreicht. Plötzlich sah er einen Schatten am Zaun. Eine Person sprang förmlich durch ein Loch im Zaun, das er jetzt erst bemerkte. Scheiße, dachte John und richtete die Waffe auf die sich schnell nähernde Person. Völlig unterbewußt nur nahm er wahr, daß es sich um eine Frau handelte, die dort vor ihm lief. “Polizei! Bleiben sie stehen“, war alles was ihm im Moment in den Sinn kam.
Laura sah den Polizeiwagen zu spät. Sie hatte sich völlig auf ihre Verfolger hinter sich konzentriert, so daß sie nicht bemerkte was vor ihr geschah. Sie blieb stehen, warum wußte sie selber nicht, und betrachtete sich ihr Gegenüber. Ein Polizist, allein. Er war fast noch ein Kind, nicht älter als 22 und er richtete eine Waffe auf sie, so wie sie auf ihn. Es war ein Reflex, der sie selbst schützen sollte. Sie sahen sich in die Augen. Es begann zu regnen. Plötzlich und ohne Vorwarnung. Als wäre die Sintflut ausgebrochen. Innerhalb weniger Momente waren beide bis auf die Knochen durchnäßt, doch der Blick währte noch immer. Keiner schien den anderen durchschauen zu können oder zu sehen ob er schießen würde. Eine Ewigkeit verstrich. Plötzlich krachte ein Schuß hinter Laura. Sie drehte sich um und feuerte. Ein brennender Schmerz in ihrer Lunge ließ sie sich wieder umdrehen. Sie sah den Polizisten vor sich, den rauchenden Revolver in der Hand und mit Entsetzen in seinen Augen. Dann wurde es dunkel um sie.
John blickte auf seine Waffe. Er hatte nicht schießen wollen, doch ihm blieb keine Wahl. Wahrscheinlich hatte sie einen der Wachmänner erwischt und es war seine Aufgabe sie zu stoppen. Seine Pflicht als Polizist und seine Verantwortung der öffentlichen Sicherheit gegenüber. Er hatte richtig gehandelt in dem er eine gefährliche Kriminelle erschossen hatte, doch warum fühlte er sich trotzdem schuldig? Ihm wurde schlecht und er übergab sich.
Eine Woche später wurde John Spartakus offiziell von seinem Vorgesetzten belobigt und erhielt eine persönliche Danksagung von Mellner & Brasch, die ihre Freude darüber ausdrückten, daß er so mutig gewesen ist und eine Einbrecherin stoppte, die auf dem besten Weg war ihnen ihre langjährigen Forschungsergebnisse zu entwenden. John Spartakus war ein Held.