Schicksal
Nadine legte die Illustrierte auf die Seite, in der sie die letzen Minuten geblättert hatte. Im Grunde hatte sie das ganze Zeug nicht wirklich interessiert und brauchte nur irgendetwas, um sich abzulenken. Sie hielt die ganze Warterei nicht mehr lange aus! Sie war vor mehr als einer Stunde gekommen, pünktlich zu ihrem Termin. Ab dann hieß es in einem vollen Wartezimmer aushaaren. Mittlerweile hatte sich der Raum gelehrt und Nadine war allein. Verärgert sah sie auf die Uhr. Schon halb vier! Sie würde zu spät zum ihrem Treffen mit Kathrin kommen! Nervös fuhr sich Nadine mit ihrer Zunge über ihre Zahnspange. Drei Monate durfte sie die lästigen Brackets nun bereits ihr Eigen nennen. Schon drei Monate zu lang, dachte sie grimmig. Heute sollte der Kieferorthopäde ihre Spange wieder fester stellen. Die letzten Male hatte dies höllisch weh getan. Gerade heute musste es wieder soweit sein! An dem ersten richtig warmen Tag in diesem Jahr. Es war auch ziemlich heiß hier im Wartezimmer. Eigentlich zu heiß für Nadines Geschmack. Also öffnete sie das Fenster und zog ihre Jeansjacke aus. Darunter trug sie ein schlichtes schwarzes Top, das ihre Schultern und Arme gänzlich frei ließ. Nadine seufzte zufrieden. So war es wesentlich angenehmer. Wenn sie nur endlich dran wäre! Gelangweilt ergriff sie ihr langes blondes Haar und band sich einen Pferdeschwanz. Eine Kippe wäre jetzt genau das richtige! Aber hier im Wartezimmer eine rauchen? Nein. Dafür würde sie sich nach dem Termin belohnen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Wartezimmers und eine der jungen Zahnarzthelferinnen schaute hinein. Sie war nur wenig älter als Nadine, vielleicht 21 Jahre alt. Sie trug ihr schulterlanges schwarzes Haar offen und hatte eine schlanke, beinahe zierliche Figur. Nadine kannte sie bereits von den letzten Terminen und glaubte sich daran zu erinnern, dass ihr Name Petra war.
“Nadine, du wärst jetzt dran“, sagte Petra lächelnd.
Endlich! Bringen wir es hinter uns, dachte Nadine und folgte der Assistentin in Behandlungsraum 2.
“Irgendwelche Probleme seit dem letzten Mal?“ wollte Petra wissen.
Nadine schüttelte nur den Kopf und ließ sich auf dem Behandlungssessel nieder.
“Dann wollen wir mal schauen, ob alles in Ordnung ist. Mach bitte deinen Mund auf!“
Die nächsten Augenblicke kontrollierte Petra ausgiebig Nadines Zahnspange. Schließlich richtete sie sich wieder auf und meinte: “Nun im großen und ganzen scheint ja alles O.K. zu sein. Aber eben die gleiche Situation wie beim letzten Mal.“
Nadine nickte erleichtert. Also bleiben mir heute längere Aktionen erspart, dachte sie bei sich.
“Aber bevor der Doktor kommt, müssen wir noch den Gesichtsbogen anprobieren. Mach noch mal auf!“ erklärte die Zahnarzthelferin.
Ein wenig überrascht tat Nadine wie von ihr verlangt wurde. Gesichtsbogen!? Hört sich nicht unbedingt angenehm an, dachte sie.
Petra nahm einen dicken, bizarr anmutenden Bogen zur Hand, von dessen Mitte zwei kürzere Drahtstifte abzweigten und fuhr ihn – die beiden Drahtstifte voran – in Nadines geöffneten Mund ein, wo sie ihn befestigte.
Nadine kam die ganze Angelegenheit immer seltsamer vor. Was wollte die Tussi nur mit dem komischen Teil bezwecken?
“O.K. Alles klar, er passt“, meinte Petra. “Jetzt nehmen wir ihn wieder heraus und du versuchst ihn einzusetzen.“ Noch während sie sprach reichte sie Nadine einen Handspiegel. “Siehst du hinten oben an deinen Backenzähnen die kleinen Röhrchen? Da müssen die die beiden inneren Stifte des Bogens rein“, erklärte die Assistentin.
“Hey, einen Moment mal“, ereiferte sich nun Nadine, “was soll das ganze überhaupt? Wozu soll dieses komische Teil überhaupt gut sein?“
Nadine war nun doch ein wenig verunsichert. Was dieses eigenartige Ding betraf, hatte sie eine mehr als unangenehme Ahnung.
Petra seufzte. Sie wirkte leicht genervt.
“Du willst zuerst noch einmal drüber reden, nicht wahr? Also, das komische Teil nennt man Gesichtsbogen oder Headgear. Es ist nichts weiter als eine Außenspange.“
Die Erkenntnis traf Nadine wie ein Schlag! Ihre Augen weiteten sich ungläubig, als hätte sie einen schweren Schock erlitten. Im Grunde hatte sie es zwar bereits geahnt, was es mit dem Gerät auf sich hatte, als ihr Petra den Headgear von wenigen Augenblicken eingesetzt hatte; doch die Gewissheit um was es sich bei dem seltsamen Bogen tatsächlich handelte, war ihr nun doch ein bisschen zu viel. Sie würde eine Außenspange tragen müssen! Ausgerechnet sie! Sie hatte ihre feste Zahnspange schon vom ersten Tag an gehasst und nun das…
Ihre Betroffenheit war Nadine förmlich ins Gesicht geschrieben, so dass Petra prompt reagierte. Sie sprach jetzt mit beschwichtigender Stimme:
“Das ist gar nicht so schlimm, wie es sich anhört, Nadine. Du gewöhnst dich bestimmt schnell an den Außenbogen, du wirst schon sehen.“
Die Zahnarzthelferin lächelte beruhigend. Es war nicht das erste mal, dass sie einem Patienten eine Außenspange verpassen musste. Bis jetzt war auch noch nie jemand davon begeistert gewesen.
“Glaub mir. Der Headgear wird dir zwar die erste Zeit ziemlich lästig sein, doch später wird’s ganz selbstverständlich werden ihn zu tragen. Es wird für dich und alle anderen ganz normal sein, dass du eine Außenspange trägst.“
Nadine schluckte schwer. Eine Außenspange tragen zu müssen würde die reinste Tortour für sie werden. Allein beim Gedanken daran wurde ihr schon übel. Außerdem…was sollten die Leute bloß denken, wenn sie mit dem komischen Teil im Gesicht herum rennen würde?
“A…aber wozu auf einmal d…das ganze? Ich hätte gedacht ich bräuchte so was nicht“, stammelte sie.
“Schau her, bei deiner Behandlung ist zwar jetzt so weit alles in Ordnung, aber deine Backenzähne wandern zu schnell nach vorne. Das ist uns schon beim letzten Termin aufgefallen. Der Gesichtsbogen sorgt dafür, dass sie wieder nach hinten wandern“, antwortete die Zahnarzthelferin geduldig.
Nadine nickte traurig. Sie musste jetzt wohl in den sauren Apfel beißen.
“Und wie … wie lange muss ich den Außenbogen tragen?“ wollte sie nun wissen.
“Hmm, dass hängt davon ab wie regelmäßig du in trägst.“
“Nein, ich meine… muss ich ihn den ganzen Tag tragen oder nur einige Stunden?“ fragte Nadine besorgt.
“16 Stunden solltest du ihn schon tragen. Du brauchst ihn wirklich nicht zur Schule einsetzten. Zumindest vorerst nicht. Am besten trägst du ihn nachts und eben nachmittags. Beim Hausaufgaben machen, fernsehen… Aber jetzt versuch ihn zunächst einmal selbst einzusetzen!“
Nadine nahm den Gesichtsbogen und führte die beiden Stifte in die Röhrchen an ihren Backenzähnen ein. Petra reichte ihrer Patientin ein blaues Nackenband an dem sie ihre Außenspange einhakte. Fertig! Nadine betrachtete sich eingängig im Spiegel. Oh Gott! Das durfte doch nicht war sein. Der Außenbogen teilt ihr Gesicht regelrecht in zwei Hälften! Er war doch ziemlich auffällig! So sollte sie jetzt den Großteil eines Tages verbringen? Unmöglich, dachte Nadine.
“Du solltest deine Haare offen tragen. Dein Außenbogen fällt dann weniger auf“, schlug ihr Petra vor.
Nadine entfernte ihr Haarband und ließ ihre langen Haare über die Schultern fallen. Jetzt sah sie doch ein wenig besser aus. Die Haare verdeckten doch ein wenig von dem hässlichen Außengestell.
“Danke! Sie haben recht. Das ist echt besser.“
Nadines Stimme klang komisch. Es war ein seltsames Gefühl für sie, ein Metallteil zwischen ihren Lippen zu tragen und das Sprechen viel ihr gar nicht mal so leicht.
Petra nickte.
“Ich weiß. Alles ich meinen Außenbogen hatte, hab’ ich meine Haare auch immer offen getragen.
“Sie haben auch einen gehabt?“ fragte Nadine überrascht. Sie konnte es kaum glauben. Sie versuchte sich die Zahnarzthelferin mit Headgear vorzustellen. Es gelang Nadine nicht so recht. Dennoch weckte es einen Hauch von Schadenfreude in ihr. Es amüsierte sie ein wenig. Petra im Headgear!
Petra nickte abermals.
“Ja. Das ist es fünf Jahre her. Ich hab’ meine Außenspange mehr als ein Jahr getragen. Ich hab’s auch überstanden. Bei dir wird’s nicht anders sein. Ich bin ja sogar damit zur Schule.“
Nadine stutzte.
“Zur Schule?“ fragte sie ungläubig. “Warum denn das? Waren Ihre Zähne denn ein so schwerer Fall?“
Petra lachte. “Das nicht, aber ich hab’ meine Außenspange zuerst kaum getragen. Mein Vater hat dann darauf bestanden, dass ich sie in der Schule aufsetze. Schlimme Sache, wenn der eigene Dad Kieferorthopäde ist.“
“Wie haben da deine Klassenkameraden reagiert? Haben die nicht über dich abgelacht?“
“Naja, am Anfang kamen schon ein paar blöde Bemerkungen.“ Petra zuckte die Achseln.
“Aber selbst das hat sich ziemlich rasch gelegt. Es wurde recht schnell Normalität. Andere trugen eine Brille und ich eben einen Außenbogen. Meine Freundinnen haben mich ohnehin schon damit gekannt.“
Petra wandte sich ab und machte eine Notiz in ihren Unterlagen.
“Du musst deinen Außenbogen eben regelmäßig tragen, dann bleibt es dir wahrscheinlich erspart ihn zur Schule zu tragen. O.K. Ich muss jetzt noch zu den anderen Patienten. Der Doktor kommt dann noch und zieht deine feste Spange enger. Bis zum nächsten Mal! Tschüss!“ Sie lächelte zum Abschied und verließ den Raum.
Nadine war nun allein. Gedankenverloren starrte sie an die Decke. In ihr hatte sich ein Gefühl tiefster Beklemmung breit gemacht. Ihre Hände waren feucht und eine einzelne Träne kullerte ihre Wange hinab. Sie schluckte schwer und seufzte. Konnte es denn noch schlimmer kommen? Dabei kannte sie doch die Antwort.
Nein.