Schicksal
In der S-Bahn war es so voll, dass sich die Leute kaum noch bewegen konnten, eine Schwüle machte sich im ganzen Abteil breit. Ich war froh, dass ich die nächste Haltestelle raus konnte. Mir war die Bahnfahrerei morgens ganz schön lästig geworden, aber es war besser, als Geld für Benzin auszugeben. Den ganzen morgen über hatte ich schon ein seltsames Gefühl, irgendetwas stimmte nicht.
Die Bahn hielt, Türen öffneten sich, und ich drängte mich hinaus auf den Bahnsteig. Draußen angekommen verschnaufte ich erst einmal , selbst die abgestandene Luft der U-Bahn Station war frisch gegenüber der in der Bahn. Ich schlenderte langsam in Richtung Ausgang, als ich sie bemerkte. Die Zeit um sie herum schien still zu stehen, ich kam mir vor wie im Kino, bei einem Slow-Motion Effekt. Es fehlte eigentlich nur noch die Hintergrundmusik, Burger Queen von Placebo vielleicht, aber zurück zu ihr. Sie ging an mir vorbei, und schaute mir kurz in die Augen. Sie hatte große braune Augen, doch ihr Blick war so leer, wie ich ihn noch in keinen Augen gesehen hatte. Die Augen glänzten in dem traurigen Gesicht, eine Haarsträne fiel ihr vors linke Auge. Eine Sekunde später war sie vorbei, und da passierte es wieder. Es war nicht das erste Mal, das es mir passierte, aber ich wurde immer wieder überrascht.
Ich hatte keine Ahnung, ob ich in diesen Momenten die Gedanken des anderen lesen konnte, oder ob ich in die Zukunft sah. Auf jeden Fall war es mir schon öfter passiert, und immer war das eingetroffen, was ich sah. Und ich sah sie, den letzten Schritt in Richtung Gleise machen, dann der Sprung. Mehrmals wiederholten sich die Bilder, es war grausam, aber ich konnte sie nicht abschalten. Nun wusste ich, was zu tun war, ich fuhr herum, beobachtete sie und machte ein paar Schritte auf sie zu. Wieder Bilder, ich sah sie mit einem jungen Mann streiten, das war es also. Sie ging gemütlich in Richtung Bahnsteigende, wo am wenigsten Leute standen. Still folgte ich ihr. Sie hielt inne, drehte sich um, schnell tat ich, als wollte ich eine Fahrplan studieren.
Sie bemerkte nichts, ging weiter und ich hinterher. Letztendlich blieb sie stehen, zwei, drei Schritte vom Gleis entfernt. Die Bahn fuhr ein, zögernd blickte sie sich um, bemerkte mich wieder nicht. Türen öffneten sich, Menschen stiegen aus, Menschen stiegen ein. Die Bahn rollte an, sie machte einen kleinen Schritt nach vorne, schnell war ich bei ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern und flüsterte ihr zu: „Er ist es nicht wert“. Entsetzt blickten mich ihre kalten Augen an. Anstelle des Entsetzens trat plötzlich ein böses Funkeln, „Er fasst mich an! Er begrapscht mich, Hilfe!“ schrie sie. Erschrocken ließ ich sie los, hörte aber schon schritte von hinten. Schwere Hände packten mich, zogen mich nach hinten.
Sie machte einen weiteren Schritt nach vorne. „Aber versteht ihr nicht, sie will springen!“ schrie ich die Männer an, aber ihr Griff blieb unbarmherzig hart. Verzweifelt versuchte ich mich loszureißen, der dritte Schritt, vielleicht ihr letzter. Noch verzweifelter fing ich an, zu zappeln und zu schreien, all das geschah in Sekunden, die Leute um mich herum begriffen immer noch nichts. Sie sprang. Ich schloss die Augen, hörte ein Poltern, das Quietschen der Bahn, aufgeregte Schreie um mich herum. Der Druck auf meinen Schultern löste sich, ich drehte mich um, öffnete die Augen und sah in zwei, vom Entsetzen gepackte Gesichter.
Ich lief durch die mir entgegenkommende Menschenmenge in Richtung Ausgang. Niemand hielt mich auf, niemand sprach mich an. Alle rannten zum Bahnsteigende, alle wollten gaffen, vielleicht auch helfen. Aber das interessierte mich nicht mehr. Ich hatte meinen Teil für heute getan, wollte jetzt nur noch verhindern, dass ich zu spät zur Uni kam.
Es war nicht das erste Mal, das mir so etwas passierte, schon öfter hatte ich den Kampf gegen das Schicksal aufgenommen, hatte jedoch jedes Mal verloren. Wie gesagt, ich wusste nicht, ob ich Gedanken lesen oder aber in die Zukunft schauen konnte. Jeder der beiden Gedanken erschien mir abwegig, aber ich hatte es als meine Bestimmung angesehen, zu kämpfen und zu verlieren. Ich würde das nächste Mal genauso handeln, im ewigen Kampf gegen das Schicksal.