Schickals Spielerin
Da lag er also auf dem Stapel, scheinbar harmlos, scheinbar einer von vielen. Franziska streunte durch die Wohnung und versuchte sich einzubilden, dass er keine Bedeutung habe, dass er nicht nach Gefahr und Verrat roch. Sie stellte zum dritten Mal ihren Kaffee in die Mikrowelle und vergaß dann ein viertes Mal, ihn zu trinken. Sie begann, die Blumen zu gießen und starrte aus dem Fenster. Sie machte eine Yoga-Übung und brachte sie mechanisch hinter sich, ohne ihr nachzuspüren, ohne sich zu konzentrieren, innerlich nur von dem einen Gedanken vereinnahmt: In der Post dieses Tages war ein Brief von Chiara, adressiert an ihren Freund Karsten, an ihren Freund, so sehr die Vergangenheit auch Spuren hinterlassen mochte. Chiara war die große Jugendliebe von Karsten gewesen, sie waren sieben Jahre lang ein Paar und noch immer engste Vertraute, als Franziska und Karsten sich begegneten. Für Franziska wurde schnell offensichtlich, dass sie in der anderen noch eine ernste Rivalin hatte, auch wenn Karsten monatelang behauptete, ihre Verbindung sei rein freundschaftlich und auch wenn an Franziskas Eifersucht beinahe ihre junge Liebe zerbrach. Doch dann hatte sich Chiara eines abends, als Franziska übers Wochenende nicht in der Stadt war, nach einigen Gläsern Wein an Karsten herangemacht. Der hatte sie umgehend auf die Straße gesetzt und den Kontakt abgebrochen, besser hätte es für Franziska gar nicht laufen können.
Und doch starrte sie nun dieser Brief an, und wieder einmal stieg die panische Eifersucht in ihr hoch, die sie vor ihrer Beziehung mit Karsten nicht gekannt hatte und die auch nur in Verbindung mit Chiara entstand. Sie wusste, dass sie ihm noch viel bedeutete, und sie wusste sogar, dass seine Gefühle ihre Beziehung nicht gefährdeten. Sie liebte ihn für seine Treue, dafür, dass ihm Menschen, die ihm einmal viel bedeutet hatten, nie egal sein würden. Tief in sich spürte sie, dass er nur aus Respekt vor ihren Gefühlen eine alte Freundschaft beendet hatte, die ihm immer wichtig bleiben würde. Das schlechte Gewissen, das unterschwellig an ihr nagte, hatte ihre Eifersucht ins irrational Bodenlose gesteigert. In ihrer Beziehung gab es nur dieses eine Tabuthema, und in Franziska gab es nur diese eine Blockade.
Sie starrte den Brief an und malte sich aus, was er beinhalten könnte, stellte sich vor, wie Chiara um die Freundschaft kämpfen und damit einen Keil zwischen sie und Karsten treiben würde. Zwei Jahre lang hatte es keinen Kontakt gegeben, und nun ging alles von vorne los. Ihr Herz raste, in ihrem Kopf hämmerten tosende Gedanken, unterdrückte Gefühle. Sie bekam kaum noch Luft. In einem plötzlichen Aufbegehren schmiss sie den ersten Gegenstand an die Wand, den sie greifen konnte, das Buch, das Karsten gerade las, American Psycho, und der Titel steigerte ihre Aggression, wahllos schleuderte sie alles durch die Gegend, was sie ergreifen konnte, Bücher und Zeitschriften, Kissen und einen steinernen Kerzenständer. Er schlug gegen einen Pflanzentopf auf der Fensterbank, der zerbrach, und in traurigem Zeitlupentempo bog sich die Pflanze in der Erde und sank kopfüber zu Boden.
Franziska erschrak. Sie liebte ihre Pflanzen und konnte nicht fassen, was gerade geschehen war. Vor allem konnte sie nicht fassen, wie hysterisch sie reagierte, sie konnte sich ihre Panik nicht erklären. Sie neigte nicht zu Gefühlsausbrüchen.
Ihr Atem ging genauso plötzlich wieder normal, wie sich alles überschlagen hatte, von einem Moment auf den nächsten war sie wieder Herrin ihrer Sinne. Beschämt kümmerte sie sich um die Pflanze, topfte sie um, entsorgte die Scherben, fegte das Parkett, auf dem sich nur eine kleine Delle abzeichnete, unverhältnismäßige Narbe, wo der Kerzenständer aufgeschlagen war. Karsten würde sie sagen, dass ihr die Pflanze aus der Hand auf den Boden gefallen war, als sie sie zum Abduschen ins Bad bringen wollte; das war plausibel.
Es war ja nicht nur Chiara. Mit ihr hatte Karsten auch seine Leihfamilie aufgegeben. Seine eigene Mutter war früh gestorben, und mit seinem Vater verband ihn nicht viel. Es gab keine Geschwister und kaum Verwandtschaft, keine Familienfeste und keine Anrufe, keine nervigen Ansprüche und keine Unterstützung, keinerlei Wurzeln, die ihn jemals gehalten hätten. Als er mit 17 Jahren Chiara traf, hatte ihre Familie ihn wie einen Sohn aufgenommen. Mit Chiaras Mutter Gloria verband ihn schnell eine enge Freundschaft, die teilweise sogar Chiara zu Momenten von Eifersucht trieb. In der Familie spürte man noch deutlich die italienischen Wurzeln, Gloria lebte zwar schon seit 1972 in Deutschland und hatte ihre beiden Töchter hier großgezogen, doch noch immer zeichnete sich ihr Haus durch südländische Gastfreundschaft aus, hier trafen sich regelmäßig Freunde und Mitglieder der Großfamilie, zu der auch Karsten bald gehörte.
Franziska zwang sich, ihre Gedanken zu sortieren. Sie stellte das Radio an, setzte sich auf das Sofa, auf dem sie die Kissen wieder sorgfältig arrangiert hatte, und trank ohne besonderen Widerwillen den kalten Kaffee. Es blieb ihr noch eine Stunde, bis Karsten von der Arbeit käme. Bis dahin müsste sie entschieden haben, wie mit dem Brief zu verfahren sei. Sie verdrängte ihr Entsetzen darüber, dass sie überhaupt den Gedanken hatte, mit diesem Brief in irgend einer Weise zu verfahren. Gedanklich reihte sie Möglichkeiten und Konsequenzen auf – durch Überlegungen würde sie niemandem schaden. Sie könnte den Brief verschwinden lassen. Der Altpapiercontainer stand am Ende ihrer Straße, und niemand würde je erfahren, was sie getan hatte. Sie hielt es für unwahrscheinlich, dass Chiara sich danach noch einmal melden würde. Vermutlich war sie nur einer heftigen Sentimentalität erlegen, sie hatte Wein getrunken und einen Brief formuliert und ihn zerrissen und zum Telefon gegriffen und sich nicht getraut, die Nummer zu wählen, und einen neuen Brief geschrieben und den dann gleich zum Briefkasten getragen, damit sie es sich am kommenden Tag nicht anders überlegen könnte. Wahrscheinlich hoffte sie mittlerweile, dass sie vergessen hatte, eine Marke auf den Brief zu kleben, und dass dieser nie sein Ziel erreichen würde. Franziska unterdrückte den Gedanken, der plötzlich in ihr keimte, dass Chiara ihr eigentlich sympathisch war, dass sie viel mit den emotionalen Menschen gemeinsam hatte, mit denen Franziska sich in der Regel anfreundete, weil unkontrollierbare Intensität ihrem Wesen fremd war und sie deshalb immer wieder faszinierte.
Vielleicht hatte sie ja auch gar nichts Schlimmes geschrieben. Vielleicht wollte sie die Freundschaft nicht wiederbeleben, und Franziska machte sich völlig unnötige Gedanken. Vielleicht war sie schwanger und verspürte das Bedürfnis, sich für ihr Verhalten zu entschuldigen, Schwangere machten ständig solche Dinge, und überhaupt war zurzeit so ziemlich jede schwanger, die sie kannte. Ruckartig stand Franziska auf, ging zur Kommode, auf der sie die Post jedes Tages ablegte und nahm den Brief in die Hand, zum ersten Mal, seit sie ihn dort abgelegt hatte. Chiara hatte ihren Absender deutlich auf die Rückseite geschrieben – wenn sie sich nicht einmal bemühte, Franziska nicht wissen zu lassen, dass der Brief von ihr war, konnte er eigentlich wirklich nur eine Entschuldigung beinhalten. Oder dachte sie vielleicht, dass Franziska und Karsten gar nicht mehr zusammen wären? Sofort entbrannte in ihr ein Gefühl ohnmächtiger Wut, sie wünschte die kleine italienische Hexe wenn schon nicht auf den Scheiterhaufen, so doch zumindest bis ans Ende der Welt. Sollte sie doch so viele Blagen bekommen, wie sie wollte, das würde zumindest ihre hübsche kleine Figur zerstören.
„Jetzt reiß Dich mal zusammen“, murmelte Franziska und unterdrückte ihre Aggression. Chiara hatte also keinen Versuch unternommen zu verschleiern, dass der Brief von ihr kam, was auch immer das zu bedeuten hatte. Das Briefpapier war merkwürdig edel, die Anschrift etwas zu sorgsam, das widersprach Franziskas These von einer nächtlich spontanen Aktion.
Sie sah auf die Uhr. Noch 55 Minuten. Sie war einer Entscheidung noch nicht näher gekommen. In ihrem Inneren empfand sie nur noch Leere. Beiläufig wunderte sie sich darüber, wie sie in so kurzer Zeit derartig widersprüchliche Gefühle durchleben konnte. So etwas war ihr noch nicht passiert. Sie starrte den Brief an. Und hatte plötzlich eine Idee. Im Grunde war es ganz einfach. Sie würde ihn öffnen, ihn lesen und erst dann entscheiden, ob sie ihn vernichten müsste. Falls sie ihn für unbedenklich befand, konnte sie Karsten noch immer sagen, dass sie ihn versehentlich geöffnet habe, das war nun wirklich nicht besonders unwahrscheinlich. Sie bekamen die meiste Post gemeinsam. Sie hatten fast nur noch gemeinsame Freunde. Ihre Rechnungen liefen über das gleiche Konto. Sie führten eine sehr enge Beziehung dafür, dass sie erst seit anderthalb Jahren zusammen wohnten.
Franziska kicherte und fühlte sich wie ein Schulmädchen, das zum ersten Mal einen Streich ausgeheckt hat. Sie legte den Brief auf das Sofa und hüpfte in die Küche. Um die Spannung noch ein wenig hinauszuzögern, holte sie sich ein Glas Milch, quasi als Zeugin der feierlichen Situation. Sie trank sonst nie Milch. Aber sie öffnete sonst auch keine Briefe, die nicht an sie gerichtet waren. Fast fühlte es sich wie eine neue Ebene von Vertrautheit an, die sie für sich und Karsten betrat. Sie nahm den Brief. Und konnte ihn nicht öffnen. Es war falsch. Es war einfach falsch. Die Argumente waren lächerlich. Es hatte nichts mit Vertrautheit zu tun, heimlich seine Post zu lesen. Sie müsste nur eine Stunde warten, und schon würde Karsten ihr sagen, was in dem Brief stand, er hatte nämlich keine Geheimnisse vor ihr.
„Scheiße!“ In ihrem Inneren rumorte schon wieder diese Panik, brach aber noch nicht durch. Sie konnte nicht mehr klar denken. Wütend stand sie auf, marschierte in die Küche und schüttete die unberührte Milch in den Abfluss, füllte das Glas fast zur Hälfte mit Spülmittel und schrubbte es dann in viel zu heißen Wasser, ihre Hände schwollen rot an, das Spülbecken quoll fast über vor Schaum.
„Denk nach, denk nach, denk nach.“ Sie drückte sich an die Küchenwand und starrte wütend in den Raum. Von ihren Händen tropfte warmer Spülschaum. Die Küchenuhr tickte. Es war ihr noch nie aufgefallen, wie laut diese Uhr tickte. Wieso hatten sie überhaupt eine Uhr in der Küche? Wozu bitteschön brauchten sie eine Uhr in der Küche, wenn sie sowieso nie kochten?
Einer plötzlichen Eingebung folgend riss Franziska den Müllbeutel aus dem Eimer, in dem sich abgesehen von Scherben und Pflanzenerde noch nichts befand, und lief durch die Wohnung zur Eingangstür, riss den Schlüssel vom Bord, stolperte ins Treppenhaus, ließ die Tür zuschlagen und rannte die Stufen hinunter. Nach vier Stockwerken erreichte sie die Tür zum Hinterhof, und dann stand sie vor der riesigen Mülltonne, wuchtete sie auf, schmiss die halbleere Tüte hinein. Die Tonne rauschte zu und entließ einen Schwall Verrottungsgestank. Als dieser sich aufgelöst hatte, lehnte sie sich gegen die schwarze starke Plastikseitenwand, schloss die Augen und atmete einige Male tief ein und aus. Dann blickte sie auf die Uhr. Noch beinahe 45 Minuten. Genügend Zeit, um in Ruhe und bei klarem Verstand alles abzuwägen.
Franziska lief wieder los, nahm immer zwei Stufen auf einmal, sie hatte die Erfahrung gemacht, dass man besser denken konnte, wenn man einmal außer Atem war. Sie schloss die Wohnungstür auf, ging direkt zum Sofa, setzte sich, stand dann noch einmal auf und nahm den Brief, legte ihn wieder auf die Kommode. Er war ihr zu nah, direkt dort, neben ihr, im unmittelbaren Einzugsbereich ihrer Gefühle.
Dann setzte sie sich wieder und versammelte ihre Gedanken: Sie hatte eine glückliche Beziehung und einen Freund, dem sie vollauf vertrauen konnte. Trotzdem wurde ihr Glück bedroht von einem edel inszenierten Brief der Exfreundin ihres Freundes, der Exfreundin, die immer seine erste große Liebe bleiben würde.
Mehr Konzentration war ihr nicht möglich, alles andere schien vage. Wann hatte sie eigentlich zuletzt von Chiara gehört? Nachdem Karsten den Kontakt mit ihr abgebrochen hatte, hatte er sich noch einige Monate lang mit ihrer Mutter getroffen, immer in Cafes oder Bars, damit die Tochter nicht auftauchen könnte. Obwohl Franziska dabei kein gutes Gefühl hatte, wollte und konnte sie ihm den Kontakt nicht verbieten. Sie hatte Gloria einmal zufällig auf der Straße getroffen, als sie mit Karsten durch eine Fußgängerzone bummelte – sie waren noch frisch verliebt damals und konnten nicht voneinander lassen, sie erinnerte sich kurz daran, wie schön ihr die Welt damals erschienen war –, und diese kurze Begegnung hatte gereicht, um ihr tiefen Respekt einzuflößen vor der Frau, die ihrem Freund ein Zuhause geboten hatte. Sie vertraute ihr, und auch, wenn es eigentlich nicht sehr wahrscheinlich schien, glaubte sie, dass Gloria keinen Versuch unternahm, ihre Tochter und Karsten wieder zu versöhnen. Bei ihren Treffen erzählte sie nur kurz, was Chiara nun machte; sie war umgezogen, das wusste Franziska noch, sie hatte den Job gewechselt, irgendwohin, wo man ihre Qualitäten mehr schätzen würde. Karsten erzählte ihr immer alles, sobald er nach Hause kam, und eigentlich war es seine Offenheit in dieser Phase, die das große Vertrauen begründet hatte, das sie heute füreinander empfanden.
Trotzdem war es damals für Franziska zunehmend schwierig geworden hinzunehmen, dass Karsten neben ihr noch eine andere Familie hatte, an der sie keinen Anteil haben konnte. Er mochte ihre Eltern, und sie mochten ihn – doch ihr Verhältnis wurde nie so herzlich wie seine Verbindung zu Gloria. Deshalb hatte er Franziska eines Tages mit in Glorias Haus genommen, als Chiara gerade im Urlaub war. Und tatsächlich schien Gloria ehrliches Interesse an Franziska zu haben, die gerührt war von ihrer unvoreingenommenen Herzlichkeit. Unerwartet kam dann jedoch Besuch vorbei, die halbe Verwandtschaft tanzte an, Menschen, deren Namen sie sich nicht merken konnte, mit wuseligen Kindern, die sie fragten, wo denn Chiara sei, während die Erwachsenen sie nur missbilligend betrachteten. Der Besuch wurde zum Spießrutenlauf, Karsten stand zwar zu ihr, sie war jedoch letztlich froh über ihren überstürzten Aufbruch.
Zuhause einigten sie sich darauf, dass Karsten zwar weiterhin Kontakt mit Gloria haben könne, dass es jedoch nicht funktionieren würde, Franziska mit einzubeziehen. Es war dann Gloria selbst, die einige Tage später anrief und Karsten sagte, dass sie sich nicht mehr sehen sollten. Sie könne das Chiara nicht länger antun, und er solle Franziskas Familie eine Chance geben, sie würde zwar immer ihre mütterlichen Gefühle für ihn behalten, aber es sei an der Zeit loszulassen.
Wie immer, wenn Franziska an diese Szene dachte, musste sie lächeln aufgrund der südländischen Dramatik, mit der Gloria die Trennung vollzogen hatte. Trotzdem war sie ihr dankbar dafür, was sie damals getan hatte. Und sie hatte nie daran gezweifelt, dass es das einzig Richtige war, auch wenn die Entscheidung in einer merkwürdigen Verquerung von Schuld und Schicksal ihre Eifersucht auf Chiara verstärkte.
Sie saß auf ihrem Sofa, und die Szene kam ihr absurd vor. Es war alles gut, so wie es war, und es war alles sorgsam durchdacht. Es gab keinen Grund, daran etwas zu ändern.
Sie sah auf die Uhr. In 25 Minuten würde Karsten nach Hause kommen, und er würde nichts Ungewöhnliches vorfinden. Etwas angespannt und erschöpft ging sie zur Kommode und nahm den Brief. Sie betrachtete ihn und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken bei der Frage, ob sie jemals wieder ein italienisches Essen genießen könnte. In all den Jahren hatten sie immer neue Ausreden erfunden, um die beliebtesten italienischen Restaurants zu vermeiden, gingen zum Griechen, obwohl Franziska die Fleischmassen zuwider waren, aßen Sushi, obwohl man Karsten ansah, dass ihm die Fischkreationen suspekt blieben.
Franziska ging mit dem Brief in die Küche und kramte in einer Schublade. Sie fand das Feuerzeug, nahm es und ging zur Balkontür, öffnete sie sorgsam, schon fast lethargisch, trat ins Freie und atmete die frische Luft ein. Es war viel zu kalt für die Jahreszeit. Das Feuer entbrannte, die Flamme erfasste den Brief, fraß ihn auf. Sie starrte ihn gebannt an, ohne auch nur der Versuch zu unternehmen, etwas zu erkennen; es war nun nicht mehr wichtig. Als sie ihn nicht mehr halten konnte, ließ sie ihn auf den Boden fallen und sah ihm zu, wie er verschwand. Nur wenige verkohlte Papierfetzen blieben zurück, zerfielen zu Asche, als Franziska sie berührte. Sie wischte einmal darüber, nicht zu stark, passte den Flecken dem Balkonboden an. Sie säuberte den Lappen, hängte ihn zum Trocknen über den Eimer in der Abstellkammer, so wie sie es immer tat, wenn sie geputzt hatte.
Als Karsten kurz darauf nach Hause kam, hatte sie den Brief schon fast vergessen. Als er sie berührte, spürte sie keine Schuld, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, war die Verzweiflung des Vortages nur noch eine blasse Erinnerung.
Zwei Wochen später kam Franziska von der Arbeit nach Hause und leerte, wie sie es täglich tat, den Briefkasten. Ihr Freund Karsten würde erst zwei Stunden später nach Hause kommen, und so war es nur naheliegend, dass sie schon einmal die Post in ihre gemeinsame Wohnung brachte. An diesem Tag waren es nur die Stromabrechnung und eine Werbesendung für einen Pizza-Service, die Franziska noch im Treppenhaus fallen ließ.
Sie betrat ihre Wohnung und legte die Rechung ungeöffnet auf die Kommode nahe des Eingangs, auf die sie immer alle Briefe legte. Sie hängte ihre Jacke auf und streifte gedankenverloren ins Wohnzimmer, überprüfte gewohnheitsmäßig den Anrufbeantworter, es blinkte eine Eins. Sie drückte auf den Knopf und überlegte, ob sie zur Abwechslung heute mal kochen sollte.
Sie erkannte die Stimme sofort, nur die Bitterkeit war ihr neu, die Erinnerung brach auf, der Ton erstickte sie wie ein Kissen, unnachgiebig auf ihr Gesicht gepresst: „Hallo Karsten, ich bin’s, Chiara.“ Die Stimme schwankte nicht einmal, als sie fortfuhr, trotz der ungeheuerlichen Botschaft, die sie noch hinauszögerte: „Ich habe die ganze Woche überlegt, ob ich Dich anrufen soll, doch letztlich kann ich Dein Verhalten nicht verstehen. Ich begreife nicht, wieso Du nicht einmal anrufst, mein Gott: Sie hat Dir doch nun wirklich nichts getan. Ich dachte, Du wärst vielleicht im Urlaub oder umgezogen, aber ich habe Dich gestern mit Franziska das Haus verlassen sehen, Du musst den Brief also bekommen haben. Lässt Dich das alles wirklich so kalt?“ Endlich brach die Stimme, Chiara schluchzte: „Willst Du nicht einmal wissen, wie sie gestorben ist? Es war ein beschissener Unfall, Karsten, ein Lkw, er hat sie zerrissen, es ist nichts übrig von ihr, gar nichts. Und Du hältst es nicht einmal für nötig, zu ihrer Beerdigung zu erscheinen?“ Sie fing sich, und übrig blieb nur Trostlosigkeit: „Ich hätte Dich brauchen können, aber das mache ich Dir nicht zum Vorwurf. Sie war wie eine Mutter für Dich. Und Du scheinst sie vergessen zu haben. Das werde ich Dir nie verzeihen.“