- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Schichtwechsel
Schichtwechsel
An manche Erlebnisse erinnert man sich oft noch nach Jahren.
In der Stimmung von intensiver Präsenz, werden sie zum Teil der eigenen Existenz; nirgendwo sonst dokumentiert haben sie einen Speicherplatz nur in unserer Seele und gehören zum intimsten Fundus der eigenen Individualität und Sinnlichkeit.
Die feuchte und stickige Luft in der kleinen Dachkammer war an diesem Hochsommerabend von der gleichen Konsistenz, wie die Luft in meinen Lungen. Innen und außen- es war irgendwie gleich, und ich war quasi Teil des Restes, der mich umgab. Draußen schien noch die Sonne, und die Mauersegler stießen wie immer um diese Zeit schrille Pfiffe aus, während sie das Dach mit rasanten Fluglinien umkreisten. Unter den Duft von heißer Teerpappe mischte sich nach und nach das Aroma der Druckerschwärze aus der gegenüberliegenden Druckerei, wie immer um diese Zeit des Schichtwechsels, wenn ich über vielerlei nachdachte und dabei immer müder werdend in eine wohlbehütete Wach-Schlaf-Trance fiel.
Stoßen an der Wand, Schreie- dann Stille. Tierische Laute, unverständliches Gemurmel, abgehacktes Keuchen. Nochmal ein heftiger Stoss an der Wand, dann endlich ein langer kehliger Schrei, Wimmern, Stöhnen und Stille. Tschiep – Tschiep, die Mauersegler - wie immer um diese Zeit.
Ich sah sie vor mir, in ihrem ungepflegten Morgenmantel, der unten stets den Blick auf ihre kalkweißen Waden, die oft mit blauen Flecken übersät waren, freigab und oben den Blick auf große schwere Brüste erzwang. Die Leute im Haus tuschelten hinter vorgehaltener Hand, wenn die Löwin sich mit ihrem wiegenden Gang träge die Treppe hinaufschwang. Wenn es Streit gab, war sie eine Meisterin ordinärster Reden. Ihr roter Mund verzog sich bei ihren Hasstiraden derart, dass ihre Lippen eine eigenartige, fast eckige Form bekamen. Ekel, Abscheu und Aggression standen dann in ihrem Gesicht, die Strähnen flogen nach hinten, die Augen bekamen einen wilden, unheimlichen Glanz, und ihre Körperhaltung war die eines Bussards, ein Eindruck, der noch durch ihre große Hakennase verstärkt wurde.
Meine dreizehn Jahre mussten am nächsten Tag in dem engen Treppenflur an ihr vorbei. Ich sah sie für einen kurzen Augenblick an: das blondgefärbte Haar hing strähnig, ihre vollen Lippen waren knallrot geschminkt, und sie hatte grüne Augen, die mich zuerst aggressiv und einen kurzen Augenblick später amüsiert anschauten. Ich konnte meinen Blick für einen Moment nicht von ihr lösen und spürte, wie das Blut mir in den Kopf und den Bauch schoss.
An den folgenden Abenden musste ich immer an mein Erlebnis denken und wartete auf eine Wiederholung, die mir aber nicht vergönnt war.
Wenn ich heute an einem sonnigen Sommerabend den würzigen Duft heißer Teerpappe rieche und dabei noch das Pfeifen von Mauerseglern höre, sehe ich diese Frau in ihrer kompletten inspirierenden Leibhaftigkeit vor mir und weiß nun mit dem Abstand von vielen Jahren, was man unter Prägung versteht.