Schichtarbeiter
Kennen Sie das Leben eines Lagerhelfers, welcher der Schichtarbeit ausgesetzt wird?
Für die Schichtarbeit der kommenden Woche gibt es einen koordinierten Schichtplan, welcher immer ab Mittwoch einsehbar ist. Wenn ein Angestellter der Frühschicht zugeteilt wird, hat er die schlechtesten Bedingungen erhalten. Die Arbeitsgruppe der Frühschicht muss das Arbeitspensum vorgeben und daher als erste Gruppe des angebrochenen Tages hart arbeiten. Die Mittgasschicht beginnt um 14 Uhr und endet um 22 Uhr. In der Frühschicht wurde das Arbeitspensum vorgegeben und in der Mittagsschicht soll dies selbstverständlich beibehalten oder gar übertroffen werden. Daher melden sich einige Mitarbeiter gerne freiwillig für die Nachtschicht, um den leistungsbetonten Arbeitspensum zu entfliehen. Die Anzahl der Schichtleiter in der letzten Schicht ist deutlich geringer als in den beiden tagsüber. Es sind generell viel weniger Personen auf dem Firmengelände. Die Nachtschicht beginnt um 22 Uhr und endet um 6 Uhr.
Daraufhin ist ein Tag beendet und es beginnt ein neuer Arbeitstag für die Schichtarbeiter. Viele der Lagerhelfer ertragen diesen Kreislauf nach einiger Zeit nicht mehr. Dieses Konzept der Arbeitsteilung gilt für alle Firmen, welche in der Massenproduktions- und Versand Branche tätig sind. Dazu zählt auch die DHL Solutions GmbH…
Wir befinden uns in Unna. Nicolas steht am ersten Arbeitstag vor dem Eingangstor des Firmengeländes. Er hat sich dazu entschieden einen Ferienjob als Lagerhelfer anzunehmen, da aufgrund der Corona Pandemie der Urlaub in den Sommerferien wegfällt. Warum sollte man die Zeit dann nicht nutzen, um Geld zu verdienen? Der Eingangsbereich füllt sich an diesem Morgen immer mit mehr Menschen. Die letzten Anwesenden sind zwei Brüder, welche ungefähr 20 Jahre alt sind und in einem schwarzen Twingo erscheinen. Die beiden machen einen unfassbar unorganisierten Eindruck, da sie offensichtlich eben erst aufgestanden sind. Der Fahrer zieht sich noch seine Arbeitsschuhe an, während der andere seine Weste sucht. Eine Frau neben Nicolas sagt zu ihm: „Die beiden schauen so aus als verkaufen sie ‘was“. Nicolas denkt sich: „Ja, und zwar Gras“. Als gelegentlicher Kiffer weiß er ganz genau, wer Gras konsumiert, wer es nur verkauft und wer stets etwas von seiner eigenen Ware probiert. Die beiden Brüder steigen nun aus und man bemerkte direkt, dass beide vor der Fahrt einen Joint geraucht haben. Mark kann es so gut verbergen, dass es nur Nicolas auffällt, wobei Alex hingegen dafür sorgt, dass der Koordinator, welcher die Anwesenheit kontrolliert ihn nun auf dem Kieker hat. Diese unterschiedliche Anpassungsfähigkeit ist wahrscheinlich der Grund weswegen Mark der Fahrer war.
Nicolas und alle anderen Neulinge werden zuerst in den Pick & Pack Bereich eingeführt, da es sich hierbei um die einfachsten Tätigkeiten zum Quereinsteigen handelt. „Pick“ bedeutet in diesem Fall, dass man an einem mittelgroßen Arbeitstisch steht und einen der Kartons, die auf dem Laufband sind, wählt und den Inhalt dann in einen Wagon wirft. Ein Wagon ist im Durchschnitt mit 150 bis 200 Kleidungsstücken gefüllt. Sobald der Wagon voll ist, wird er mit einem Scan-gerät registriert. Erstmal wird der angeklebte Code am Arbeitstisch gescannt, damit man weiß, bei wem und wo man sich beschweren kann, falls es Unstimmigkeiten gibt. Der Verantwortliche tippt daraufhin die Anzahl der Teile im Wagon in den Scanner ein und schließt den Prozess mit dem Scannen des Codes auf dem Wagon ab. Dann wird er in den Bereich deponiert, der am Boden rot markiert ist und damit die Fläche für die abstellbaren Wagons darstellt.
Zur Mittagspause lernt Nicolas ein weiteres Duo von Jugendlichen kennen. Der Junge, der ihn anspricht, heißt Kevin und denkt, dass man wegen der gleichen Hautfarbe sofort eine Verbindung zueinander habe muss. Bis auf den einen blödsinnigen Gedanken, scheint er ein netter Junge zu sein, der in seiner Vergangenheit nur zu kurzsichtig gehandelt hat. Kevin ist im Jahre 2001 geboren worden und somit nur ein Jahr älter als Nicolas. Nicolas macht derzeitig sein Abitur, während Kevin die Schule abgebrochen hat und die illegalen Wege wie das Verkaufen von Gras und hin und wieder auch das Ausrauben von Wohnungen verfolgt hat, bis er schließlich mit einer größeren Menge an Rauschgift erwischt wurde und sich entschied sein Leben neu zu ordnen.
In der dritten Woche wird es deutlich interessanter da man nun eine Einführung in alle Bereiche erhalten hatte und sich nun, wenn man Glück hat, seinen Favoriten auswählen kann. Ebenso hat man die ersten beiden Wochen verpflichtend zur Frühschicht gearbeitet, um ein Gefühl für den Leistungsstandard zu bekommen. Doch mittlerweile dürfen auch die Neulinge im Büro ihre Wunschschicht für die kommende Woche mitteilen. Man hatte auch nach diesen zehn Arbeitstagen einen Überblick über die Auswirkungen dieser Arbeit erhalten. Fast alle sind Raucher. Zu den Nicht-Rauchern zählen Frauen, welche Kinder im jungen Alter haben und die, die erst letzte Woche oder zu Beginn des Monats aufgehört haben zu rauchen.Die Zigaretten sind also für die Arbeit als Schichtarbeiter essenziell. Nicolas wurde in den ersten Tagen stets gefragt, weswegen er nicht nach draußen gehe und sich den anderen im Kreis zu einer kurzen Zigarettenpause anschließe. Entweder sind die Menschen nett oder unfreundlich. Die Menschen, die nett sind wissen einerseits, dass man nur mit guter Laune einen weiteren Arbeitstag übersteht und andererseits haben diese Personen auch Familien, auf die sie sich freuen, sobald ihre Schicht vorbei ist. Nicolas entscheidet sich dazu, sich in der dritten und vierten Woche für die Mittagsschicht einzutragen, da er aufgrund der Bus- und Zugverbindung deutlich mehr Schlaf genießt, als wenn er zur Frühschicht erscheinen muss.Wie bereits erwähnt ist das Arbeitspensum bei der Mittagsschicht gleich oder höher.
Plötzlich hört Nicolas eine laute Stimme, es ist die eines Schichtleiters: „Alle mal sofort an der Säule versammeln.“ Die Säule ist der Treffpunkt für die Arbeiter, um über ihre Einteilung und andere wichtige Informationen des Tages zu erfahren. Der Name ist wohl offensichtlich, doch an der Säule befindet sich auch ein großer Schreibtisch mit drei Bildschirmen und einem Rechner. Links daneben sind die Scanner, die dazugehörigen Codes und Registrierungsblätter der Arbeiter in Boxen willkürlich vorzufinden. „Nochmal das Tempo und die Konzentration erhöhen, wir können den Rekord übertreffen!“, sagt nun der Schichtleiter. Die Arbeiter reagieren überraschenderweise motivierter als es Nicolas angenommen hat. Nicolas wird daraufhin zum Aufschneiden und Beladen geschickt. Vorab muss erwähnt werden, dass die zwei Verantwortlichen an der Säule in einer unfassbaren Machtstellung sind und sich dessen im Klaren sind. Ihre lässige Körpersprache und der selbstgefällige Blick zeigt, dass sie in diesem Gebäude zu den Unantastbaren gehören. Die Lagerhelfer, mit denen sie befreundet sind, werden immer zu den passablen Bereichen geschickt, wohingegen Nicolas mit einem 21-jährigen und ebenfalls neuen Arbeiter namens Daniel, sich dem Gebrüll der fordernden Mitarbeiter stellen muss. Nach einiger Zeit entwickelt man ein Gefühl dafür, ob man aus purer Verachtung angeschrien wird oder nur weil derjenige selbst durchgehend redet, bis er vom Schichtleiter erwischt und öffentlich erniedrigt wird. Ein anderer Grund ist natürlich der Frust und die Nervosität, da die letzte Zigarette vor bereits zwei Stunden geraucht wurde.
Das mit am höchsten Ansehen in der Welt der Schichtarbeiter genießen die Schichtleiter, doch nur innerhalb der Rangordnung der Firma. Die normalen Angestellten tragen eine gelbe Weste, wohingegen die Schichtleiter eine rote Weste tragen. Der angebliche Grund sei die einfache optische Unterscheidung, aber das Merkmal sorgt für eine Klassengesellschaft. Die Schichtleiter benehmen sich wie Vorgesetzte, die alle einfachen Arbeiter wie ihre persönlichen Assistenten herumschubsen. Natürlich gilt das nicht zu verallgemeinern. Es gibt wie immer schlimmere und nettere Vorgesetzte. Nicolas erster Vorgesetzter ist Christian, ein dicker Mann, der immer grinst und entspannt ist. Sollte man mal kurzfristig ein paar Tage Urlaub brauchen oder innerhalb der Woche die Schichtzeit wechseln, ist Christian der Mann unter den Schichtleitern, an dem man sich wenden sollte. Vincent gehört zu den Schichtleitern, die immer nett sind, doch sobald man aufgrund der verspäteten Bahn oder des Staus auf der Autobahn nicht pünktlich erscheint, droht er direkt damit dich zu entlassen, obwohl er nicht dazu in der Lage ist.
Er gehört zu den Menschen, die unter Stress unmittelbar ihre Fassung verlieren und jeden einzelnen Fehler persönlich nehmen.
Daniel und Nicolas harmonieren gut als Partner. Sie sind beides ruhige, aber auch ehrgeizige Typen. Da sie mittlerweile einwandfrei den Ablauf beherrschen, beginnen die beiden dabei zu reden. Plötzlich baut sich ein durchschnittlich großer Mann vor Ihnen auf und schreit: „Weniger quatschen und mehr arbeiten!“. Das ist Joshua Wenner. Er trägt immer eine True religion Jeans und ein Diesel T-shirt. Er würde es am besten finden, wenn niemand bei der Arbeit auch nur den geringsten Spaß empfinden würde. Die meisten Mitarbeiter würden ihn als ignorantes Arschloch betiteln und damit recht haben.
Zur nächsten Versammlung an der Säule erscheinen auch zwei Schichtleiter, die sonst in einem anderen Flügel tätig sind. Die Frau ist auffallend geschminkt und trägt ein Oberteil im Leopardenmuster zu einer hellblauen Jeans. Der Mann mit schwarzen Nike Sportschuhen, einer schwarzen Jeans und einem schwarzen Shirt, gleitet sich mit seiner Hand durch seine schwarz nach hinten gegellten Haare und setzt dann wieder seine Kappe umgekehrt auf. Sie ist mit dem Gucci Monogramm bestickt.
„Es ist äußerst bedauerlich, dass wir dieses Thema nochmal ansprechen müssen, aber anscheinend ist das in den Arbeitsverträgen nicht deutlich genug vermerkt worden,“ gibt die Frau mit aggressiver Stimme von sich. Die Rede war hierbei von der Toleranz Politik der Firma, die Diskriminierung in jeglicher Form ausschließt. Einige der Angestellten sehen das anders, denn die Toilettenwände wurden mit Hilfe eines dicken Filzstiftes mit Hakenkreuzen und Sprüchen wie „Ausländer raus!“ bekritzelt. Nicolas ist bis dahin schon aufgefallen, dass die eine oder andere Person rechts eingestellt sein könnte, aber nicht in diesem Ausmaß. Der Vandalismus erreicht noch andere Dimensionen. Denn der männliche Schichtleiter berichtet auch von einer großen Menge an zerstochenen Reifen bei den Autos der Angestellten. Merkwürdigerweise sind nur Autos der Herstellermarke BMW davon betroffen.
Wie zu Beginn erwähnt sind zu der Nachtschicht immer nur eine geringe Anzahl an Schichtleitern anwesend. Meistens sind diese aber auch nicht durchgehend da, weil sie nicht unbedingt nüchtern sind. Angeblich gibt es einen Dealer, der während der Nachtschicht immer Pillen und Marihuana verkauft. Während der Nachtschicht herrscht also eine deutlich bessere Atmosphäre. Die Mitarbeiter reden auch viel mehr miteinander und wie es nun mal ist, kommen auch die Gerüchte zur Sprache. In seiner ersten Nacht erfährt Nicolas unter anderem, dass einer der Schichtleiter letztens komplett betrunken gewesen sei und zu den Toiletten ging. Der nächste habe die Toilettenwand mit gezeichneten Hackenkreuzen wiedergefunden. Dieser besagte Schichtleiter ist anscheinend des Öfteren betrunken und verwandelt sich dann gerne mal in einen Menschen, der nationalsozialistische Kommentare von sich gibt.
Mittlerweile ist es 3 Uhr nachts. Nicolas füllt gerade die Kartons mit Levis Jeans und schmeißt sie nacheinander aufs Fließband als eine blonde große, leicht mollige Frau mittleren Alters, ihn an der Schulter antippt und mit großen Pupillen und verträumten Lächeln fragt: „Na du, kommst du mal eben mit auf die Toilette?“.