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Scherbenwelten
So richtig begreifen, was passierte, konnte ich erst, als wir im Rettungswagen des Roten Halbmondes durch die Nacht rasten.
Ich blickte aus dem Rückfenster des Wagens, während sich zwei Sanitäter an meiner Großmutter zu schaffen machten. Infusionen, Blutdruckmessung. Es war kritisch, das wusste ich. Ich hatte den Blick des Hotelarztes gesehen, nachdem die Worte Diabète, diabète! doch noch Gott sei Dank aus mir heraus explodiert waren.
Natürlich hatten wir den Urlaub ganz anders geplant. Zwei Wochen Sonne, Strand und Meer zur Feier meines bestandenen Abiturs. Dass ich anstatt mit Freunden mit Tante Elke und meiner Großmutter fahren würde, hatte mich nicht gestört.
Als wir auf Djerba landeten, war das erste, was uns überraschte, die unglaublich trockene Hitze, die sich in unsere Lungen fraß. Eine Hitze, die mich zwang, so wenig Kleidung wie möglich zu tragen, was mir hier, in einem muslimischen Land, unangenehm war. Aber man befand sich im geschlossenen Umfeld der Hotelanlage; das Einzige, was ich mit meinem Auftreten provozierte, war der eine oder andere Blick männlicher Hotelangestellter. Nicht anders als Zuhause. Ich hatte beschlossen, damit leben zu können.
Am Morgen des besagten Tages unternahmen wir den ersten Ausflug. Er sollte der letzte bleiben. Auf einen Markt wurden wir kutschiert, ein Basar wie aus dem Werbeprospekt. Farben, Gerüche, verschleierte Frauen, Lärm, Kinder. Bettelnde Kinder. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Während Tante Elke einen der Souvenirhändler auf den wahrscheinlich dreifachen Preis des tatsächlichen Wertes zweier Gewürzdosen herunterhandelte und mir dabei einen Blick zuwarf, der genauso triumphierend wie peinlich war, wurde ich von einer kleinen Gruppe Kinder umringt, die mir ihre kleinen, dunklen Hände entgegen streckten. Ich tat das, was ein überforderter Tourist dann tut. Ich gab. Kleine Münzen. Ich erinnere mich nicht an den Wert, aber an das Lächeln eines kleinen, erstaunlich dunkelhäutigen Mädchens, als es auf die Münze schaute. Und mich am Arm zu sich runter zog und mir einen Kuss gab. Und daran, dass ich mich schämte in diesem Augenblick. Eigenartig. Manchmal frage ich mich, was aus ihr geworden ist. Wie es ihr geht. Ob sie sich an mich erinnert, wie ich mich an sie. Ob sie noch lebt.
Als wir ins Hotel zurückkehrten, fragte ich mich, wo sie denn war, die Kultur, das Geheimnisvolle, die Menschen, das, was ich immer mit dem Orient verbunden hatte, denn auf diesem Markt hatte ich nichts gefunden. Noch nicht einmal einen Muezzin hatte ich rufen hören, nichts.
Ein Land hinter Glas.
Dann kam der Abend. Wir hatten die ganze Zeit versucht, darauf zu achten, dass Großmutter genug trank und aß. Doch die Hitze und das orientalische Essen hatten ihren Preis. Der abendliche Couscous im Bedouinenzelt war wohl ursprünglich als eines der Highlights geplant. Doch es kam anders. Großmutter war mit all dem überfordert, und wir merkten es nicht. Erst ein leichtes Unwohlsein, dann der Durchfall. Als sie dann apathisch in ihrem Bett lag und sich halb bewusstlos übergab, riefen wir den Arzt.
Und nun saß ich hier, an ihrem Krankenbett. Sie war bewusstlos. Vielleicht schlief sie auch nur, das wusste ich nicht. Der Arzt war den ganzen Tag nicht da gewesen. Aber sie atmete, und das war ein gutes Zeichen.
Ich hatte die Aufgabe, einfach im Zimmer zu bleiben, bis Tante Elke mit dem nötigen Geld aus dem Hotel zurückkommen würde. Meinen Stuhl hatte ich an die gegenüberliegende Wand geschoben, von wo ich sowohl einen Blick auf Großmutter als auch in das Zimmer auf der anderen Seite des Flures werfen konnte. Es war schon früher Nachmittag, und der Betrieb auf den Gängen des flachen Gebäudes hatte zugenommen.
Ich sang leise vor mich hin. Amazing Grace. Ich weiß, aber es war das einzige Lied, das mir einfallen wollte. Ich redete mir ein, es für meine Großmutter zu tun, damit sie eine vertraute Stimme im Ohr hatte. In Wirklichkeit jedoch sang ich für mich. Verrückt.
Die vergangenen Stunden kamen mir fast surreal vor. Dabei zusehen zu müssen, wie die eigene Großmutter langsam ins Koma fällt, selbst nichts tun zu können. Diese Hilflosigkeit, das Danebenstehen, das verzweifelte Ringen nach französischen Begriffen. Der große, schwarzhaarige Arzt, dessen dunkelbraune Augen plötzlich diesen Ausdruck bekommen, als er versteht, was los ist. Dann sein ruhiges, bestimmtes Handeln, seine arabischen Anweisungen an Sanitäter, die plötzlich im Raum stehen und die Großmutter auf die Liege befördern. Ich liebe die arabische Sprache, habe ich das schon erwähnt? Der Wagen des Roten Halbmondes, die Fahrt durch die Nacht, diese Ruhe in Allem, was diese Menschen tun. Der Pfleger, der regelmäßig das Zimmer betritt, Blutzucker und Blutdruck misst und mir danach jedes Mal zunickt und lächelt.
Nun lag sie hier in diesem Bett, atmete ruhig vor sich hin, und die Infusion tropfte langsam Leben in ihren Körper zurück, während die Sonne die Schatten langsam durch den Raum wandern ließ.
Ich beschloss, dem Arzt und den Menschen, die in diesem Krankenhaus arbeiteten, einen Dankesbrief zu schreiben. Später, wenn alles vorbei sein würde. Wenn wir wieder Zuhause wären, ich wieder würde denken können. Ich würde mein Französisch-Wörterbuch brauchen.
Ja, ein Brief. Das wäre das Mindeste. Ich würde mir den Namen des Arztes und des Krankenhauses merken.
Dann erschien sie, die Frau, im Türrahmen. Von Kopf bis Fuß in blaues Tuch gehüllt, das Gesicht verschleiert, nur die Augen sichtbar. Ich hatte sie vorher im gegenüberliegenden Zimmer gesehen, sie besuchte den jungen Mann, der dort lag, hatte ihm Essen gebracht.
Sie stand nur da, starrte mich an. Unendliche Sekunden. Mir blieb mein Lied im Halse stecken. So fühlte es sich also an, wenn die Glasscheibe, die zwischen mir und diesen Menschen existierte, zersprang. Ich saß in diesem Scherbenhaufen und hatte ein wenig Angst; noch nie hatte man mich so angesehen. Mir wurde meine spärliche Bekleidung bewusst, und ich rutschte auf dem Stuhl hin und her. Und doch starrte ich zurück. Irgendwie muss man sich ja verteidigen, und sei es nur mit Blicken.
Sie löste ihren Blick und schaute nach rechts, zu meiner Großmutter, die von all dem nichts mitbekam. Wieder vergingen Sekunden, bis die Frau schließlich ganz in unser Zimmer trat. Ich hielt die Luft an.
Sie machte ein paar Schritte zu Großmutters Bett. Ich stand auf, jedoch nur, um festzustellen, dass sie einen kleinen Teller mit grünen Bohnen und Tomaten abstellte und über die Hand meiner Großmutter strich.
Und dann begann sie zu sprechen.
Was sie sagte, werde ich nie erfahren. Aber ich denke, darum geht es nicht. Ihre Worte erfüllten den Raum, ihre Stimme wurde lauter. Dann hielt sie kurz inne, schaute mich an, kam auf mich zu. Sie begann zu gestikulieren und sprach direkt zu mir. Griff meine Hände, umfing sie mit ihren. Diese dunklen Augen vor mir, der blaue Schleier, ihr Inshallah!, das mit tausend anderen Worten im Raum schwebte.
Das Essen auf dem Tischchen.
Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen.
Da verstand ich.
Shukran. Das war alles, was ich sagen konnte. Danke. Mehr Arabisch konnte ich damals nicht. Shukran. Shukran. Ich weiß nicht, wie oft ich es sagte. Ich klammerte mich an dieses Wort wie an einen rettenden Strohhalm. Ansonsten weiß ich nicht mehr viel. Alles, woran ich mich erinnere, ist, dass diese Frau irgendwann ging. Und ich die Bohnen aß.
Ja, so war das. Fünfzehn Jahre ist das nun her. Ich habe meiner Großmutter nie erzählt, was an jenem Tag geschehen ist. Ich weiß nicht, warum. Es hat sich nie ergeben. Seitdem ist sie um einen Bypass reicher, und vor ein paar Monaten ist sie auf offener Straße zusammengebrochen, ein paar Straßen von ihrer Wohnung entfernt, auf dem Weg zum Supermarkt. Das Herz, wissen Sie. Als ich später auf meinem Stuhl in ihrem Wohnzimmer saß und sie betrachtete, wie sie da lag auf ihrem Sofa, und sich erholte von dem Schreck, da hätte ich ihr beinahe von dieser Frau im blauen Schleier erzählt. Beinahe. Aber sie hat geschlafen.
Den Brief habe ich nie geschrieben.