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Scherben
Ich sehe sie, sehe sie immer wieder vor mir, kann sie förmlich riechen. Jede Nacht liege ich wach, in ihrem Bett und muss daran denken, wie es früher war. Damals, als ich noch klein war. Als meine Welt noch perfekt war. Jetzt liege ich hier. Allein, in der Dunkelheit. Es ist Nacht. In der Küche türmen sich leere Flaschen. Ich kann sie nicht aufräumen, will sie nicht wegwerfen. Ich habe sie gefunden, in der ganzen Wohnung waren sie verteilt. Im Badezimmer, in der Küche, auf dem Balkon.
Wenn ich an sie denke, steigt kalte Wut in mir auf. Auch jetzt wieder. Ich will schreien, weinen, sie anrufen… Aber das geht nicht. „Kein Kontakt zu Verwandten in der ersten Zeit“, haben die gesagt. Die – das sind die Ärzte und Krankenschwestern. Keiner will einer Mutter erlauben, ihre Kinder anzurufen. Auch auf diese Leute bin ich wütend, so wütend.
Ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Es ist zwei Uhr morgens. Ich stürme in die Küche. Werfe mit den Flaschen um mich. Freue mich über das Geräusch, das sie machen, wenn sie an der Wand, am Herd zerplatzen. Der Küchenboden ist inzwischen das reinste Minenfeld. Ich bin barfuß, laufe darüber, spüre das Glas in meinen Füßen. Mit blutigen Füßen tappe ich zurück ins Wohnzimmer. Fahre meinen Computer hoch. Suche die Nummer der Klinik. Eine verschlafene Schwester meldet sich. Ich sage ihr, dass ich meine Mutter sprechen will und zwar sofort. „Das geht nicht“, antwortet sie mir verwirrt, „das kann ich nicht machen.“
Es ist mir egal was sie sagt. Ich schreie sie an, beschwöre sie, mich mit meiner Mutter sprechen zu lassen. Ignoriere ihr unsicheres Gestotter, versuche es weiter. Sie gibt nicht nach. Das ist eine der Schwestern, auf die ich so eine Wut habe. Ohne ein weiteres Wort lege ich auf. Lege mich ins Bett. Achte nicht auf die Blutflecke auf dem Teppich. Mir ist alles egal. Auch die Küche, in der alles kaputt ist. Das alles soll den Leuten zeigen, wie schlecht es mir geht. Niemand sieht es. Einen Vater habe ich nicht. Zumindest nicht mehr. Mein Bruder, der hat ihn noch. Der ist auch ein Junge. Für Mädchen braucht man sich nicht interessieren, nicht einmal für die eigene Tochter. Alles hat sich verändert. Wenn ich an den Sommer vor zehn Jahren denke, bin ich glücklich. Wenn ich an den Sommer denke, den ich dieses Jahr haben werde, allein in unserer Wohnung, werde ich traurig. Nicht nur traurig, sondern verzweifelt. Ich habe keine Familie. Ich bin ganz allein. Mein Blut fließt warm an meinen Füßen herunter und tropft auf das Bett. „Morgen musst du aufräumen“, sage ich zu mir selber. Ich schalte den Fernseher an. Magersucht, Entzug, Krankenhäuser. Richter, Mordfälle, Drogen. Es kommt nichts außer deprimierenden Sendungen. Ich schaue sie. Diese verzweifelten Menschen helfen mir, die Nacht zu überstehen. Sie lassen mich vergessen, dass ich eine von ihnen bin. Ich will keine von ihnen sein. Ich will sie mir ansehen, mit ihnen fühlen. Aber ich will nicht dazugehören. Ich will mein altes Leben wieder. Ich will so viel, aber das Leben ist Wunschkonzert. Leider.
Als die Sonne aufgeht, habe ich noch immer kein Auge zugetan. Wie jede Nacht. Schon seit Wochen geht das so. Ich kann nicht alleine sein. Sobald ich meine Augen schließe, habe ich ihr Bild von mir. Ihre zitternden Hände, ihre versteckten Versuche zu trinken ohne dass ich es sehe. Die Lügen, die stundenlangen Einkaufstouren um „Wasser“ zu kaufen, um auf der Fahrt noch ein paar Flaschen Sekt zu trinken oder einen Laden zu finden, in dem man sie nicht kennt.
Ich darf nicht wütend sein. Sie ist in der Klinik. Sie will sich helfen lassen. Aber kann ich daran wirklich noch glauben? Ich weiß es nicht.
Langsam stehe ich auf. Als meine Füße den Boden berühren, muss ich einen Schmerzensschrei unterdrücken. Vorsichtig humpele ich in die Küche. Der Boden ist voller Blut und Scherben.
Scherben aus Glas, Scherben meines Lebens.